11 | Odysseus, Milchshakes und Physikprobleme

Nichts änderte sich an meinem Leben. Ich ging noch immer zur Schule, ich hing noch immer den ganzen Tag in meinem Zimmer herum. Nun, und ich musste Johnny noch immer um Nachhilfe anbetteln, denn meine fehlende Konzentration in Physik bereitete mir mehr akademische Probleme, als ich zugeben wollte.

„Hast du am Samstag Zeit?", fragte ich ihn statt einer Begrüßung, als er sich in Literatur neben mich setzte.

Johnny blinzelte, etwas überfordert, dass ich ihn überhaupt angesprochen hatte. Sein braunes, langärmliges T-Shirt war vorne in den Bund seiner Jeans gesteckt. Sein Gesicht war nicht mehr mit Herzchen bemalt. „Wir sehen uns in meinem Kurs, falls du das meinst."

„Oh. Ich habe vergessen, dass der Kurs existiert." Lüge. „Sonntag, vielleicht?"

„Sonntag ist ein Familientag, Wheeler."

Ehrlich? War das bei normalen Familien so? Interessant. „Hast du dann vielleicht am Freitag Zeit? Nach der Schule?" Das war eine rhetorische Frage, denn ich hatte beobachtet, dass es der einzige Abend war, den er nach der Schule zuhause verbrachte und nicht irgendwo außer Haus, wo er erst spät nach Hause kam. Nicht, dass ich das mit einer plausiblen Erklärung jemals laut zugeben konnte.

„Versuchst du gerade, mich zu einem Date zu überreden?"

„Um wieder in einer Zelle zu landen? Nein, danke."

Johnny verspannte sich. Er presste seine Lippen zusammen und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre Reue in seinem Gesicht zu erkennen gewesen. „Ich-..."

„Wir hatten einen Deal und ich brauche Nachhilfe", unterbrach ich ihn. Die einfachste Art, nicht an den tragischen Nachmittag und Nacht-beziehungsweise-Morgen-danach zu denken, war Verdrängung. Ich hatte es satt, traurig und leer zu sein, außerdem hatte ich bereits eine Idee für ein neues Kleid und ich musste mir heute nur noch einen passenden Stoff kaufen. Ich würde mir meine gute Laune nicht von Johnny verderben lassen, denn ich hatte extra einen Pullover mit mehr Herzchen darauf angezogen, als für eine Vierjährige akzeptabel gewesen wäre. Johnny hatte bereits ausgesehen, als würde er am liebsten darauf erbrechen, als er ihn gesehen hatte, also war meine Mission erreicht. Ich konnte gar nicht so genau feststellen, was für ein Problem er mit Herzchen hatte. Es schien ihm auf jeden Fall nicht an Liebe zu fehlen. Nicht, dass ich ihn jemals mit einer Freundin gesehen hatte. Aber vielleicht hatte er eine Schwäche für Amara oder Robin?

„Oh. Ja, natürlich. Freitagabend passt für mich. Ich habe aber nur bis sieben Uhr Zeit. Danach findet der wöchentliche Filmeabend mit-..." Johnny unterbrach sich selbst und räusperte sich. „Was ich meinte, ist, dass wir vorher alles erledigen sollten. Aber dafür reicht die Zeit locker, nicht wahr?" Er stieß ein nervöses Lachen aus und mied meinen Blick.

Ich rollte mit den Augen. „Es interessiert mich nicht, ob du deinen super-geheimen Filmeabend vor mir verstecken möchtest, Johnathan." Wieso nannte ich ihn noch immer bei seinem vollen Namen?

„Äh, okay. Das-...das ist gut. Bist du dir sicher?"

„Natürlich." Er wohnte genau neben Grandma und mir. Es war nicht so, als könnte ich es auch auf eine alternative Route herausfinden. Nicht, dass ich das jemals zugegeben hätte, denn es war nicht moralisch vertretbar, jemandem nachzustellen.

„Es wäre okay, wenn es dich interessiert."

„Tut es aber nicht."

„Okay."

Ich schnaubte. „Okay." Das war die erbärmlichste Konversation dieses Jahrhunderts.

„Dann sehen wir uns Freitag, vier Uhr in der Bibliothek?"

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich dachte, dass wir zu dir gehen könnten?"

„Die meisten Menschen laden sich nicht zu anderen nach Hause ein." Schon wieder sah er nervös aus. Also wollte er mich tatsächlich nicht dabeihaben, wenn sein Gast oder seine Gäste zu seinem Filmeabend erschienen. Wieso war mir noch nie vorher aufgefallen, dass er überhaupt einen wöchentlichen Filmeabend bei sich zuhause hatte? Ich hatte nur gemerkt, dass er freitags immer zuhause war. Oder hatten sie eine Hintertür, von der ich nichts wusste?

„Das war auch ein Witz." Zumindest halbwegs.

Johnny atmete erleichtert aus. „Okay. Wir sehen uns in der Bibliothek?"

Ich nickte und wandte mich dem Buch zu, das vor mir auf dem Tisch lag.

„Warte, war das alles, was du mir zu sagen hast?"

Ich hob eine Augenbraue und sah dabei zu, wie er im Schneckentempo seine Sachen ausräumte. Vielleicht, weil ihm aufgefallen war, dass meine Aufmerksamkeit darauf fixiert war und er sie nicht verlieren wollte. „Gibt es da noch mehr, das ich sagen könnte?"

„Du hast selbst gesagt, dass ich daran schuldig bin, dass du hinter Gittern gelandet bist."

„Ich bin selbstständig über den Zaun geklettert." Wir hatten das bereits besprochen. Mussten wir wirklich alles tausendfach durchkauen, bis dieser Kerl zufrieden war?

„Ich habe dich dazu gedrängt und das tut mir leid. Ich bin gegangen und ich habe versprochen, dich abzuholen und dann warst du nicht mehr da."

Ich wandte mich wieder meiner Lektüre zu. „Soll ich diese Fakten bestätigen oder reicht es, dass du sie laut ausgesprochen hast, Johnny?"

Seine Hand legte sich über mein Buch und versperrte mir die Sicht auf die Worte, die darunter lagen. „Du sollst mich anschreien oder tun, was auch immer du tust, wenn du wütend bist. Ich-...nenn mich nicht Johnny, Wheeler."

Alle nennen dich so."

„Du tust es nur, um eine Wand zu bauen und mich auszuschließen. Schon wieder. Das wollte ich mit dem Ausflug nicht bezwecken."

„Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt." Ich stockte. „Johnny", fügte ich mit so viel Nachdruck hinzu, wie nur möglich war.

„Forrest Gump? Du magst den Film?"

„Ich habe neutrale Gefühle gegenüber einem Film." Ich liebte den Film, aber das würde ich niemals laut zugeben.

„Das ist schon wieder deine Wand."

„Ich sehe keine."

„Ich kann dir einen Erdbeermilchshake kaufen", bot er an.

Ich schnaubte. „Du solltest lieber dir selbst einen kaufen, statt mich zu bestechen."

„Wieso? Was ist so gut daran, Wheeler?" Er stellte jede Frage mit einem Fünkchen mehr Verzweiflung.

„Wieso interessiert dich das?"

Johnny sah mich so lange und so intensiv an, dass ich das Gefühl hatte, dass er in meine Seele starren konnte. Ich war mir nicht sicher, ob diese Aussicht genießbar war, aber es kostete jedes Häufchen Energie in mir, mich nicht unter seinem prüfenden Blick zu winden. „Du verschließt dich vor allem und jedem, Wheeler. Ich bin nur neugierig, wer du wirklich bist."

„Ich bin niemand", sagte ich automatisiert, denn das war die Wahrheit. Ich sagte es nicht, um witzig zu sein oder Odysseus zu kopieren, sondern weil ich selbst nicht sicher sagen konnte, wer ich war. Ich hatte einen Traum, aber das definierte nicht, wer ich war, sondern was ich sein wollte. Die Liz, die ich in diesem Moment war, hatte nicht viel, außer einer funktionierenden Nähmaschine und genug Geld auf ihrem Konto, um eine halbe Armee damit zu ernähren.

„Du bist Elizabeth Wheeler", korrigierte Johnny sanft, vollkommen unwissend, dass die beiden Aussagen synonymisch zu verstehen waren.

Glücklicherweise wurde mir die Gelegenheit genommen, auf seine Worte zu antworten, denn die Schulglocke läutete und die Stunde begann.

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„Du bist fünfzehn Minuten zu spät", informierte mich Johnny, als ich mich zu ihm in die Bibliothek gesellte.

Ich rollte mit den Augen und stellte einen Becher vor ihm hin. „Ich weiß. Dafür habe ich uns magische Getränke besorgt."

Johnny beäugte die pinke Flüssigkeit kritisch. Ich versuchte, nicht auf seine Arme zu starren oder wie sich sein langärmliges T-Shirt an einigen Stellen an seinen Oberkörper schmiegte. War es unangemessen zu fragen, ob er für seine Stelle in der Feuerwehr trainierte oder es tat, weil er nichts Besseres mit seiner Freizeit anzustellen wusste? „Ich mag Erdbeer-Milchshakes nicht", informierte er mich.

Noch nicht", korrigierte ich.

„Es ist nicht einmal erlaubt, in der Bibliothek zu essen oder zu trinken. Wie willst du einen Milchshake rechtfertigen?"

„Mein Dad finanziert das halbe Football-Team, Townsend. Solange wir nichts ausleeren, wird uns niemand etwas sagen." Ich zuckte mit den Schultern und packte meine Schulsachen und die neuste Ausgabe der lokalen Klatschpresse aus meinem Rucksack. Ich hatte extra einen ledrigen gewählt, der meinen weißen Rock und das dazu passende Corsage-Top betonte. Es störte mich nur minim, dass das Farbspektrum auch zu Johnnys Kleidung passte, aber das hätte ich niemals laut zugegeben.

Er atmete tief durch, offensichtlich nicht begeistert davon, dass ich die Position meiner Eltern ausnutzte, um mir Privilegien zu verschaffen. Normalerweise hatte ich eine ähnliche Moral, aber wenn es um Milchshakes ging, war es schwieriger, mich an meine Prinzipien zu erinnern.

„Ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich Milchshakes nicht mag."

„Das hört sich ein wenig nach Selbsttäuschung an."

„Ich könnte laktoseintolerant sein."

Ich rollte mit den Augen und schob ihm das Getränk beinahe ins Gesicht, damit er es in die Hände nahm. „Bist du aber nicht."

Johnny verzog sein Gesicht, aber nahm mir den Erdbeermilchshake aus den Händen. „Magst du das Getränk überhaupt, weil es schmeckt, oder nur, weil es pink ist?"

„Kann es nicht beides sein?" Natürlich hatte meine Obsession mit diesen Milchshakes erst angefangen, nachdem ich beschlossen hatte, dass ich alles mochte, was pink war und mit Erdbeerherzchen verziert war. Johnny verzog sein Gesicht schon wieder. Ich schnaubte. „Was ist eigentlich dein Problem mit pinken Dingen und Herzchen, Johnny?"

Wenn ich ihn nicht angesehen hätte, hätte ich vielleicht verpasst, wie er sein Gesicht verzog und sein Kiefer zuckte, bevor sein Gesichtsausdruck schnell wieder neutral wurde. Interessant. „Ich schätze, dass ich nicht erwartet hätte, dass du so ein Kind bist, Wheeler. Das ist alles."

„Dass ich kindliche Dinge mag, macht mich nicht zu einem Kind, Townsend."

Er schürzte die Lippen. Er sah aus, als würde er gerne widersprechen, verkniff sich den Kommentar dann aber. „Wie du meinst." Er schob seine Papiere, die schon auf einem perfekten Stapel übereinander lagen zusammen, als gäbe es eine Unordnung.

„Kannst du mir vielleicht sagen, was ich dir getan habe, Johnny?"

Er verspannte sich. „Ich weiß nicht, was du meinst."

Ich kaute auf meiner Lippe. Wollte ich mein Ego beschützen oder ehrlich zu ihm sein? Es war okay, wenn er den Milchshake nicht mochte oder wenn ich ihm zu aufdringlich war, wir verbrachten schließlich nur Zeit miteinander, weil wir beide davon profitieren konnten. Ich hatte noch nicht vergessen, dass er mich absichtlich zu seinem Filmeabend nicht einladen wollte und dabei unendlich kryptisch war, aber ich verstand nicht, wieso er mich so sehr hasste. Er konnte mir nicht erzählen, dass seine Abneigung gegenüber mir nicht persönlich war, wenn er sonst alle mochte.

Oder vielleicht interpretierte ich einfach zu viel in die Situation hinein. Ich war nicht eine sonderlich freundliche Person und es war nicht so, als hätte ich mir selbst Mühe gegeben, eine Freundschaft aufzubauen oder zumindest nett zu ihm zu sein. Ich konnte niemand anderem die Schuld an einer Situation geben, wenn ich mich absichtlich von anderen Menschen fernhielt. Also schüttelte ich die Gedanken ab, die ohnehin nicht sonderlich sinnvoll waren. Das hier war einfach nur Nachhilfeunterricht. Ende der Geschichte.

„Wir fangen mit Physik an", sagte ich also nur. Johnny zog seine Augenbrauen in die Höhe und ich nickte mit dem Kopf auf seinen Milchshake. „Wenn du ihn nicht möchtest, werde ich austrinken." Das klang nach einem Friedensangebot, nicht wahr? Es war nicht so, als wäre ich tatsächlich anständig genug gewesen, um mich bei ihm zu entschuldigen.

Johnny sah mich für eine Weile nur an, offensichtlich überfordert mit der Situation. „Ich-...du hast mir nichts getan, Liz", sagte er so sanft, dass ich ihm beinahe glaubte. Aber ich schien immer irgendetwas falsch zu machen. Ich mied seinen Blick. Wieso war es in letzter Zeit so schwierig, nicht einfach in Tränen auszubrechen wie ein kleines Kind, dem seine Eltern keine Schokolade kaufen wollten? Ich war normalerweise nicht so emotional. Ich hatte Vorsätze und ich würde mich daranhalten. Ich hatte das Chaos um meine Eltern nur deswegen überlebt.

Johnny seufzte, als könnte er spüren, was in mir vorging und dass ich schon längst beschlossen hatte, das Thema nicht weiter zu behandeln. Dass ich es nicht über mich bringen konnte, darüber zu reden. „Ich werde den Milchshake gerne probieren." Er nahm einen Schluck des Getränks und ich war mir nicht sicher, ob seine positive Überraschung gespielt war oder nicht. „Also, wo brauchst du Hilfe?"

„Überall?" Ich verstand nicht einmal, wieso Physik ein Schulfach war. Es war eine Erweiterung der Mathematik, mit mehr Formeln und Textaufgaben, als eine Person mit gesundem Menschenverstand sehen sollte.

„Du-...überall? Sind das bisher nicht ungefähr drei Themen? Am Anfang des Schuljahres ist der Stoff meistens doch noch halbwegs verständlich."

Ich verzog das Gesicht und reichte ihm meine Physikprüfung. Egal wie sehr ich mich dafür schämte, musste er sehen, dass ich tatsächlich einfach ein verlorener Fall war und ihm nichts vorspielte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Ich habe schon letztes Jahr nichts verstanden, falls wir darauf hinauswollen."

Johnny sah mich an, als wartete er darauf, dass ich loslachte. „Und du wurdest nie darauf angesprochen?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Meine Noten waren damals noch nicht so schlecht." Ich spürte, wie ich errötete, denn das war nur die halbe Wahrheit. Ich hatte während der Sommerferien herausgefunden, dass Dad meinen alten Physiklehrer dafür bezahlt hatte, dass ich nicht katastrophale Noten hatte. Da ich nun aber eine andere Lehrperson hatte, funktionierte diese Taktik nicht und ich wollte auch nicht, dass meine Noten erkauft waren, selbst wenn sich meine Eltern dafür schämten. Am Ende des Tages war es nicht meine Verantwortung, ihre Emotionen zu kontrollieren, sondern nur, eine gute Leistung abzulegen. Ich wollte nach New York, selbst wenn ich mir dafür von Johnny Nachhilfe geben lassen musste. Ich wollte gut sein, weil ich dazu fähig war, nicht, weil ich die Mittel dazu hatte.

Er warf mir einen langen Blick zu und versuchte meine Scham zu deuten, aber ich offerierte keine weiteren Informationen. Er hatte mich schon dafür verurteilt, dass ich in der Bibliothek Süßgetränke trinken durfte – aktive Bestechung würde mich noch schlimmer dastehen lassen, selbst wenn ich erst im Nachhinein davon erfahren hatte.

„Okay. Dann fangen wir mal an. Mach dich darauf gefasst, während einer halben Stunde zu einem Physik-Genie zu mutieren." Johnny zwinkerte mir zu und ich errötete. Vielleicht war diese ganze Sache mit dem Nachhilfe-Unterricht eine schlechtere Idee, als ich anfangs geglaubt hatte.


Endlich wieder etwas Liz und Johnny Content 🤭

Was ist das wohl für ein Filmeabend, den Johnny plant?

Mögt ihr eigentlich Milchshakes?

Pläne für Ostern?

Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen und bis bald ☀️💖

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