11 | parker. peter parker
In der Pause mache ich mich auf die Suche nach Sebastian, während ich dabei umsichtig die Klassenräume meide, in denen Chase gerade Unterricht hatte. Ich finde ihn schließlich vor der Kantine, wo er ein paar Worte mit seinem jüngeren Bruder wechselt. Sein Name fällt mir gerade nicht ein. Als ich näherkomme unterbricht er das Gespräch und wendet sich stattdessen an mich.
»Liz Toomes schmeißt am Donnerstag 'ne Party, kommst du auch?«
»Ich kenne sie nicht wirklich«, sage ich ablehnend. Außerdem – eine Party voller Kinder zwei Stufen unter mir? Nein danke, ich will doch nicht den Babysitter spielen.
»Ich würd's mir überlegen. DJ Flash legt auf.« Er deutet mit beiden Daumen auf sich.
Ich verziehe den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Verlockend. Sebastian, kann ich kurz mit dir sprechen? Unter vier Augen?«
»Hm?« Er sieht mich an, als wäre er soeben aus einer Trance erwacht. »Klar.«
Flash zurücklassend gehen wir ein paar Schritte in Richtung Ausgang. Sebastian versenkt eine Hand in der Hosentasche, während er mit der anderen seine Frisur richtet. Ich gehe nochmals alle Etappen eines Plans durch. Jetzt ist es zu spät, um einen Rückzieher zu machen.
»Du kennst doch Chase Mills«, sage ich.
»Captain der Basketballmannschaft, ja.«
»Gut. Er geht mir nämlich tierisch auf die Nerven, weil er mich nicht in Ruhe lässt. Ich will ihn loswerden.«
Sebastian zieht überrascht die Augenbrauen hoch. »Warte, ihr wart gar nicht auf einem Date auf Coney Island?«
»Was?«, frage ich entsetzt. »Nein! Warum sollte er sowas rumerzählen?« Das geht entschieden zu weit. Vielleicht sollte ich loswerden doch in eine andere Richtung lenken.
»Okay ich kapier's, du kannst den Typen nicht ausstehen. Und warum genau kommst du damit zu mir?«
Ich drücke den Rücken durch. »Ich hab gehört deine Beziehung mit Sophia Moore lief nicht ganz so gut aus«, sage ich in gesenktem Tonfall, auch wenn niemand in unserer Nähe steht. »Ebenso wie deine letzten Tests in Chemie. Ich mache dir also ein Angebot. Es ist ganz simpel. Wir tun so, als ob wir in einer Beziehung wären, solange, bis Chase mich in Ruhe lässt, höchstens aber bis zum Ende des Schuljahres. Im Gegenzug biete ich dir Nachhilfe an.« Erwartungsvoll sehe ich Sebastian an. Es liegt nun bei ihm. Aber wenn meine Vermutungen stimmen, wird er mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zusagen.
Sebastian verengt die Augen und tippt mit seinem rechten Fuß auf den Boden, während er über mein Angebot nachdenkt. »In Ordnung«, sagt er dann. »Aber auch ich habe Bedingungen.«
»Die wären?«
»Erstens, du gibst mir Nachhilfe in Chemie und Physik.«
Klingt machbar. »Und zweitens?«
»Meine Eltern denken immer noch, ich wäre mit Sophia zusammen. Sie haben sie allerdings noch nicht gesehen. Und sie wollten sie zum Geburtstag meiner Großmutter einladen, um sie endlich kennenzulernen.«
Ich soll mich als Sophia ausgeben? Das passt mir nun überhaupt nicht in den Kram. Warum sagt Sebastian seinen Eltern nicht einfach die Wahrheit, wäre das denn so weltbewegend für ihn? Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange herum. Es ist nur für einen Tag. Ich nicke. »Abgemacht. Ich hab morgen nach der Schule Zeit. Falls du nochmal über den letzten Physik-Test gehen willst.«
»Eine Frage noch: Wie steht's mit Intimitäten?«
Darüber habe ich mir in meinem Fünf-Stufen-Plan natürlich auch schon Notizen gemacht, und habe auch sogleich die Antwort parat: »Händchenhalten. Küssen. Ohne Zunge, und auch nur in der Schule. Kein Kuscheln, kein Rummachen.«
»Klingt fair. Aber wir müssen es offiziell machen. Und wie stellen wir das am besten an?«
»Eine Party«, stelle ich widerwillig fest. »Liz Toomes' Party.«
»Liz Toomes' Party«, wiederholt Sebastian. »Flash sagte, Peter Parker bringt Spider-Man mit. Stimmt das? Kennt er ihn wirklich vom Praktikum?«
»Praktikum?«, frage ich verwirrt.
»Ja, Parker hat einen Praktikumsplatz bei Stark Industries.«
Ich schnalze mit der Zunge. »Richtig, der Parker, Peter Parker. Ja, natürlich kennt er Spider-Man. Aber ich glaube, der ist zu beschäftigt, um auf High School Partys zu gehen.«
»Gut, also dann.« Er küsst mich auf die Wange und zwinkert mir zu. »Wir sehen uns morgen Nachmittag zur Nachhilfe.«
Ich sehe ihm hinterher, und als er aus meiner Sichtweite verschwunden ist, reibe ich mir kurz mit dem Ärmel meines Pullovers über die Wange. Jetzt muss ich also doch auf diese Party gehen. Prima. Wie soll ich das anstellen? Und, eine noch viel dringlichere Frage: Wer zur Hölle ist Peter Parker, und was weiß er über Spider-Man? Wieso sollte er rumerzählen, dass er ihn kennt? Das mit dem Praktikum klingt wie eine haushohe Lüge, denn davon hätte Dad mir sicher erzählt.
Also, wer ist Parker, und wo finde ich ihn?
Die Lösung ist leichter herauszufinden als gedacht. Bree kennt jeden an der Schule, und kann mir daher erste Informationen liefern. Er ist im Academic Decathlon Team, im gleichen Jahrgang wie Liz Toomes und offensichtlich ein Nerd. Er hängt hauptsächlich mit Ned Leeds rum. Dank Brees grober Beschreibung mache ich die beiden schnell ausfündig. Sie stehen hinter einer offenen Schließfachtür. Ich höre sie diskutieren.
»Lass uns dieses Wochenende doch einfach die Sache mit dem LEGO-Todesstern wiederholen.«
»Komm schon, wir wurden zu einer Party eingeladen, Mann! Das wird super cool. Und das wäre nicht passiert, wenn ich mich nicht verplaudert hätte.«
»Das war verdammt knapp, Ned. Ab jetzt musst du die Klappe halten, klar?«
»Aber–«
Ich klopfe gegen die Spindtür und beide Jungs fahren herum.
»Ist einer von euch Peter?«, frage ich.
Der Junge mit dem grauen Sweatshirt lässt beinahe die Bücher fallen, die er in seinem Arm gestapelt hat. »Ja, ich«, sagt er mit vor Nervosität zitternder Stimme. »Kennen wir uns?«
»Das ist Judy Stark«, flüstert sein Freund ihm aufgeregt ins Ohr, als ob ich ihn nicht hören könnte.
»Ich weiß, Ned«, zischt Peter zurück, bevor er wieder sein unruhiges Lächeln aufsetzt.
Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Du machst also ein Praktikum bei Stark Industries. Warum habe ich dich dann noch nie dort gesehen? Und wieso hat mein Dad dich mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt?«
»K-keine Ahnung, vielleicht hat Mr. Stark es einfach vergessen.« Seine Stimme springt um drei Oktaven nach oben als er zusehends nervöser wird. Jetzt fällt mir auch ein, dass wir uns schonmal getroffen haben. Nach der Gedenkveranstaltung im Frühjahr.
»Vergessen? Dann frage ich ihn einfach mal. Nun, wir sehen uns bestimmt bald wieder... Wie war nochmal dein Name?«
»Parker.« Er schluckt. »Peter Parker.«
Ich versuche, seine Stimmfarbe mit der des Spider-Mans damals in Leipzig abzugleichen. Wenn er so hochgeschossen redet, könnte man die Ähnlichkeiten fast übersehen. Doch die kurzen Sätze, die er vorhin mit Ned gewechselt hat, bestätigen meine Theorie. Ohne Zweifel, dieser Junge ist der Spider-Man. Wie alt ist er? Fünfzehn?
»Ich will auch nicht länger stören«, verabschiede ich mich, werfe mir meinen Rucksack über die andere Schulter und mache mich auf den Weg nach draußen.
»Weiß sie es?«, fragt Ned aufgeregt.
Peter hingegen klingt so, als würde er mitten in einer existentiellen Krise stecken. »Ich hab absolut keine Ahnung!«
»Dad, wir müssen reden«, spreche ich den Elefanten im Raum an, sobald ich zu Hause angekommen bin.
Dad verpackt gerade das Geschirr in der Küche. »Du nimmst Drogen?«
»Nein. Und ich bin auch nicht schwanger, falls das deine nächste Frage gewesen wäre.«
Er verschließt eine Box. Ich frage mich, wieso wir die ganzen Teller überhaupt mitnehmen müssen. Gibt es davon nicht genug im Compound?
Dad lehnt sich mit verschränkten Armen gegen die Theke. Er kratzt sich am Bart. »Also gut, worum geht es dann? Viele Möglichkeiten bleiben da nicht mehr offen.«
»Spider-Man«, sage ich.
»Haben wir nicht ausgemacht–«
»Ich weiß, ich weiß.« Ich hebe entschuldigend die Hände. »Es war ein Zufall. Er geht auf meine Schule. Ich hab mich kurz mit ihm unterhalten und seine Stimme wiedererkannt.«
»Ich gratuliere«, sagt Dad und öffnet einen weiteren Küchenschrank, um Tassen herauszunehmen. Die erste landet in einem neuen Karton. »Weiß er es?«
»Vielleicht.« Ich wickele eine Tasse in Packpapier ein und stelle sie dazu. »Dad, er ist fünfzehn. Und du hast ihn in einen Strampelanzug gesteckt und nach Deutschland ausgeflogen, damit er sich auf einem Flughafen prügeln kann.«
»Kurbel mein Gedächtnis an, wenn ich falsch liege, aber was hast du nochmal mit fünfzehn gemacht? Ach ja, richtig, auf einem Öltanker gegen Mutanten gekämpft. Dann bist du von Zuhause abgehauen und hast eine Handvoll Teenager vor HYDRA versteckt.«
»Das ist was anderes«, bestreite ich.
»Ganz genau.« Er deutet mit einer besonders eingestaubten Tasse auf mich. »Ich habe ihn nur mit nach Deutschland genommen, weil ich wusste, dass Cap ihn nicht ernsthaft verletzen würde. Eine Person mehr im Team kann einen großen Unterschied machen. Der Junge musste raus aus seiner Gegend, um zu sehen, wie gefährlich es sein kann. Damit er versteht, dass es sicherer ist, wenn man sich nicht in die großen Dinge einmischt.«
Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Das klingt nach etwas, das er sich im Nachhinein einredet, um sein eigenes Gewissen zu beruhigen.
»Außerdem habe ich ihm gesagt, er soll den Ball flach halten.«
»Und mir hast du den Anzug weggenommen«, sage ich sauer, verschließe den Karton und lehne mich an die Theke der Kücheninsel.
»Judy, du kennst die Gründe dafür.«
Ja, und die Ursachen der Gründe liegen alle in Dads Besorgnis, dass ich mich allein auf Missionen mache und mich im schlimmsten Falle sogar noch Steve und Natasha anschließe. Doch darum geht es mir gerade nicht. Es geht um Spider-Man und seine Heldentaten.
»Hast du gesehen, was in dieser Bank vorgestern vor sich ging? Die hatten irgendwelche High-Tech Waffen. Jemand muss etwas dagegen tun.«
»Das FBI ermittelt schon. Peter soll die freundliche Spinne aus der Nachbarschaft bleiben, nichts weiter.« Mit zwei schiefen Streifen Paketklebeband verschließt er den Karton voller Tassen.
Ich stoße mich von der Theke ab. »Tolles, Gespräch, Dad.«
»Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?«
»Ich geb Nachhilfe«, rufe ich aus dem Flur heraus, während ich mir meine Schuhe anziehe. Ich nehme meine Jacke vom Garderobenhaken und lasse mich noch kurz in der Küchentür blicken.
»Wann kommst du wieder?«
Ich zucke mit den Schultern. Normalerweise fragt er sowas nie. »Heute Abend. Wieso?«
»Nun, unsere Pläne haben sich ein wenig verschoben. Ich flieg morgen früh nach Indien«, eröffnet er mir.
Ich werfe die Hände in die Luft. »Dad? Was zur Hölle?« Wieso weiht er mich immer nur (wenn überhaupt) kurz vor knapp in seine Pläne ein?
»Mrs. Jensen ist da, wenn du etwas brauchst. Und du kannst mich jederzeit anrufen. Achte nur auf die Zeitverschiebung. Oder tu zumindest so.«
Ich stemme beide Hände in die Hüften. »Und was machen wir mit unserem Parker-Problem?«
»Happy ist sein Ansprechpartner. Wenn er etwas braucht, meldet er sich bei ihm.«
»Happy? Der arme Mann ist zurzeit dauergestresst, da braucht er nicht auch noch Babysitter zu spielen. Ich kann ein Auge auf Peter werfen. In der Schule zumindest.«
»Das wird nicht nötig sein.«
»Okay. Gut«, sage ich mit gespitzten Lippen. »Viel Spaß in Indien.«
»Ich ruf an wenn der Flieger gelandet ist!«, ruft Dad mir noch hinterher, bevor sich die Fahrstuhltüren schließen.
Fühl dich frei, es nicht zu tun.
Das Haus der Thompsons steht in einem New Yorker Vorort im Norden von Queens. Es sieht nicht ganz so protzig aus, wie ich erwartet hätte. Die Familie befindet sich immerhin in einer guten finanziellen Lage, gemessen daran, dass Flash mit seinem eigenen Auto in die Schule kommt und Sebastian eine zweitausend-Dollar-Uhr trägt. Andererseits ist das hier New York, und New York ist teuer.
Die Klingel macht einen altmodischen Gong-Ton, und kurz darauf öffnet mir Sebastian die Tür.
»Hey, komm rein. Kannst die Schuhe anlassen, die Haushaltshilfe kommt nachher noch.«
Ich verstehe zwar nicht, wie das im Zusammenhang steht – außerdem kann ich Straßenschuhe im Haus allgemein nicht ausstehen – tue aber, was Sebastian sagt und ziehe nur meine Jacke aus. Interessiert sehe ich mich im Eingangsbereich um.
»Und du willst mir sagen, dass du Sophia kein einziges Mal hierhergebracht hast?«
Sebastian zuckt mit den Schultern. »Ein paar Mal. Meine Eltern waren nur nicht da.«
Da seine Hände in den Hosentaschen stecken, deutet er mit seinem Kinn auf die Treppe, die ins Untergeschoss führt. »Mein Zimmer ist unten. Ramona kann uns etwas zu Essen machen, wenn du Hunger hast.«
»Mir geht's gut, danke«, sage ich. Seine Eltern scheinen auch jetzt außer Haus zu sein, und auch Flash habe ich noch nicht gesehen. Womöglich ist er auf seinem Zimmer, im Kinoraum, in der Sauna oder auf dem Golfplatz, wer weiß.
Als ich durch die Tür in Sebastians Zimmer trete trifft mich der Schlag. Ich weiß, ich bin selbst nicht die ordentlichste Person des Planeten, aber ich räume zumindest meine dreckige Wäsche weg. Die Fenster sind relativ hoch im Raum angebracht, und das hereinfallende Nachmittagslicht erleuchtet das Chaos, das sich vor mir ausbreitet. Jeder Flecken des Teppichbodens ist mit Kram bedeckt, mit Schuhen, Sportsachen, Büchern und Magazinen, einer Gitarre, bei der zwei Saiten fehlen, Spielkonsolencontroler und einem kaputten CD-Player.
»Du empfängst Gäste in diesem Schlachtfeld?«, frage ich, nachdem der erste Schock an mir vorrübergegangen ist.
Sebastian hebt eine Socke auf und wirft sie in hohem Bogen am Wäschekorb vorbei. »Die Gäste kommen ja meistens nicht in mein Zimmer«, sagt er, zuckt mit den Schultern und räumt ein paar Sachen von seinem Schreibtisch, bevor er einen zweiten Stuhl heranzieht.
Ich schnalze mit der Zunge. Okay, ich bin nicht hier, um Sebastian irgendwelche Ordnungstipps zu geben. Ich muss nur meinen Teil des Deals einhalten. Und danach werde ich erstmal mein Zimmer aufräumen müssen, denn der Zustand dieses Raumes versetzt mich in Angst und Schrecken.
Ich setze mich an den Schreibtisch. »Also gut: Motorprinzip und Generatorprinzip. Fangen wir damit an. Dazu müssen wir noch kurz einige Grundbegriffe zur elektromagnetischen Induktion klären.«
Mit überraschend viel Interesse wendet sich Sebastian der Wiederholung des Physik-Tests zu. Er scheint einen Großteil von dem, was ich sage, zu verstehen, und nach zwei Stunden erkläre ich die Sitzung für beendet.
Sebastian bringt mich noch zur Tür. Die Sauberkeit des Eingangsbereiches hat schon fast eine beruhigende Wirkung auf mich. Absurd.
»Also, Donnerstagabend bei Liz Toomes. Soll ich dich abholen?«
»Nein, ich komm schon alleine hin«, winke ich ab. »Wir treffen uns einfach vor ihrem Haus, bevor wir reingehen.«
Für heute bin ich fertig; fertig mit Dad und seinem offensichtlichen Desinteresse getarnt als Fürsorge, was Parker angeht. Wie soll ich die nächsten Wochen nur überstehen, ohne komplett durchzudrehen?
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