07 | Kinetische Katastrophe

Bisher hatte ich behaupten können, dass ich keiner dieser armseligen Menschen war, die über eine Note weinten, wenn sie nicht so perfekt ausgefallen war, wie ich erwartete. Normalerweise hatte ich meine Emotionen im Griff. Aber das dicke, fette, rote F auf meinem Blatt Papier schien mich auszulachen. Ich hielt meine Physikprüfung über kinetische Energie, die Erkenntnisse des Newton und wieso er für die Depressionen von Millionen von Menschen schuldig war – das war nicht der wirkliche Titel der Prüfung aber meiner Meinung hätte er viel besser gepasst – in der Hand und unterdrückte den Drang, sie nicht zusammenzurollen und Kikis Mund damit zu stopfen.

Auf ihrer Prüfung stand ein A. Für Affengesicht, offensichtlich.

Auf Nashs musste ein D für Dumpfbacke stehen.

Und Willas war bestimmt mit einem B für boshafte Unterstützung gezeichnet. Denn soweit ich es erfasst hatte, musste sie von Kikis und Nashs geheimer Beziehung hinter meinem Rücken gewusst haben. Kiki konnte vielleicht gut Dinge vor mir verstecken, aber niemals vor Willa, denn sie war tausendfach netter und zuvorkommender als ich. Vor allem aber war sie nicht so egoistisch und mit ihren eigenen Problemen – oder mit dem Verdrängen ebendieser – beschäftigt, um eine Affäre nicht zu bemerken.

„Du wirst das bei der nächsten Prüfung aufholen", beschwichtigte mich Kiki, während ich mit den Tränen kämpfte. Ich hasste Physik, ich hasste meine Freundinnen, ich hasste, dass Nash überhaupt jemals eine Rolle in meinem Leben gespielt hatte und am meisten hasste ich mich selbst, weil ich nicht genug schlau war, um anständige Noten zu schreiben und Beziehungen aufrechtzuerhalten, vor allem, wenn sie nicht romantisch waren. Wer brauchte schon eine romantische Beziehung, wenn man genauso gut auch jemanden haben konnte, dem man Popcorn anwerfen konnte, bis sie sich dazu bereiterklärten, mit mir einen Film zu schauen? Ich jedenfalls nicht.

„Ich werde nicht schummeln oder irgendeinen Trick anwenden oder betrügen. Und mit Lernen werde ich es niemals schaffen."

Kikis Blick wurde sanfter und sie legte mir eine Hand auf den Arm. Willa mied meinen Blick. Immerhin hatte sie den Anstand, nicht über meine Unfähigkeit zu lügen. Oder fühlte sie sich schuldig, weil sie von Kiki und Nash wusste?

„Wir haben es geschafft, Liz, und du bist tausendmal schlauer als wir." War das eine Aufmunterung oder nur ein weiterer Beweis dafür, wie katastrophal ich mich angestellt hatte? Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, denn es war ohnehin nicht die Wahrheit. Ich war nicht schlauer, sondern meistens nur motivierter. Nur nützte mir das in Physik nichts. Ich zwang die Tränen in meinen Augen zurück.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir glauben kann, Kiki." Die Schulglocke läutete. Meine Freundin – war sie noch immer meine Freundin? – sah mich verwirrt an und Willa tat es ihr gleich.

„Weil ich eine bessere Physiknote hatte als du?"

„Weil du hinter meinem Rücken etwas mit Nash hattest, obwohl ich damals noch mit ihm zusammen war." Meine Stimme brach nicht. Ich hatte nur ein wenig Schluckauf und der Mangel an Sauerstoff in diesem Schulhaus war heute wirklich unerträglich. Ich war kein emotionaler Mensch, verdammt.

Kikis Mund klappte auf. „I-ich...wieso...Nash!" Sie sah wütend zu der Entschuldigung eines Schülers, die hinter ihr gesessen hatte. Er hob eine Augenbraue in die Höhe. Er hatte entweder nicht mitbekommen, was ich zu Kiki gesagt hatte, oder es war ihm egal.

„Ja?"

„Was hast du ihr erzählt?"

„Wem?"

„Was hast du Liz erzählt?"

Er zuckte mit den Schultern, die ich bisher immer schön gefunden hatte, weil sie immerhin muskulös waren. Nicht mehr. Nash war ein Schleimbeutel, eine Seegurke, eine absolute Enttäuschung in jedem Sinn vom Wort. Ja, das war übertrieben, aber ich durfte solche Dinge denken, wenn ich wütend war. „Liz und ich haben uns nie sonderlich viel unterhalten."

Genau genommen hatten wir uns so wenig unterhalten, dass er vergessen hatte, mit mir Schluss zu machen, bevor er etwas mit Kiki angefangen hatte. Aber das sprach ich nicht laut aus, denn dann hätte ich eine Szene gemacht und obwohl ich darin in letzter Zeit sonderlich gut war, wollte ich mich in diesem Moment nicht mit einer weiteren befassen. „Es ist nicht wichtig, Kiki. Ich weiß nicht, wieso ich es überhaupt erwähnt habe."

Lüge.

„Natürlich ist es wichtig!", protestierte sie. „Es geht um unsere Freundschaft, Liz. Das ist das Allerwichtigste für mich."

Wenn ich nicht so wütend gewesen wäre, hätte ich vielleicht gelacht. Ich tat es offensichtlich nicht. „Nun, herzlichen Glückwunsch, denn nun hast du jemanden gefunden, der dir offensichtlich wichtiger ist. Dasselbe gilt übrigens für dich, Willa, denn du wusstest die ganze Zeit davon und hast mir nichts erzählt."

Willa war die Einzige, die genug Verstand in sich besaß, um immerhin schuldbewusst zu wirken.

Kiki hingegen warf entrüstet ihre Hände in die Luft. „Wieso bist du nicht wütend auf Nash? Er war dein Freund."

„Nash und ich haben uns nie sonderlich viel unterhalten. Er hat mich betrogen, aber davon habe ich mich nach meiner kleinen Grillparty erholt. Aber ich hätte dir mein Leben anvertraut, Kiki. Dasselbe gilt für dich, Willa. Ich habe nie gesagt, dass die Handlungen aus seiner Sicht in Ordnung waren, aber ich habe nicht das Bedürfnis, überhaupt eine weitere Sekunde an ihn oder ein Pferd oder an die Oliven, die er stündlich isst, zu denken."

Kikis Mund klappte auf. „Wie kannst du das alles so monoton sagen? Ist es dir etwa alles egal?"

Ich zuckte mit den Schultern. Ich war plötzlich zu müde, um mit einem vollständigen Satz zu antworten. Was tat ich hier überhaupt? Ich hasste es, mich mit anderen zu streiten. Ich hätte darüber hinwegsehen können. Ich hätte es ignorieren können, so wie ich alles andere in meinem Leben ignorierte. Amara hätte mir niemals davon erzählen sollen. Es interessierte mich nicht. Ich konnte keine gelogene Entschuldigung und keinen Vorwurf mehr hören. Wieso war ich so unfair? Wieso war ich nicht netter zu einzelnen Personen? Wieso konnte ich nicht mehr lächeln, dankbarer sein, eine vollkommen andere Person sein, denn die Liz, die ich war, konnte scheinbar niemand ausstehen.

Nicht einmal ich selbst.

Ich hob meinen Designer-Messenger-Bag vom Boden. Und dann ging ich an Kiki, Willa und Nash vorbei, als hätte diese Konversation niemals existiert. Ich beschleunigte meine Schritte, als mir auffiel, dass die nächste Stunde in wenigen Minuten anfangen würde. Ich konnte es schaffen. Ich hielt meine Physikprüfung an mich gepresst, als könnte sie so magisch in meine Haut übergehen und irgendwo existieren, nur nicht in dieser abgedrehten Realität.

Ich hatte es beinahe zum Klassenzimmer geschafft, als mich jemand am Handgelenk packte und ich in eine verlassene Ecke im Flur gezerrt wurde. Empört versuchte ich mich von der Person zu lösen, aber dann hielt er plötzlich an und wedelte meine Hand, die nur auf harte, geschmeidige Muskeln gestoßen war, fort. Ich schürzte die Lippen, nur um Johnnys Gesicht-...

Ich musste ein Prusten mit aller Macht unterdrücken, während ich mir eine Hand auf den Mund schlug. Ich hatte bereits geahnt, dass ich hervorragende Arbeit mit ihm geleistet hatte, aber dass er es nach zwei Tagen noch immer nicht geschafft hatte, die Herzchen von seinem Gesicht zu waschen, machte meinen Tag immerhin erträglich.

„Hi, Johnny", sagte ich möglichst neutral.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Er musste dringend an seinem Aggressionsproblem arbeiten. „Das ist nicht witzig, Wheeler." Vielleicht war es sein Ton oder seine Haltung, aber mein Anflug an guter Laune war so schnell verschwunden, wie er auch gekommen war. „Ist dir klar, wie sehr ich mich blamiert habe?", knurrte er.

„Womit denn?" Ich trat unauffällig einen Schritt zurück. Vielleicht konnte ich neuerdings unsichtbar werden, nur hatten sich diese magischen Kräfte noch nicht gezeigt, weil ich bisher keiner Stresssituation ausgesetzt gewesen war? Gott, ich musste dringend aufhören, so viele Fantasy-Bücher zu lesen.

Johnny fuchtelte mit einem Finger vor seinem Gesicht herum. „Das hier ist allein dein Fehler, Wheeler."

„Du hast mir das Angebot gemacht-..."

„Du hast es ausgenutzt!", rief er und warf seine Hände in die Luft. „Ich wollte dir ein Friedensangebot machen und du hast diesen kurzen Moment der Schwäche ausgenutzt, um dich über mich lustig zu machen!"

„Hör auf, mich anzubrüllen, Johnny!", gab ich genauso kraftvoll zurück. Tränen glänzten in meinen Augen. Ich versuchte sie wegzublinzeln. Gott, ich war wie ein kleines Kind. War es wirklich so schwierig, sich einmal zusammenzureißen?

Johnny stockte in seiner Bewegung. „Liz-..."

„Nein! Ich weiß, dass du mich nicht magst, okay? Ich weiß, dass du lieber mit jeder anderen Person auf diesem Planeten deine Samstage verbringen würdest und dass wir diese Diskussion schon einmal hatten und dass du wütend bist wegen deines Gesichts." Ich wusste, dass ich keine sozialen Kompetenzen hatte, denn würde ich sonst hierstehen und mich fragen, ob es überhaupt einen Menschen gab, der mich tolerierte? Mom und Dad schon einmal nicht, denn sie taten ihr Bestes dafür, mir aus dem Weg zu gehen, was vielleicht sogar besser so war. Von Nash, Kiki und Willa musste ich gar nicht erst anfangen. Aber sie waren meine Freundinnen gewesen und nun hatte ich niemanden mehr.

Das Einzige, was mich immer dazu gebracht hatte, weiterzumachen und dennoch mein Bestes von mir zu geben, waren meine Träume und der Fakt, dass ich für ein Studium an der New York School Of Design einen anständigen Notenschnitt brauchte. Aber nun stand das F mitten auf meiner Physikprüfung und es war schwierig, richtig zu atmen, während ich versuchte, mich an Johnny vorbeizudrücken, der sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegte, als würde er es genießen, mir im Weg zu stehen und mein Leben noch schwieriger zu machen. Als könnte ich meine Samstage nicht fürs Lernen und Ideen sammeln benutzen, statt in seinem Kurs mitzumachen, der mich nicht einmal interessierte.

Das Einzige, was ich damit erreichte, war, dass meine Physikprüfung zu Boden fiel, als ich ihn mit den Händen zur Seite schieben wollte und vergaß, dass ich sie noch in den Händen hatte. Das dicke, große F darauf schien mich schlimmer auszulachen als das Schicksal selbst. Ich verschluckte mich beinahe an meinem unterdrückten Seufzer. Gott, wieso konnte heute nichts so funktionieren, wie ich es gerne gehabt hätte?

Johnny schwieg, als er seine Arme um mich legte und mich festhielt. Ich drückte mir meine Fäuste über die Augen, in der Hoffnung, meine Gefühle ein weiteres Mal von der Oberfläche zu verbannen und so zu tun, als wäre alles okay, schließlich funktionierte das sonst auch immer.

Aber nichts war okay. Ich wusste es, meine dumme Physikprüfung und Johnny wussten es. Trotzdem hielt er mich, strich mit seiner Hand behutsam über meinen Rücken und murmelte beruhigende Worte in mein Ohr, als hätte ich sie verdient. Als hätte er mich während diesen fünf Sekunden nicht gehasst, wie er es sonst immer tat.

„Es tut mir leid, Liz."

Ich schwieg und krallte meine Finger stattdessen in sein T-Shirt.

„Es tut mir leid. Du hast das nicht verdient. Es tut mir leid."

Ich fragte nicht, woher Johnny wissen wollte, was ich verdiente und was nicht, sondern klammerte mich nur an seine Wärme, in der Hoffnung, dass sie vielleicht in meine Knochen übergehen würde, wo mir die Kälte und Einsamkeit schon so bekannt waren, dass ich gar nicht wusste, was das hier genau war. Ich klammerte mich an ihn, weil ich nicht wusste, wann mich zum letzten Mal jemand so gehalten hatte und ob es jemals wieder geschehen würde. Ich wollte seine Nähe, die Berührung genießen, solange ich konnte.

„Ich bin gut in Physik", seufzte er schließlich. „Ich kann dir helfen."

Ich löste mich von ihm und sah ihm in die Augen. „Ich bin nicht dein Problem, Johnny."

„Ich mag Physik", korrigierte er sich. „Das ist so etwas wie ein Hobby für mich. Also würdest du mir theoretisch einen Gefallen damit machen, wenn ich dir helfen dürfte und eine Entschuldigung hätte, mich öfter damit zu befassen."

„Sagst du das, weil du Mitleid mit mir hast?"

Seine Mundwinkel zuckten. „Ich meine es ernst."

Ich verzog das Gesicht. „Oh."

Johnnys Mundwinkel verzogen sich zu einem Schmunzeln. „Ist der Gedanke von mir Nachhilfe zu bekommen so schlimm?"

„Ich kann einfach nicht glauben, dass es tatsächlich Menschen gibt, die Physik mögen, Johnathan."

„Und ich kann nicht glauben, dass es Menschen gibt, die tatsächlich Literaturunterricht mögen, Elizabeth."

Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel Physik."

„Wir könnten uns gegenseitig helfen, wenn du willst. Ich gebe dir Physik-Nachhilfe und du mir Literatur-Nachhilfe?"

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich dachte, du willst mich wieder mit deinem Kurs erpressen?"

„Ich kann mich nicht daran erinnern, das jemals getan zu haben, Wheeler."

Ich rollte mit den Augen. „Von mir aus."

„Ja?"

„Ja, okay. Ich bin dabei. Aber nur, weil ich verzweifelt bin."

Johnnys Mundwinkel zuckten. „Ich denke, dass niemand verzweifelter ist als ich."

Ein ungläubiges Grunzen verließ meinen Mund. „Du musst nicht lügen, damit es mir besser geht."

„Hat es zumindest funktioniert?"

„Vielleicht ein bisschen."

„Gut. Außerdem war es gar keine Lüge. Nicht wirklich."

„Ja?"

Johnny nickte eifrig. „Definitiv. Denn die erste Nachhilfe, die ich bekomme, wird sein, wie ich die Schminke aus meinem Gesicht bekomme."

Meine Lippen verzogen sich zu einem geschmeidigen Lächeln. „Aber du siehst doch so gut aus mit den ganzen Herzchen, Johnny. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das jemals beibringen werde."

Johnny legte seinen Kopf schief und entfernte sich einige Schritte von mir. „Das ist zu schade, Elizabeth Wheeler, denn ich hätte tatsächlich eine Überraschung für dich bereit, wenn du dich dafür bereit erklären würdest."

Ich war definitiv zu leicht zu ködern. Vielleicht lag es daran, dass meine Eltern nie da gewesen waren, um mir klarzumachen, dass man nie für Süßigkeiten in ein Auto mit Fremden steigen sollte. Jedenfalls wurde ich hellhörig. „Eine Überraschung?", wiederholte ich skeptisch.

Johnny nickte langsam. „Aber du bist vermutlich sowieso nicht interessiert daran. Du magst die Herzchen auf meinem Gesicht lieber." Ich schwieg. War seine Überraschung nur ein Bluff? Und wieso interessierte mich das überhaupt? Es war nicht so, als könnte man Johnny tatsächlich vertrauen. Er mochte mich nicht einmal. Er räusperte sich. „Es war jedenfalls schön, sich mit dir zu unterhalten, Liz. Die Überraschung kann ich mir in dem Fall sparen."

Er drehte sich um. Ich sammelte meine Physikprüfung vom Boden. Es war besser, wenn ich ihn nicht sah oder mit ihm schwänzte oder was auch immer es war, das er tun wollte. Johnny war eine Wundertüte und daher viel zu riskant für jemanden wie mich. Trotzdem konnte ich mich nicht davon abhalten, ihm hinterherzulaufen und nach seinem Arm zu greifen. „Ich bin dabei, okay? Ich will einfach nichts tun, was mich ins Gefängnis bringt", sagte ich etwas atemlos.

Johnny schenkte mir nur ein süffisantes Grinsen.


Sooo...ein Kapitel während ich darauf warte, dass die Super Bowl beginnt (das ist mein Code-Wort für Taylor Swift hahah 🤭)

Was halten wir von Liz' Verhalten gegenüber Kiki und Willa?

Oder Nash?

Wird die Nachhilfe-Unterricht-Situation wohl funktionieren?

Und irgendwelche Ideen, was die Überraschung sein könnte?

Genießt die Woche und bis bald ❤️💛

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