Kapitel 18
(Pov. Harry)
Tiefe Schwärze und vollkommene Stille hüllten mich ein. Füllte es sich so an, tot zu sein? Dort war kein Licht am Ende des Tunnels gewesen und auch kein Moment in dem das ganze Leben noch einmal an einem vorbeizog. Nur diese endlose Leere in der kein Gefühl für Raum oder Zeit existierte. Das war er also, der Tod. Oder nicht?
Ich wusste nicht, ob ich schon einige Stunden, Tage oder Wochen in diesem Zustand verbrachte. Manchmal schaffte ich es, klare Gedanken zu fassen und manchmal konnte ich mich nicht einmal an meinen Namen erinnern. Es war die Hölle, ganz alleine dort gefangen zu sein und nichts zu wissen. Ich hatte das unerträgliche Gefühl, als würde mein Kopf ständig gegen mich kämpfen. Es waren keine physischen Schmerzen, aber die psychische Belastung quälte mich.
Immer wieder tauchten Bilder von meiner Familie und von Louis vor meinem inneren Auge auf, mit dem Wissen, dass sie unerreichbar waren. Der Gedanke, niemand würde mich vermissen und Louis hätte schon einen neuen Freund gefunden, spielte sich in Dauerschleife ab. Ich wollte weinen, doch an diesem einsamen Ort in meinem Kopf existierten keine Tränen. Hier existierte nichts außer Leere.
„Harry, lassen sie mich zu Harry.“ zerschnitt ein lauter Schrei aus dem Nichts die Stille. Die Stimme kam mir bekannt vor, doch ich schaffte es nicht sie zuzuordnen. „Harry“ Da war sie erneut. Sie rief meinen Namen. Immer und immer wieder. Plötzlich bekam die Dunkelheit Risse und Licht drang zu mir hindurch. Zuerst nur ganz wenig, doch mit jedem Wort, dass die mir so bekannte Stimme sprach, brach der Schleier der Dunkelheit weiter auseinander, bis sie sich schließlich in einen grauen Nebel verwandelt hatte.
Auch die Gefühlslosigkeit wurde ersetzt durch Wärme. Es war die gleiche Wärme, die ich immer dann verspürt hatte, wenn Louis mich berührte. Louis. Auf einmal wurde es mir bewusst, wer dort die ganze Zeit geschrien hatte. Braucht er meine Hilfe? Schrie Louis deshalb? Ich musste ihm helfen. Ich musste um jeden Preis zurück zu ihm. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, kämpfte ich mich durch den Nebel immer weiter Richtung Licht.
Ich musste eine unglaubliche Anstrengung aufbringen und war schon kurz davor aufzugeben, doch da tauchte Louis Gesicht in meinen Gedanken auf. Ich musste es einfach schaffen für ihn, den Jungen den ich liebte. Die Liebe zu ihm war wie ein Rettungsseil, dass mich das letzte Stück aus dem Zustand der Leere befreite. Plötzlich konnte ich die Umgebung um mich herum wieder wahrnehmen. Ich spürte, wie mein Kopf auf einem weichen Kissen lag und eine Decke mir Wärme spendete. Ich konnte laute Stimmen hören, die sich wegen irgendetwas stritten.
Louis, er war noch immer dort. Ich schlug meine Augen auf. Im ersten Moment konnte ich nichts sehen, da das Licht meine empfindlichen Augen blendete. Ich blinzelte einige Male, bis meine Sicht klarer wurde. Ich befand mich in einem Krankenhauszimmer mit vielen blinkenden, piepsenden Maschinen. Eine Krankenschwester war gerade dabei, meinen Freund aus dem Raum zu befördern.
„Louis“ hauchte ich und versuchte auf mich aufmerksam zu machen. Doch die beiden stritten so laut, dass mich niemand bemerkte. „Sie können mich nicht davon abhalten, meinen Freund zu sehen!“ argumentierte Louis, aber die Frau im weißen Kittel hielt dagegen. „Nur die engste Familie darf zu ihm. Der Patient liegt im Koma und braucht alle Ruhe die er bekommen kann, um zu genesen. Sie hätten überhaupt nicht hier herein kommen dürfen.“
Noch einmal krächzte ich etwas lauter Louis Namen und tatsächlich huschte sein Blick verwundert in meine Richtung. Wie versteinert starrte er mich an, bis er zu realisieren schien, dass ich wirklich wach war. Er schubste die Krankenschwester zu Seite und rannte die wenigen Schritte, die uns noch trennten, auf mich zu. Er ließ sich neben mein Bett fallen und griff nach meiner Hand. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch kein Wort verließ seine Lippen.
„Wie...warum...was?“ stotterte er schließlich zusammenhanglos, während Tränen der Erleichterung seine Wangen herunterliefen. Sanft befreite ich meine Hand aus seinem Klammergriff und strich ihm die Tränen aus dem Gesicht. Ich war noch immer verwirrt, was passiert war. Ich dachte ich wäre tot, doch in diesem Moment mit Louis fühlte ich mich so lebendig wie lange nicht mehr. Ich unternahm den schwachen Versuch, ihn zu mir zu ziehen. Mein Freund schien meine Aufforderung jedoch trotzdem zu verstehen und er gab mir einen sanften Kuss auf die Lippen.
„Ich liebe dich, Louis.“ flüsterte ich, doch er antwortete mit einem traurigen Blick „Es tut mir so leid. Das alles wäre nicht passiert, wenn ich bemerkt hätte, dass du deine Gesundheit vernachlässigst. Du warst nicht mehr bei deinen Untersuchungen, nur weil ich so egoistisch war und deine Hilfe gebraucht habe.“ Sofort widersprach ich ihm. „Nein, niemand hat hier Schuld außer mein kaputtes Herz. Du hast mich gebraucht und es war ganz allein meine Verantwortung, dass ich nicht beim Arzt erschienen bin.“ Ich sah Louis an, dass er meinen Worten nicht viel Glauben schenkte, doch er diskutierte nicht weiter mit mir. Zu groß war seine Erleichterung, dass ich aufgewacht war.
Plötzlich ging die Tür auf und Dr. Carter betrat das Zimmer. Er begrüßte mich freundlich, bevor er meinte „Wir haben deine Eltern bereits informiert, dass du aufgewacht bist. Sie sollten jeden Augenblick hier sein. Bestimmt hast du einige Fragen zu der ganzen Situation.“ Völlig überfordert nickte ich nur, da fing der Arzt auch schon an zu erklären. „Wir mussten dich auf Grund eines Herzstillstandes in ein künstliches Koma versetzen. Dein Körper war jedoch so geschwächt, dass wir dich nicht mehr zurückholen konnten, ohne dich erneut in einen kritischen Zustand zu versetzen.“
Das Einzige, was ich davon wirklich realisierte war, dass ich nicht tot war. Immer wieder wiederholte sich dieser Satz in meinen Gedanken. Ich bin nicht tot. Das alles war real. Louis war wirklich bei mir. „Ich werde euch alleine lassen und später noch einige Untersuchungen durchführen. Wenn alles gut läuft, dann kannst du in spätestens einer Woche schon entlassen werden.“ Ein befreiendes Gefühl machte sich in mir breit. Es würde wirklich alles gut werden.
Nur einen kurzen Moment nachdem Dr. Carter den Raum verlassen hatte, flog die Tür erneut schwungvoll auf. Gemma rannte in das Zimmer und zog mich sofort in eine überschwängliche Umarmung. „Harry, ich bin ja so froh.“ Ein breites Lächeln zierte ihr Gesicht und eine einzelne Träne rollte über ihre Wange, als sie mich schließlich wieder losließ. Erst jetzt bemerkte ich meine Mum und meinen Dad, die beide hinter meiner Schwester hereingekommen waren.
Während Mum auf mich zukam und mir sanft aber überglücklich über die Wange strich und mich mit Fragen überhäufte, wie es mir ging und ob ich etwas brauchte, trat Dad nur zögerlich näher. Er warf Louis, der noch immer meine Hand hielt, einen überraschten Blick zu. Die beiden hatten sich ja noch nie gesehen. Wahrscheinlich hatte ihm noch nicht einmal jemand gesagt, dass wir beide zusammen waren. Er war ja nie zuhause gewesen.
Die Spannung zwischen uns beiden war beinahe greifbar und das schien auch den anderen aufzufallen. Mum warf einen besorgten Blick zwischen uns hin und her und meinte dann „Wir gehen kurz in die Cafeteria und holen etwas zu trinken.“ Gemma und Louis verstanden den Wink und erhoben sich ebenfalls. Nach einem ermutigenden Lächeln von meinem Freund, verließen sie zusammen das Krankenhauszimmer und ließen mich mit meinem Vater alleine.
Es war seltsam zwischen uns, da sich eine unangenehme Stille ausbreitete. Mein Dad wusste nicht so recht, was er sagen sollte und ich wollte diesmal nicht derjenige sein, der ein Gespräch begann. Zögerlich trat er näher und ließ sich auf dem Rand meines Bettes nieder. „Wer war dieser Junge gerade?“ fragte er, worauf Wut und Enttäuschung in mir aufwallte. Wie sollte er auch irgendwas über mich wissen, wenn ich ihm sozusagen egal war.
„Da siehst du mal, wie wenig du über mich weißt. Du bist so wenig für mich da, dass du noch nicht einmal mitbekommen hast, dass ich einen Freund habe. Ich liebe Louis, aber du interessierst dich nicht dafür, was in meinem Leben passiert. Immer geht es bei dir nur um die Arbeit.“ fuhr ich meinen Vater an. Es war mir egal, ob es ihn vielleicht verletzte mit dem was ich sagte, denn er hatte mich oft genug verletzt mit seiner Abwesenheit.
„Es tut mir leid Harry, wirklich. Ich habe erkannt, dass die Familie wichtiger ist als die Arbeit.“ entschuldigte sich mein Vater, doch ich schnaubte nur. „Das ist dir ja früh aufgefallen. Dazu musste ich erst mal fast sterben.“ Er wirkte geknickt, aber auch entschlossen. „Ich werde es wieder gut machen. Ich werde keine Überstunden mehr machen und ich gebe einige Aufträge ab. Ich möchte mehr für dich und Gemma da sein und auch wieder mehr Zeit für deine Mum haben. Ich verspreche es dir Harry, ab jetzt bin ich wirklich für dich da.“
Ich rang mit mir selbst. Sollte ich meinem Vater wirklich einfach so verzeihen? Was, wenn er sein Versprechen doch nicht hielt, dann würde ich nur wieder enttäuscht werden. „Ich würde mich auch sehr freuen, deinen Freund kennenzulernen.“ fügte er noch hinzu, was mich dazu veranlasste, mir einen Ruck zu geben. „Okay, das wäre schön.“ antwortete ich leise, in der Hoffnung, dass sich nicht nur meine Krankheit, sondern auch die Beziehung zu meinem Vater zum Positiven wenden würde.
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