Chapter 21 - Louis
"I'm happy on the outside looking in" Outside - Tim Kamrad
(Triggerwarnung, Tod)
"Kannst du dich noch an die Nacht erinnern, in der ich einen Albtraum hatte?", fragte Harry leise und fummelte an einem der Ringe, die seine Hände schmückten, herum.
"Ja kann ich." Und wie ich das konnte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Harry hatte so verloren, so hilflos gewirkt. Immer wieder hatte er um sich getreten und um Hilfe gerufen. Es hatte mir beinahe das Herz gebrochen.
"Robin, mein... mein Stiefvater ist vor zwei Jahren gestorben." Ich vergrub meine Nase in Harrys flauschigen Locken und atmete einen Moment lang seinen lieblichen Duft ein, während ich seine Hände sanft drückte. In solchen Situationen wusste ich nie, was ich sagen sollte. Ich war weder besonders gut im Zuhören, noch darin, die richtigen Worte zu finden. Trotzdem wollte ich ihm irgendwie zeigen, dass ich da war. Vielleicht könnte diese Berührung ihm das vermitteln. Vielleicht.
"Ich... ich... ich war dabei."
"Du warst was?" Meine Stimme war so leise, dass ich sie selbst kaum gehört hätte. Ich versuchte, mir unter Harrys Worten etwas vorzustellen. Er war dabei. Hatte er miterleben müssen, wie sein Dad starb? Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem gesamten Körper und ich schluckte hörbar.
"Es war ein Unfall. Wir... wir wollten Gemma besuchen aber das Auto war gerade in der Werkstatt und dann mussten wir mit der Bahn fahren. Da waren so viele Menschen, es war alles so laut und voll, so unglaublich voll..."
Seine Stimme brach und er begann erneut zu weinen.
"Hazza", flüsterte ich und drückte seinen Oberkörper noch mehr an meine Brust. "Du musst nicht weiter reden, wenn du nicht möchtest."
"Du hast mich noch nie Hazza genannt." Ich sah, wie sich seine Mundwinkel ein klein wenig nach oben bewegten. "Es klingt schön, wenn du es sagst..."
Vorsichtig löste ich meine Hände von seinen und legte sie stattdessen an seine Wangen, um seinen Kopf zu meinem zu drehen. Fuck, er war so wunderschön, sogar wenn er weinte. Ich erwischte mich dabei, wie ich auf seine Lippen starrte, ehe ich schließlich vorsichtig die Tränen von seinen Wangen wischte. Obwohl er so wunderschön war, brach es mir das Herz, ihn so zu sehen.
"Ich wurde geschubst... oder ich bin gestolpert, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Ich bin auf die Gleise gefallen. Ich habe noch versucht, irgendwie hoch zu kommen und ich habe die Leute rufen gehört und alles war auf einmal so laut und dann habe ich plötzlich den Zug gehört und..." Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen und ich merkte, dass es ihn alle Mühe kostete, nicht wieder los zu weinen. "Und dann war Robin auf einmal bei mir. Er hat mir geholfen, zurück auf den Bahnsteig zu kommen, von wo aus meine Mum mich hochgezogen hat und dann war der Zug plötzlich da. Es war so laut und windig und die Leute haben geschrien. Es ging alles so unglaublich schnell."
"Das tut mir so leid, Harry." Inzwischen hatte er sein Gesicht wieder von mir weg gedreht und meine Hände um seine eigenen gelegt. Sie fühlten sich mit einem Mal so kühl an. Aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein. Er weinte nicht, er wirkte irgendwie so merkwürdig ruhig und das machte mir Angst.
"Es ist jetzt schon eine ganze Weile her..."
"Das macht es aber nicht weniger schmerzhaft oder?", fragte ich gedankenverloren. Er schüttelte den Kopf. Ich umschloss seine Hand noch ein wenig mehr mit meiner und führte sie dann zu meinen Lippen, um einen vorsichtigen Kuss darauf zu hauchen. Ich war mir nicht sicher, ob ihm diese Art von Berührung überhaupt gefiel, oder ob ich vielleicht zu aufdringlich war. "Das ist nicht deine Schuld gewesen, das weißt du."
"Manchmal denke ich es aber", murmelte er. "Wäre ich nicht gewesen, dann..."
"Dann wäre etwas anderes passiert", beendete ich seinen Satz. "Das war nicht deine Schuld, Harry. Manchmal kann das Schicksal grausam sein, aber wir können es nicht ändern."
Er schwieg.
Nach einer Weile unterbrach er allerdings die Stille, in der man nur das immer mal wiederkehrende Blöken der Schafe hören konnte. "Kannst du mir etwas vorsingen?"
"Etwas vorsingen?", wiederholte ich fragend. "Nein Harry, ich..."
"Bitte."
Ich seufzte. Ich mochte es nicht, vor anderen zu singen, weil es mich zu sehr an früher erinnerte, an die Zeiten, als ich mit Sissi zusammen Straßenmusik gemacht hatte. Sissi. In ihrer Gegenwart hatte ich immer dieses Gefühl gehabt, dass ich jetzt bei Harry hatte. Nur dass ich bei Harry nicht dachte, dass er es ausnutzte. Aber vielleicht würde er das tun, eines Tages würde er das tun.
"Nur ein Song, Lou. Bitte, deine Stimme klingt so wunderschön."
Bei seinen letzten Worten konnte ich einen leichten Rotschimmer auf seinen Wangen erkennen und zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch. Lou. Er spielte mit unfairen Karten, wenn er mich mit diesem Spitznamen ansprach. "Okay, aber nur ein Song."
Er drehte sich ein wenig in meinen Armen und tastete dann nach meinem Gesicht, bis er eine seiner Hände unter mein Kinn legte und meinen Kopf ein wenig zu sich heran zog. Ich blickte in die schwarzen Gläser seiner Sonnenbrille und versuchte wie schon oft, seine Augen dadurch sehen zu können. Vergeblich. "Danke." Er kam meinem Gesicht noch ein wenig näher und küsste mich schüchtern auf die Wange, ehe er aufstand und davon ging. Lächelnd sah ich ihm hinterher und strich mit meinen Fingern über die Stelle in meinem Gesicht, von der aus sich ein angenehmes Kribbeln in meinem gesamten Körper ausbreitete.
Nur ein paar Minuten später kam er mit einer Gitarre zurück und setzte sich im Schneidersitz vor mich in das Stroh. "Sag mir welcher Song und ich spiele ihn."
Ich schüttelte den Kopf. "War ja klar, dass du auch Gitarre spielen kannst. Noch irgendwelche Talente, von denen ich nichts weiß?"
Ein Grinsen erschien auf seinen Lippen. "Ich kann jonglieren. Ziemlich gut sogar."
"Das musst du mir mal zeigen." Ich beugte mich zu ihm hinüber und nahm ihm die Gitarre ab. "Aber ich bezweifle, dass du diesen Song auch spielen kannst, den habe ich nämlich selbst geschrieben."
"Du schreibst Songs?"
"Harry", lachte ich und fuhr einmal mit meinen Fingern über die Seiten. "Möchtest du jetzt, dass ich dir etwas vorsinge oder willst du weiter reden?"
"Ich bin ja schon still."
"Aber ich habe erst die ersten Zeilen und der Refrain fehlt mir noch. Es ist auch nicht so gut, also erwarte nicht zu viel. Außerdem habe ich den Song schon eine Ewigkeit nicht mehr gesungen und..."
"Louis", unterbrach er mich schmunzelnd. "Möchtest du jetzt singen oder willst du weiter reden?"
Grinsend sah ich ihn an. Ich griff mit meiner einen Hand den Anfangsakkord und ließ sie andere über die Seiten fahren, die daraufhin wunderschöne Klänge erzeugten. Kurz sprach ich mir in Gedanken selbst Mut zu, ehe ich begann den Song an zu spielen.
"If I could fly
I'd be comin' right back home to you"
Kurz blickte ich in Harrys Gesicht und betrachtete das verträumte Lächeln auf seinen Lippen, was die Schmetterlinge in meinem Magen augenblicklich aus ihrer Starre löste und sie wild umher flattern ließ. Obwohl er es sowieso nicht sehen könnte, versuchte ich, das fette Grinsen, welches sich in mein Gesicht schleichen wollte, zu unterdrücken indem ich den Blick abwandte und auf den Boden zu meiner Rechten starrte.
"I think I might
Give up everything, just ask me to"
Vergeblich. Ich musste trotzdem Grinsen.
"Pay attention, I hope that you listen
'Cause I let my guard down
Right now I'm completely defenseless"
Ich stoppte und versuchte, mein aufgeregtes Herz ein wenig zu beruhigen. "Da müsste jetzt eigentlich so etwas wie der Refrain kommen, aber den habe ich noch nicht, weil mir dazu irgendwie nichts einfällt... aber ich habe noch eine Strophe, falls ich die auch noch spie..."
"Ja", unterbrach Harry mich direkt und nickte wild. Nervös legte ich meine zitternden Finger zurück auf die Seiten. Dieser Song bedeutete mir ganz besonders viel. Ich hatte angefangen ihn zu schreiben, als ich Sissi schon eine Weile kannte. Ich hatte ihn ihr nie vorgespielt, weil er eigentlich nicht für sie bestimmt gewesen war. Sie hatte mich dazu inspiriert, ja, aber der Song war für jemanden, der mich wirklich lieben würde, für den ich mich wirklich öffnen würde. Bei Sissi hatte ich das nie getan. Ich hatte damals angefangen, in der Hoffnung, irgendwann jemanden zu finden, bei dem ich all das konnte. Jemand, der nicht so war wie sie.
"I've got scars
Even though they can't always be seen
And pain gets hard
But now you're here and I don't feel a thing
Pay attention, I hope that you listen
'Cause I let my guard down
Right now I'm completely defenseless"
Ich stoppte. "Hier ist dann wieder die Sache mit dem Refrain und ich weiß noch nicht genau, ob ich das so lassen kann oder ob ich die zweite Strophe vielleicht noch ein bisschen abändere. Keine Ahnung... irgendwie... keine Ahnung."
"Ich liebs."
Zwei einfache Worte, die mein Herz sofort höher schlagen ließen. Ich hob den Blick und traute mich endlich, Harry wieder anzusehen. Seine roten Wangen glühten förmlich und ich war mir sicher, dass mich seine Augen, wenn er nicht diese Brille tragen würde, in diesem Moment angestrahlt hätten. "Gib mir mal kurz die Gitarre."
Verwundert darüber, was er wohl vor hatte, reichte ich sie ihm. Er spielte ein paar Akkorde, bis er den Song schließlich genau so wieder gab, wie ich ihn noch vor wenigen Sekunden gespielt hatte. Nur ohne Gesang. Überrascht starrte ich auf seine Hände, die das Lied ohne Probleme spielten. Wie zur Hölle hatte er das so schnell und nur vom Hören lernen können. "Harry wie-"
Ich verstummte, als er seine Hand hob und mir so bedeutete, still zu sein.
"For your eyes only
I'll show you my heart
For when you're lonely
And forget who you are"
Ich war sprachlos. Da arbeitete ich jahrelang an einem Song und steckte meine gesamten Nerven hinein und er schaffte es, innerhalb von Minuten einen perfekten Refrain dahin zu klatschen. Als wäre es das einfachste und selbstverständlichste der Welt.
"I'm missing half of me
When we're apart
Now you know me
For your eyes only"
Gerade, als er aufhören wollte, zu spielen, nahm ich meinen Mut zusammen und improvisierte einfach mit dem, was mir gerade im Kopf herum schwirrte:
"I can feel your heart inside of mine
I feel it, I feel it
I've been goin' out of my mind
I feel it, I feel it
Know that I'm just wastin' time"
Ich verstummte. Auch er hörte auf zu spielen, ehe er eine letzte Zeile ganz ohne Begleitung sang und mir damit eine Gänsehaut bescherte.
"And I hope that you don't run from me."
Er formte ein stummes "danke" mit seinen Lippen, was ich lächelnd, allerdings ausgesprochen erwiderte. Die Grübchen, die sich wieder einmal auf seinen Wangen abzeichneten ließen ihn in Kombination mit dem rosafarbenen Kapuzenpullover so unglaublich niedlich aussehen, dass ich ihn am liebsten auf der Stelle geküsst hätte. Und dann diese engelsgleiche Stimme.
Scheiße, ich war so verknallt.
...
Inspiriert von @beyouself , die sich in "Sweet Creature" ein Larry-Duett gewünscht hat. Und mir bei dieser Songauswahl versichert hat, sterben zu werden... falls du das ließt... ich bin dabei, dich wiederzubeleben, Love <3
1866 Wörter - Ivy
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