Chapter 3 - Harry
"Und was machst du sonst so in deiner Freizeit?"
Kurz zuckte ich zusammen, da ich für einen Moment vergessen hatte, dass ich nicht wie sonst alleine war. Nervös fuhr ich mir durch meine Schulter langen Locken und wickelte eine einzelne Strähne um meinen Zeigefinger, während ich den Kopf in seine Richtung drehte.
"Lernen für die Schule u-und lesen... und so", stammelte ich unsicher.
"Wie öde", lachte er leise, "Gehst du nicht auch gelegentlich mal aus oder so?"
Scheu schüttelte ich den Kopf. Es gab eine Zeit, da hatte Niall andauernd versucht, mich auf Partys oder in die Disco zu schleppen, aber ich hatte es gehasst. Diese laute Musik, das Stimmengewusel um einen herum... das war einfach nicht meine Welt. Und außerdem ging ich zwischen all den Leuten irgendwann verloren und wurde erst Stunden später von Niall wieder gefunden.
"Dann bist du so ein braver Junge, der alles macht, was Mutti sagt und Klassenbester ist, weil er in seiner Freizeit nichts besseres zu tun hat, als zu lernen?", hörte ich ihn abwertend grummeln, während er an irgendetwas herum knipste.
Gerade, als ich antworten wollte, stieg mir plötzlich ein rauchiger Geruch in die Nase.
"S-sag mal, rauchst du etwa?", fragte ich überrascht, "Wir sind in einem geschlossenen Bus. Erstens sind hier kleine Kinder und zweitens ist das bestimmt nicht erlaubt..."
"Ist mir egal", brummte er jedoch nur, "Hab ich dir erlaubt, mich zu duzen?"
"Tschuldigung", nuschelte ich betreten und tastete neben mir nach einem der Stopp-Knöpfe, als meine Haltestelle durch die Lautsprecher angesagt wurde. "Wir müssen gleich raus."
Als der Bus zum Stehen kam, griff ich nach meinem Buch und meinem Rucksack und wollte gerade in den Gang gehen, als ich über die Beine meines Sitznachbarn stolperte und aus dem Gleichgewicht geriet. Anscheinend hatte er sie vor sich ausgestreckt. Panisch griff ich neben mich und hoffte, eine der Stangen, die sich überall im Bus befanden zu treffen. Allerdings traf ich nur ins Leere und rechnete schon damit, gleich Bekanntschaft mit dem Boden zu machen, als sich plötzlich ein starker Arm um meinen Oberkörper legte.
"Immer schön langsam, Harry", mahnte der Typ mich und schob mich sanft zurück, sodass ich wieder sicher stand.
"D-danke", stotterte ich mit rasendem Herzen und entspannte mich wieder etwas, als ich seine Hand auf meinem Rücken spürte. Ganz vorsichtig schob er mich vorwärts und warnte mich sogar, als der Boden des Busses endete und man einen Schritt nach unten auf die Straße machen musste.
"Kein Ding, Kleiner", lachte er leise und löste seine Hand wieder von mir, während er schweigend neben mir her ging.
Was machte er in seiner Freizeit? Wie lange lebte er schon auf der Straße? Hatte er Freunde? Ich hätte ihm am liebsten tausende Fragen gestellt, aber ich traute mich nicht. Ich hatte zu viel Angst, dass er mich wieder bedrohen würde, denn ich konnte ihn überhaupt nicht einschätzen. Ich wusste nicht, zu was er wirklich in der Lage war, ob er noch Komplizen oder so etwas in der Art hatte. Oder weitere Waffen...
"Sind deine Klamotten eigentlich bewusst so ausgewählt oder ist dein Style so merkwürdig, weil du einfach... nichts siehst?", fragte er nach einer Weile.
Autsch. Schon wieder spürte ich diesen Stich in meiner Herzgegend. Merkte er eigentlich, wie sehr mich seine Worte verletzten? Tat er das vielleicht absichtlich, um mich noch mehr einzuschüchtern? Damit ich mich noch schwächer fühlte? Um mich zu verunsichern?
"Das ist bewusst so ausgewählt", seufzte ich leise und wand das Gesicht von ihm ab.
"Also trägst du immer so Frauenzeugs?"
Verletzt vergrub ich meine Hände in den langen Ärmeln meines weißen Wollpullovers, den ich unten ein wenig in meine zartrosafarbene Schlaghose gesteckt hatte, damit er den dazu passenden rosafarbenen Nagellack nicht entdeckte.
"Möchtest du damit etwa sagen, dass ich immer im Fußballtrikot herumlaufen und mir die Haare an den Seiten kurz rasieren soll, weil Jungs das ja so machen?", zischte ich gekränkt und ignorierte dabei die Tatsache, dass ich ihn schon wieder duzte. "Nur weil Kleider, Röcke und spezielle Farben von der Gesellschaft als weiblich abgestempelt werden, darf ich sie nicht tragen? Man sollte sich so kleiden dürfen, wie man möchte, solange man sich darin wohlfühlt oder etwa nicht? Und wenn du mir jetzt ernsthaft dafür einen Vorwurf machen möchtest, wie ich mich anziehe, bist du wirklich dumm. Einfach nur dumm."
Zu meiner Enttäuschung erwiderte er daraufhin nichts mehr, sondern schwieg einfach. Für den Rest des Weges. Ich hätte mir eventuell eine Entschuldigung seinerseits gewünscht oder vielleicht ein wenig Interesse an dem Thema. Damit ich es ihm genauer erklären und sein verzerrtes Weltbild ein wenig gerade rücken könnte. Aber da kam nichts mehr, einfach nichts. Solange nicht, bis wir schließlich an dem Grundstück meiner Familie ankamen.
"Komm mit", murmelte ich leise und führte ihn durch ein Zauntor hinter dem eine Wiese lag.
"Ihr habt... Schafe?", fragte er ungläubig, als wir auf schon von Daisy, meinem persönlichen Lieblingsschaf, laut blökend empfangen wurden.
"Offensichtlich", erwiderte ich nur und ging in Richtung Stall.
Hier Zuhause brauchte ich meinen Blindenstock nicht mehr. Auch wenn man es sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen konnte, fand ich mich einwandfrei zurecht. Ich kannte jeden Maulwurfshügel und jeden einzelnen Zaunpfahl. Auch im Haus fand ich mich prima zurecht, vorausgesetzt natürlich, es war aufgeräumt und es standen keine Gegenstände im Weg herum.
"Also hier ist unsere Scheune oder der Stall von den Schafen", erklärte ich, als mich auch schon der warme Heuduft empfing. Wie ich diesen Geruch liebte. Als ich ein tiefes Blöken direkt vor mir vernahm, musste ich sofort lächeln.
"Hey Rosa", begrüßte ich die alte Dame und hockte mich hin, um ihr liebevoll durch die verfilzte Wolle zu fahren.
"Woher weißt du, welches Schaf das ist?", fragte mein Begleiter erstaunt, "Ich meine da draußen stehen bestimmt zehn Stück und wenn du sie nicht... nun ja... siehst."
"Die blöken alle anders", lächelte ich, erhob mich und steuerte eine Strickleiter, in der hinteren Ecke des Stalls, an. "Daisy, die vorne am Tor stand, hat zum Beispiel eine ganz andere Tonhöhe und blökt auch... nun ja, wie soll ich das erklären... singender?"
"Ah okay", erwiderte er, wobei er nicht den Eindruck machte, als könnte er meine Erklärung nachvollziehen. "Für mich klingen die alle gleich. Pass auf!"
Plötzlich spürte ich seine starken Hände an meiner Taille, als ich den ersten Fuß auf die Strickleiter setzte und vorsichtig hoch kletterte. "Fall mir da bloß nicht runter."
"Keine Sorge", schmunzelte ich scheu und wand mich aus seinem Griff, "Ich klettere hier mehrfach am Tag hoch. Außerdem kann dir das doch sowieso egal sein."
"Ich hab dir immer noch nicht gestattet, mich zu duzen", grummelte er ein wenig beleidigt, klang dabei jedoch recht freundlich.
"Ist mir auch egal", grinste ich frech, ehe ich die Strickleiter empor kletterte und mich auf dem Heuboden auf meinem Deckenlager niederließ.
Ich hatte hier ein paar Wolldecken und Kissen als Unterlage und meine Bettdecke zum zudecken hingelegt.
"Wie cool", schmunzelte mein Streuner, als er sich neben mir auf den Decken niederließ. "Schläfst du hier?"
Zustimmend nickte ich.
"Unsere Lilly hat vor einer Woche ein Lamm bekommen und das ist zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnlich und auch... gefährlich, weil es nachts so kalt wird. Die Kleinen sind da sehr empfindlich. Und ich schlafe hier, damit ich nachts schnell mitbekomme, wenn irgendetwas ist."
"Kann ich das Lamm mal sehen? Also irgendwann..."
"Klar", lächelte ich scheu und wandte dann den Blick ab. "Wie heißt du eigentlich?"
"Louis."
"Louis", wiederholte ich leise, "Das klingt schön. Ein wenig so, wie Bäume riechen."
"Wie Bäume riechen?", fragte er amüsiert, "Wie kommst du denn darauf?"
"Ach, das ist nur so ein dummes Spiel von mir...", winkte ich schüchtern ab.
"Erklär es mir", bat er leise und seine Stimme klang mit einem Mal viel sanfter, als zuvor.
"Also...", stammelte ich unsicher, "I-ich habe irgendwann angefangen, mir Farben, Gegenstände oder Personen mit Klängen oder Gerüche zu beschreiben... Ich habe nicht die geringste Ahnung davon, wie es ist zu sehen... Ich weiß nicht einmal den Unterschied zwischen hell und dunkel. Du könntest es mir erklären, aber ich würde es niemals wirklich verstehen oder nachvollziehen können. Deshalb... ach egal, du hältst mich bestimmt für total bescheuert..."
"Nein, erzähl weiter", widersprach Louis sofort.
"Naja...", fuhr ich unsicher fort, "Ich finde zum Beispiel, dass sich das Wort Salamander total schön und irgendwie musikalisch anhört und deshalb ist der Salamander für mich ein sehr hübsches und elegantes Tier, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, wie er aussieht. Und so ist das mit Gerüchen auch... Ich finde, Bäume riechen sehr schön, irgendwie warm und sanft, aber auch geheimnisvoll und..."
"Herzlos?", vervollständigte er meinen Satz fragend.
"Eher mysteriös", schmunzelte ich.
"Du findest mein Name klingt mysteriös und sanft?", hakte er amüsiert nach.
"Ich hab doch gesagt, du hältst mich für total bescheuert...", grummelte ich leise.
"Nein, nein", widersprach er sofort, "Ich mag deine Denkweise. Das ist irgendwie... schön."
Weil ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte, fummelte ich schüchtern an meiner Perlenkette herum und stellte meinen Schulrucksack neben mich ins Heu. Plötzlich hörte ich ihn leise lachen, bevor er los prustete.
"Ich höre mich an wie ein Baum", japste er nach Luft ringend.
"Ey", knurrte ich beleidigt, wobei auch meine Mundwinkel ein wenig nach oben gingen, "Du Doofkopf."
Schmunzelnd tastete ich nach ihm und begann, ihn durch zu kitzeln, woraufhin er nur noch mehr lachen musste und irgendwann keuchend nach Luft rang. Dabei entging mir nicht, wie unglaublich dünn er war. So dünn, dass ich seine Rippen sogar durch den Stoff seiner Kleidung hindurch spüren konnte.
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1580 Wörter - Ivy
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