39.Kapitel
In den nächsten Tagen kommt Louis aus dem Strahlen überhaupt nicht mehr raus.
Seine Mum und seinen kleinen Bruder kennenzulernen, hat ihm einen Glücksschub verpasst, der ihm deutlich anzusehen ist. Vielleicht sehe nur ich das, aber er strahlt auf jeden Fall und zum ersten Mal sieht er komplett aus.
In meinem Kopf spukt neben der Zufriedenheit über Louis' Zustand allerdings auch noch die Frage über meine Zukunft herum und das beschäftigt mich enorm.
Auch meinem Psychologen fällt auf, dass ich nachdenklich bin, denn als wir wieder bei einer Sitzung sind und er meine Aufzeichnungen der letzten Abende durchblättert, seufzt er: „Was geht Ihnen im Kopf herum?" Ich weiß genau, worauf er hinaus will und zucke die Schultern. „Ich hab viel über meine Zukunft nach der Reha nachgedacht und ich weiß nicht wirklich, wohin mein Weg führen soll."
Dr Tennant nickt verstehend und schiebt sich die Brille ein wenig weiter auf die Nase, dann sagt er: „Sie fangen nach dem Aufenthalt hier ein neues Leben an. Natürlich ist das etwas beängstigend, immerhin sind Sie nicht mehr der Mann, der sie vorher waren. Aber Sie werden nie mehr derselbe sein und deswegen müssen Sie nach vorne sehen. Was würden Sie denn gerne später machen?"
„Ich will einen Beruf, der legal ist und bei dem ich nicht wieder etwas Kriminelles machen muss. Aber ich glaube nicht, dass mich jemand anstellt – mit meinem Lebenslauf will mich keiner haben. Louis hat vorgeschlagen, dass ich mich bei seinem Onkel anstellen lasse, aber..."
„...das wollen Sie nicht", beendet er meinen Satz. „Ja, ich will nicht, dass er denkt, ich würde nur auf ihn zukommen, weil er der Onkel meines Freundes ist. Und womöglich stellt er mich dann nur ein, weil er glaubt, es tun zu müssen."
Dr Tennant nickt langsam und verzieht nachdenklich das Gesicht. Langsam atmet er aus und sagt dann: „Hat Mr Tomlinson nicht ein sehr großes Unternehmen?" Ich nicke, frage mich allerdings, wieso er das fragt. Dr Tennant lehnt sich zurück und legt die Hände zusammen, dann sagt er langsam, als würde er nachdenken: „Nun, ich bin mir sicher, dass Mr Tomlinson als Chef eines Verlagshauses nicht persönlich dafür zuständig ist, Leute einzustellen. Ja, ich glaube nicht mal, dass er die Bewerbungen überhaupt zu sehen bekommt. Wieso versuchen Sie es also nicht einfach? Wenn man Sie einstellt, dann wird das aufgrund Ihrer Bewerbung sein und nicht weil Sie der Partner des zukünftigen Bosses sind."
Das klingt gar nicht so dumm, was er da sagt und ich nicke langsam: „Sie denken also, ich sollte mich einfach bewerben, ohne Louis und Mr Tomlinson etwas zu sagen?"
„Wenn eine Stelle frei ist, die Ihnen zusagt, sehe ich da kein Problem." Dr Tennant grinst mich an und ich sehe, dass er es ernst meint.
Ich sollte mich bewerben. Aber vielleicht doch nicht bei Mr Tomlinsons Firma. Irgendwie kommt mir das jetzt doch nicht mehr so toll vor. Womöglich denkt er dann, ich kriege ohne ihn gar nichts mehr hin.
Noch nie habe ich mich beworben. Das letzte Mal war das glaube ich in der Schulzeit. Keine Ahnung, wo ich dabei anfangen soll.
Und aus diesem Grund stehe ich am späten Nachmittag zum ersten Mal vor dem Büro einer Sozialarbeiterin, Mrs Yung. Bisher wusste ich nicht, dass es hier überhaupt eine gibt, doch Dr Tennant hatte mich zu ihr geschickt und jetzt stehe ich ein wenig nervös vor der geschlossenen Tür und warte darauf, dass man mir öffnet.
„Hallo, kommen Sie rein", sagt sie freundlich, nachdem sie mich hereingelassen hat und weißt auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Was kann ich für Sie tun?", fragt sie mich und setzt sich ebenfalls. „Ich möchte mich bewerben", fange ich ein wenig schüchtern an und sie nickt verstehend. „Haben Sie denn eine Stelle im Auge, auf die sie sich bewerben wollen?", erkundigt sie sich und ich zucke mit den Schultern: „Ich weiß nicht genau, ich würde einfach mal sehen, was so auf dem Markt ist." Sie nickt und sagt: „Haben Sie denn einen Bereich, in dem Sie sich selbst als besonders erfahren einschätzen?"
„Naja, ich hab in einem Antiquariat gearbeitet, das gestohlene Bilder verkauft hat. Kann man das als Arbeitserfahrung zählen?" Sie sieht mich kurz an und scheint nicht sicher zu sein, ob ich sie veräppeln will, doch sie fragt nicht nach. Stattdessen dreht sie den Bildschirm ihres Computers so hin, dass ich ebenfalls draufschauen kann und gibt eine Webadresse ein. „So, dann wollen wir mal sehen. Also ausgeschrieben ist hier einiges und wir können ja die einzelnen Ausschreibungen mal durchsehen.Vielleicht ist da ja etwas dabei, wo Sie sich bewerben können."
Das kling gut und wer weiß, vielleicht habe ich ja bald meinen ersten, legalen Job.
Meine positive Stimmung wird jedoch schnell gedrückt, als ich darüber nachdenke, dass ich ja im Grunde nichts nachzuweisen habe, womit ich überhaupt bei einem potentiellen Arbeitgeber punkten könnte.
Schulabschluss – ja, aber keinen sonderlich guten.
Ausbildung – keine.
Berufserfahrung – ja, bei Einbrüchen und Undercover.
Besondere Kenntnisse – Gebrauch von Waffen, Beschaffung von gefälschten Pässen.
„Wenn Sie möchten, dann helfe ich Ihnen bei der Bewerbung. Haben Sie jemals eine geschrieben?", fragt sie mich und ich schüttele den Kopf. „Das ist kein Problem. Also zuerst fangen wir mit der äußeren Form an. Hier gehört natürlich die Anschrift hinein, das Datum, die Betreffzeile und ein persönliches Anschreiben an die Firma. Dort können Sie schon mal Ihre Vorzüge deutlich machen", erklärt sie mir und öffnet ein neues Dokument.
„Ähm, ich habe gar keine Adresse, die ich angeben kann", gebe ich leise zu bedenken und sehe auf die Stelle des Briefes, wo meine Anschrift stehen sollte. „Nun, das sollte kein Problem sein, wir geben erst mal die Adresse der Klinik an", sagt sie und tippt diese ganz oben im Dokument ein.
Mrs Yung nimmt sich sehr viel Zeit für mich und ich verlasse nach zwei Stunden das Büro. Sie hat mir einige Unterlagen mitgegeben, die ich mir durchlesen soll, um mich über Förderungen zu informieren, die ich als Arbeitsloser und Invalide beantragen kann. Vielleicht habe ich ja die Chance und Anspruch auf etwas Geld.
Zusätzlich zu den Unterlagen habe ich die Bewerbungen in Briefumschlägen dabei. Fünf haben wir geschrieben und alle ordentlich in Mappen abgeheftet. Zu behaupten, ich wäre stolz, ist untertrieben; ich komme aus dem Strahlen fast nicht mehr raus. Es fühlt sich an, als hätte ich ein Kind auf die Welt gebracht und ich kann nicht anders, als die Mappen immer wieder anzulächeln. Das ist meine erste Chance auf ein neues Leben und vielleicht geht der Plan ja wirklich auf und ich bekomme eine Einladung für ein Vorstellungsgespräch.
Die Klinik hat einen Postkasten am Haupttor und ich werfe die Umschläge dort hinein. Als alles mit einem dumpfen Geräusch auf der bereits eingeworfenen Post landet, bin ich richtig nervös und wünsche meinen Bewerbungen viel Glück.
Als ob das etwas bringen würde, aber es ist egal, ich freue mich, dass ich einen ersten Schritt gewagt habe.
Wenn ich einen Job bekäme, würde ich keine finanzielle Unterstützung brauchen und ich bin ehrlich: ich bin zu stolz, um Geld vom Staat anzunehmen. Mir fällt es ja schon bei Mr Tomlinson enorm schwer.
Kurz vor dem Abendessen kommt Louis in mein Zimmer gehüpft und umarmt mich stürmisch und ich sehe ihn irritiert an. „Was ist passiert?", frage ich und er strahlt: „Ich bin grade so glücklich darüber, wie alles läuft."
„Das ist schön." Er nickt und zieht mich in einen Kuss. „Danke, dass du meine Mum hergebracht hast, das war das schönste Geschenk, was du mir hättest machen können." Louis drückt mich fest an sich und seufzt einmal ausgiebig. Kurz überlege ich, ob ich ihm von meinen Bewerbungen erzählen soll, entscheide mich aber dagegen. Ich will nicht, dass er enttäuscht ist, wenn es nicht klappen sollte, deswegen will ich ihm erst sagen, was ich gemacht habe, wenn ich wirklich eine Zusage habe. „Wie war dein Tag bis jetzt?", fragt mein Freund, drückt mich aufs Sofa und setzt sich auf meinen Schoß. Eine Hand lege ich auf seinen Oberschenkel und streiche über den rauen Stoff seiner Jeans, während ich von meiner heutigen Physiotherapiestunde erzähle. Obwohl wir uns anfangs immer noch jedes Detail berichtet haben, halten wir uns mittlerweile ein wenig kürzer, denn schließlich ist die Therapie auch irgendwann vorbei und am Abend möchte ich die Zeit mit Louis genießen und nicht wieder jedes noch so kleine Detail des Tages durchsprechen müssen. Deswegen spare ich die Stunde bei Dr Tennant aus, denn durch sie hätte ich dann auch von der Bewerbung erzählen müssen.
„Wollen wir heute Abend nach dem Essen nochmal ein bisschen rausgehen? Meine Mum kommt vorbei", schlägt Louis vor und ich mache große Augen. Emilia kommt schon wieder? Sie und Louis scheinen alles aufholen zu wollen, was sie in den vergangenen Jahren verpasst haben und fast bin ich ein bisschen neidisch darauf, dass Louis sich mit ihr verabredet hat, ohne mir vorher Bescheid zu sagen.
Allerdings wäre ich ein ziemlich blöder Freund, wenn ich ihm dieses Glück nicht gönnen würde und deswegen verscheuche ich diesen dunklen Gedanken schnell wieder aus meinem Kopf, lächele und sage: „Klar, sehr gerne."
Das Abendessen findet heute, weil es draußen so wunderschön ist, auf der Terrasse statt und wir sitzen unter freiem Himmel. Es ist ein lauer Abend und es riecht nach den Blüten der umliegenden Büsche, deren schwerer Duft sich wie ein Schleier um uns legt. Das scheint alle milde zu stimmen, denn egal in welches Gesicht ich blicke, jeder sieht entspannt aus. Vielleicht sollten wir häufiger im Freien essen.
Wann Emilia wohl kommt?
Nachdenklich auf meinem Brot herumkauend, werfe ich einen Blick zum Tor. Ein Auto hält, das Tor wird geöffnet und der Wagen zuckelt langsam auf den Vorplatz. Von der Terrasse aus kann man ihn ganz gut einsehen und ich folge dem Gefährt mit den Augen, bis es anhält.
Ein Mann steigt aus – es ist der Cornel Doppelgänger und sofort wird mir heiß und kalt. Wieso muss ich den Mann wieder sehen? Wie viele Taxifahrer gibt es bitte in London und wieso muss er ausgerechnet hierher fahren. Die Chance, dass er hier wieder auftauchen könnte, ging doch gegen Null.
Ich weiß genau, dass er nicht echt ist und jetzt von Weitem sieht er ihm auch gar nicht mehr so ähnlich. Trotzdem wird mir ganz anders und ich lege schnell mein Essen zurück auf den Teller, damit ich es nicht fallen lasse. Meine Hände zittern und obwohl ich wegsehen will, kann ich den Blick nicht von dem Mann abwenden, der jetzt Emilia die Tür öffnet, damit sie aussteigen kann. Sie bemerkt meinen Blick, hebt die Hand und winkt. Ein Lächeln kann ich mir gerade noch so abringen, dann stehe ich schnell auf. Wenn der Mann Emilia noch hierher bringt, kann ich für nichts garantieren.
„Louis...kommst du mal eben mit rein?", frage ich und nehme seine Hand. „Was? Wieso denn?"
„Frag nicht, komm einfach", sage ich recht harsch zu ihm und er folgt mir irritiert ins Haus.
Kaum sind wir drinnen, zieht Louis mich am Arm zurück, damit ich nicht so schnell gehe. „Was ist los? Du siehst vollkommen verstört aus?", fragt er und sieht mich ängstlich an. „Deine Mum kommt", keuche ich und beiße mir auf die Lippen. „Aber das ist doch schön, wieso schaust du dann so?"
„Der Mann, der aussieht, wie Cornel, bringt sie her...ich konnte einfach nicht sitzen bleiben. Wenn er zu uns gekommen wäre, hättest du dich wieder so erschrocken und ich fühle mich in seiner Nähe auch nicht sonderlich wohl." Louis reißt die Augen auf, dreht sich um und blickt unsicher durch das Fenster nach draußen, dann keucht er auf und ich bin sicher, dass er den Mann gesehen hat. „Ich will nicht wieder so eine Attacke bekommen, wie im Auto", sagt er schnell und verbirgt sein Gesicht an meiner Brust. Auch ich suche Schutz bei meinem Freund, schließe ihn in die Arme und kneife die Augen zu, bis ich sicher sein kann, dass „Cornel" wieder verschwunden ist. Er kann Emilia ja höchstens bis zur Rezeption gebracht haben.
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Ihr lieben Marshmallows ;-)
bald ist Weihnachten und ich habe nach der Auswertung eurer Kommis beschlossen, meinen Updaterhythmus so beizubehalten, wie er ist. Also kommt, wie gewohnt am Dienstag ein Kapitel hier.
Liebe Grüße
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