Chapter 7 - Harry
"So when you hold my hand, do you wanna hold my heart?" Boys Like You - Anna Clendening
Zigaretten, Wald und ein Hauch von Lavendel. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Louis irrte sich gewaltig, wenn er dachte, ich könnte ihn nicht identifizieren, nur weil ich ihn nicht sehen konnte. Seinen Geruch würde ich überall wieder erkennen.
"Harry!", riss mich plötzlich Nialls Stimme aus meinen Gedanken, bevor er mir leicht gegen die Schulter buffte. "Ich rede mit dir."
"Was hast du denn gesagt?", hakte ich, immer noch mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, nach.
"Ich habe gefragt, wie dein Date mit Taylor war", lachte mein irischer Freund. "Was habt ihr gemacht? Wie ist sie so? Trefft ihr euch wieder?"
"Sie ist nett", murmelte ich leise, während meine Gedanken zurück zu Louis wanderten.
Als ich heute morgen zur Schule aufgebrochen war, hatte er noch geschlafen und ich hatte ihn nicht wecken wollen. Er sollte sich ein wenig ausruhen und für eine Weile zumindest ein klein wenig sicher fühlen.
Ob ich ihn verpfeifen wollte? Ich wäre dumm, wenn ich es nicht tun würde, das wusste ich, aber irgendetwas in mir drinnen sträubte sich dagegen, ihn zu verraten. Doch eines hatte ich inzwischen beschlossen: Ich würde nach der Schule mit ihm reden. Ich wollte wissen, wo er herkam, wo seine Familie war, ob er Freunde hatte.
Hier in Deutschland gab es genug Möglichkeiten, sich Hilfe vom Staat zu holen oder arbeiten zu gehen. Man musste nicht auf der Straße leben und fremde Menschen bedrohen, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Louis musste dieses Leben nicht führen. Und ich wollte Antworten. Antworten darauf, warum er nicht versuchte, etwas aus seinem Leben zu machen.
"Nett?", fragte Niall und klang dabei nicht wirklich überzeugt.
"Hm?", erwiderte ich verwirrt, weil ich vollkommen vergessen hatte, worüber er eben noch mit mir geredet hatte.
"Ich geb's auf", murmelte er lachend. "Du bist ja völlig verknallt, so wie du vor dich hin träumst. Erzähl mir einfach später alles, ich muss jetzt los. Wir sehen uns."
Und damit klopfte er mir noch einmal auf die Schulter, ehe ich hörte, wie sich seine schlurfenden Schritte langsam von mir entfernten und ich wenig später alleine an der Bushaltestelle stand. Grinsend schüttelte ich den Kopf. Verknallt. Wenn Niall wüsste, wie falsch er damit lag. Taylor war nett, ja, aber mehr auch nicht. Wir hatten uns gut verstanden und würden uns vielleicht auch wieder sehen, aber ich bezweifelte, dass da mehr als Freundschaft war.
Ich las gerne all diese kitschigen Liebesromane und fragte mich manchmal, ob es so etwas wie die echte Liebe wirklich gab. Ja, ich fand Taylor nett, ich verstand mich gut mit ihr, aber war das Liebe? Hatte man wirklich Herzklopfen und schwitzende Hände, wenn man verliebt war? Gehörte das dazu? Und warum hatte ich das noch nicht erlebt? Hatte ich nur noch nicht die richtige Person getroffen oder war ich vielleicht einfach nicht in der Lage, mich zu verlieben?
Die Bremsgeräusche des Busses, der vor mir zum Stehen kam, holten mich zurück in die Gegenwart und ich stieg seufzend ein, ehe ich mir einen freien Platz suchte und mich dort mit meinem Schulrucksack nieder ließ. Weil mich meine Gedanken permanent um Louis schweiften und ich ihnen irgendwo Platz machen musste, holte ich mein Tagebuch aus meinem Schulrucksack.
Mit meiner Schablone und meinem Griffel begann ich, ein paar Zeilen auf eine leere Seite zu drucken. Niall hatte mir in den letzten Jahren sogar beigebracht, mit einem Stift auf Papier per Hand zu schreiben und einige Buchstaben hatte ich inzwischen auch verinnerlicht, doch diese Art zu schreiben brachte mir herzlich wenig, da ich meine geschriebenen Texte anschließend nicht lesen konnte. Mit der Schablone und dem Griffel konnte ich hingegen in Blindenschrift schreiben und diese anhand der kleinen Erhebungen, die sich anschließend auf dem Papier befanden, auch lesen.
Verträumt begann ich, ein paar Zeilen zu schreiben. Über Louis. Über seinen Geruch, über seine Art, über die Tatsache, dass er kleiner war als ich, obwohl er älter war. Ich schrieb viele sinnlose Dinge auf, einfach, weil ich sie niemandem sonst erzählen konnte und ich sie irgendwie loswerden wollte, um mir wieder mehr Platz zum Denken schaffen zu können. Denn ich konnte mit niemandem über Louis reden. Niall war mein bester Freund, ja, aber wenn man ihm einmal etwas erzählte, wusste es am nächsten Tag die halbe Schule. Ich wusste, dass er es wirklich nicht mit Absicht tat, aber Geheimnisse bewahren war wirklich nicht seine größte Stärke.
Und meine Mum? Ich konnte ihr wohl kaum erzählen, dass ich jemanden, der mich vor einem Tag noch bedroht hatte, in unserer Scheune versteckte. Außerdem würde sie vermutlich die Polizei rufen, wer würde das schon nicht? Aber ich wollte erst mit Louis reden, ihn irgendwie verstehen können, mehr über seine Vergangenheit erfahren, bevor ich ihn einfach auslieferte. Vielleicht war irgendwo tief in ihm drinnen ja doch noch der Wille, ein normales, bürgerliches Leben zu führen. Was auch immer ihm passiert war, das ihn auf den falschen Weg gebracht hatte.
Während ich mein Tagebuch, meine Schablone und meinen Griffel wieder in meinen Schulrucksack stopfte, begann ich schon einmal, mir die Sätze, die ich zu Louis sagen wollte im Kopf zurecht zu legen. Ich wollte Antworten und mit ihm ehrlich darüber reden. Er sollte nicht denken, ich würde ihm Vorwürfe machen. Ich wusste nichts über ihn, nichts. Und deshalb wollte ich nicht vorschnell über ihn urteilen, ohne überhaupt irgendetwas über ihn zu wissen.
Doch wie würde er reagieren? Würde er mich wieder bedrohen oder schlimmeres? Sollte ich Angst vor ihm haben? War ich dumm, wenn ich behauptete, ich würde mich nicht vor ihm fürchten?
Ja, mein Herz schlug in seiner Nähe mindestens doppelt so schnell, wie im Normalfall. Und ja, mein Puls raste unnormal schnell. Aber war das wirklich Angst? Musste ich Angst vor ihm haben? Er hatte mir gesagt, ich müsste es nicht. Er hatte mir gesagt, er wäre harmlos, er würde mir nichts tun. Konnte ich ihm vertrauen? Wohl kaum.
Als meine Haltestelle plötzlich angekündigt wurde und der Bus hielt, war ich kurz überrascht, dass ich schon da war. Wie schnell die Zeit doch verging, wenn man sich über etwas den Kopf zerbrach. Schnell schnappte ich mir meine Sachen und verließ den Bus, bevor er auch schon wieder davon fuhr und ich alleine an der Bushaltestelle zurück blieb.
"Hey, Kleiner", hörte ich plötzlich eine mir bekannte Stimme neben mir, bevor Louis mir meinen Schulrucksack abnahm und ihn sich offensichtlich über die Schulter warf.
"Was machst du denn hier?", fragte ich ein wenig verwirrt und wunderte mich kurz über den lieblichen, frischen Duft, der von ihm ausging. "Hast du geduscht?"
"Ja, ich hoffe, das war okay?", stimmte er zu, ehe er mir plötzlich meinen Blindenstock abnahm und stattdessen meine Hand in seine nahm. "Ich passe schon auf, dass du nirgends gegen läufst, ist doch bestimmt lästig, immer mit dem Ding über den halben Boden zu wischen."
"Ist eigentlich nicht so aufwändig", schmunzelte ich leicht, ehe ich auf meine Frage zurück kam. "Warum bist du hier?"
"Keine Ahnung", erwiderte er und ich konnte ein vorsichtiges Lächeln aus seiner Stimme heraus hören. "Ich dachte, vielleicht möchtest du nicht alleine nach Hause gehen? Außerdem hatte ich nichts zu tun."
Stumm nickte ich und wir gingen eine Weile nebeneinander her. Irgendetwas war anders. Er war anders. Glücklicher, ausgeglichener und er strahlte eine gewisse Grundruhe aus, die mich auf irgendeine Art und Weise entspannte.
Und doch hatte mein Herz wieder angefangen, wie wild zu rasen, während sich in meiner Magengegend ein komisches Gefühl breit machte. War das Angst? Oder Freude? Freude, weil er sich freute? Vielleicht auch nur Aufregung? Weil ich so etwas noch nie erlebt hatte? Oder Ungewissheit? Weil ich hin und her gerissen war, ihn zu verpetzten oder nicht. Sollte ich ihn noch zur Rede stellen? Oder ihm doch noch etwas Zeit lassen?
"Harry", lachte er leise und drückte meine Hand, die noch immer in seiner lag ein wenig, um auf sich aufmerksam zu machen. "Hast du mir zugehört?"
"Was?", murmelte ich abwesend und bemühte mich, meine wirren Gedanken zu sortieren.
"Ich habe dich gefragt, wie du Schule heute war", schmunzelte er amüsiert, ehe er mir freundschaftlich durch die wirren Locken fuhr. "Wo bist du nur mit deinen Gedanken? Bei dieser Taylor von gestern? Ach, junge Liebe."
Ein zaghaftes Seufzen verließ seine Lippen, woraufhin mir ein kleines Grinsen ins Gesicht huschte. Jetzt fing er auch schon damit an. "Interessiert dich das? Wie mein Schultag war?"
"Brennend."
Man konnte den Sarkasmus deutlich aus seiner Stimme heraushören, woraufhin ich schmunzelnd den Kopf schüttelte. Wieso war er auf einmal so nett zu mir, so... freundlich? So entspannt? Fühlte er sich vielleicht sicher? Hatte er vielleicht das erste Mal seit Monaten mit gutem gewissen ausgeschlafen und anschließend in Ruhe duschen können? Konnte ein sicherer Schlafplatz einen solchen Unterschied machen?
"Hast du Hunger?", fragte ich besorgt, da ich heute morgen ganz vergessen hatte, ihm etwas hinzustellen. "Du hast noch gar nichts gegessen, oder?"
"Ich... ein wenig, ja", murmelte er leise. "Ich habe mich nicht getraut, ins Haus zu gehen. Darf ich das? Sind deine Eltern morgens da?"
"Louis", seufzte ich leise und blieb stehen, ehe ich mir kurz durch meine langen Locken fuhr. "Wie lange hast du vor zu bleiben? Eine Nacht? Tage? Wochen? Monate? Ich kenne dich nicht und ich kann dich nicht ewig verstecken."
-
Würdet ihr Louis verraten oder jemandem davon erzählen?
1566 Wörter - Ivy
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