35.Kapitel

Wir dürfen endlich gemeinsam ein Zimmer nutzen und es fühlt sich unglaublich gut an, bis spät in den Abend zusammen sein zu können. Daran gewöhnt habe ich mich noch lange nicht, deswegen freut es mich immer noch enorm.

Es ist bereits 23 Uhr, als wir auf dem Sofa liegen und Louis es sich in meinem Schoß bequem gemacht hat. Nach einigem Kuscheln hat er sich aufgesetzt und kniet mir jetzt gegenüber. Meine Prothese habe ich bereits ausgezogen und er massiert den Stumpf mit einem wohlriechenden Öl, das mir der Physiotherapeut gegeben hat. Die leichte Schwellung, die sich im Laufe des Tages immer im Bein bildet, spannt und fühlt sich unangenehm an.

„Ist es gut so für dich?", fragt Louis und sieht mich unsicher an. „Ja, es ist gut so. Vielleicht solltest du dich zum Physiotherapeuten ausbilden lassen, das machst du wirklich gut." Verlegen senkt Louis den Blick und betrachtet seine Hände, die gefühlvoll über die roten Narben an meinem Bein streichen. „Ich hab eigentlich keine Ahnung, was ich da genau mache", gibt er leise zu, lächelt aber auch ein wenig stolz. „Du machst es wirklich gut, ich fühle mich echt wohl bei dir. Also wenn du mein Physiotherapeut wärst, dann würde ich sogar Extrastunden bei dir buchen."

„Harry, sag doch sowas nicht, das macht mich ganz verlegen", nuschelt Louis und beißt sich auf die Lippen. „Wieso? Es ist doch die Wahrheit. Da kann ich dir das doch sagen."

„Ja, das stimmt, aber es fühlt sich trotzdem irgendwie komisch an." Wie es aussieht, kann Louis verdammt schlecht damit umgehen, ein Kompliment zu bekommen und ich beuge mich rasch vor, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. „Du bist wunderbar, mein Schatz."

Die Massage tut gut und ich gehe wenig später vollkommen schmerzfrei ins Bett.

Mein Freund hat sich in Windeseile die Zähne geputzt und ist aus dem Bad zurück ins Zimmer gehuscht. Noch immer hält er sich nicht gerne lang dort auf, aber immerhin traut er sich mittlerweile das Zähneputzen zu, wenn ich ihm vorher den Wasserbecher fülle, damit er den Hahn nicht einschalten muss.

So liegt er schon im Bett, als ich aus dem Bad gehüpft komme und das Licht ausschalte. In der Dunkelheit höre ich das Rascheln der Laken und taste mich zum Bett vor.

Wie schön es ist, sich neben jemanden legen zu können. Sofort schließe ich den schmalen Jungen in den Arm, der sich an mich schmiegt, als hätten wir uns Wochen nicht gesehen. „Ich bin total müde", seufzt er und gähnt. „Na du hast dich ja heute auch ausgiebig beim Fußball vergnügt. Hat es denn Spaß gemacht?", frage ich sanft und spiele mit den Fingern in seinen Haaren. Weil die Vorhänge nicht zugezogen sind, kann ich sein Gesicht ganz gut erkennen und er lächelt. „Ja, da hast du recht. Es hat aber auch wirklich großen Spaß gemacht und Tyler ist wirklich nett, auch wenn es ihm sicherlich nicht gut geht. Seine Narben sehen schlimm aus, oder?", fragt er und seufzt. „Ja, aber ich bin sicher, dass ihm hier geholfen werden kann. Uns geht es ja auch schon besser. Apropos, deiner Mum geht es auch besser, seit ich ihr gesagt habe, dass du sie gerne kennenlernen willst."

„Hast du mit ihr gesprochen?", fragt er und blinzelt mich müde an. „Ja, am Telefon. Sie will auf jeden Fall sehr gerne herkommen und dich sehen. Ich habe ihr aber auch gesagt, dass du sie nicht in einer krampfigen Situation kennenlernen willst."

„Das ist richtig", seufzt er und kuschelt sich wieder in meinen Arm. „Wie ist es mit deiner Mum gelaufen? Ich hab sie ja nur kurz gesehen. Wieso war sie so geschockt, als sie dich gesehen hat?"

Eigentlich wollte ich jetzt nicht über meine Mum sprechen, doch ich erzähle Louis natürlich, dass ich vollkommen vergessen hatte, mich bei ihr zu melden. „Du hast ihr nicht gesagt, was alles passiert ist?", fragt er und klingt ungläubig. „Louis, wir haben und hatten nie das beste Verhältnis zueinander. Und ehrlich gesagt hatte ich in den letzten Wochen auch wirklich mehr mit mir selbst und dir zu tun...da habe ich es schlicht und einfach vergessen."

„Deine arme Mum", seufzt Louis. „Naja, sie hat mich damals auf die Straße gesetzt...", versuche ich mich rauszureden, aber im Grunde weiß ich, dass sie das nur getan hat, um mir einen Tritt in den Hintern zu verpassen. Dass ich dann bei der Gelegenheit nicht die Kurve kriege, sondern genau das Gegenteil von dem tue, was sie damals erwartet hat, war nicht abzusehen und eigentlich kann und darf ich sie dafür auch nicht verantwortlich machen. Trotzdem ist unser Verhältnis seitdem enorm abgekühlt, ohne dass es dafür je einen triftigen Grund gegeben hätte. Es hat sich einfach so entwickelt.

Schade eigentlich.

„Ihr müsst euch einfach mal annähern." Einfach. Tja, wenn das nur so einfach wäre, wie gesagt. „Louis, ich glaube, das ist nicht so leicht." Seufzend nehme ich ihn in den Arm. „Wieso? Ich muss meine Mum kennenlernen und du deine besser. Wir können das gemeinsam angehen."

Ja, das ist ein guter Einfall und ich küsse Louis erneut. Wie schön, dass ich ihn habe und er hinter mir steht. „Als erstes möchte ich gerne eine erste ruhige Nacht mit dir angehen", sage ich lächelnd und lege mich etwas bequemer hin. Morgen können wir darüber nochmal sprechen und uns eine Lösung überlegen, aber ich bin heute einfach zu müde.

Auch Louis ist vollkommen durch vom heutigen Tag und schläft sogar noch vor mir ein. Das gibt mir die Möglichkeit ihn eine Weile beobachten zu können und ich genieße es, seine entspannten Gesichtszüge zu sehen. Langsam hebt und senkt sich sein Brustkorb und als ich vorsichtig nach seiner Hand greife, schließen sich seine Finger automatisch, um mich festzuhalten. Mir wird ganz warm ums Herz bei dieser Geste des Vertrauens und es bestätigt nochmals, dass es richtig war, sich durchzusetzen, was die Zimmerverteilung anging.

In den nächsten Tagen stellen die Ärzte bei Louis eine enorme Verbesserung fest und wundern sich, wie es sein kann, dass er plötzlich auf die Therapien so gut reagiert.

Natürlich liegt das alles daran, dass wir gemeinsam in einem Bett schlafen dürfen und daher die Nachtruhe endlich dafür nutzen können, wofür sie gedacht ist.

Um uns zu erholen.

Und auch ich spüre, dass es mir wesentlich besser geht, seit Louis bei mir schlafen darf. Jeden Morgen wache ich erholt auf und auch, wenn ich ab und zu schlechte Träume habe, träume ich sie kaum zu Ende, weil Louis mich meist aufweckt, tröstend in den Arm nimmt und mir die Sicherheit gibt, die ich brauche, um wieder einschlafen zu können.

„Sie sehen gut aus", stellt Dr Tennant fest, als ich an einem schönen Donnerstagmittag bei ihm im Zimmer sitze und meine heutige Sitzung fast zu Ende ist. „Danke, es geht mir auch wesentlich besser. Ich schlafe gut, seit Louis und ich ins selbe Zimmer dürfen." Er nickt verständnisvoll und lächelt: „Es war gut von den Ärzten, Sie zusammen zu lassen. Sie wirken insgesamt wesentlich ruhiger und ausgeglichener."

Ja, das bin ich allerdings. Und meine Erfolgskurve steigt weiter, was mich unglaublich glücklich macht. Dass ich eine Prothese trage, vergesse ich mittlerweile häufig und kann nach und nach auch die Treppen hinter mich bringen, ohne mich am Geländer festhalten zu müssen.

Auch Louis macht Fortschritte und so kommt es, dass er an einem Abend kurz nachdem wir nach dem Essen noch einen Spaziergang durch den Garten gemacht haben, fröstelnd im Zimmer steht. Obwohl es ja immer noch Sommer ist, war der Tag heute ausnahmsweise kühl und wir waren ohne Jacken draußen. Kein Wunder also, dass uns kalt ist.

„Ich würde gerne ein heißes Bad nehmen, um mich wieder aufzuwärmen", sagt er zu mir und ich runzele dir Stirn, weil ich glaube, mich verhört zu haben. „Bist du da sicher?" Ein schnelles Nicken von Louis. „Ja, ich glaube ich will es jetzt mal versuchen. Immerhin sind wir jetzt schon über drei Wochen hier und davor lagst du genauso lange im Koma. Ich habe also seit sechs Wochen nur Katzenwäsche mit einem Waschlappen gemacht."

Sechs Wochen? Es ist schon so lange her? Wohin ist die Zeit nur verschwunden?

„Was ist? Wieso guckst du so?", fragt Louis unsicher und legt mir eine Hand an die Wange. „Mir ist nur gerade aufgefallen, wie lange das alles schon her ist. Mit 'das alles' meine ich natürlich die Schießerei in Glenapp Castle. Sechs Wochen sollen seitdem schon vergangen sein? Was wohl aus Forster geworden ist? Ob der seinen Prozess schon hatte und verknackt wurde? Ich hoffe es doch.

Vielleicht höre ich irgendwann ja mal davon. In den Zeitungen habe ich bisher nichts davon gelesen, muss aber zugeben, dass ich auch nicht gezielt danach gesucht habe. Immerhin weiß ich nicht, wie ich reagiere, sollte ich ein Foto von Forster zu sehen bekommen und ich will kein Risiko eingehen und wieder einen Rückschlag erleiden, nur weil ich ein Foto von ihm gesehen habe.

Was wird eigentlich aus mir, wenn ich hier rauskomme? Auch auf diese Frage, die mir auch meine Mum gestellt hat, weiß ich bisher keine Antwort. Mein Ziel zu Beginn der Mission war ja, einen normalen Beruf zu ergreifen, wenn ich Forster hinter Gitter gebracht habe. Ich wollte für Louis endlich legal arbeiten. Und das will ich immer noch. Allerdings hatte ich bisher keinen Gedanken an meine Zukunft verschwendet, schließlich war ich mehr mit meinem Gesundheitszustand beschäftigt.

Aber jetzt stellt sich die Frage: Was kommt danach? Ich habe nie einen vernünftigen Job gelernt. Vielleicht sollte ich eine Lehre anfangen. Aber wer würde mich schon nehmen? Ich habe Vorstrafen und bin jetzt auch nicht mehr körperlich voll leistungsfähig. Meine Chancen stehen schlecht, oder?

Bevor ich mir noch weiter ausmalen kann, was passieren würde, wenn ich wüsste, was aus Forster geworden ist, schiebt sich eine warme Hand in meine und Louis haucht mir einen Kuss auf die Finger. In seinem Blick liegt fragende Erwartung und ich muss lächeln, weil er in dem Moment einfach so wunderschön aussieht. „Wollen wir es versuchen?", frage ich und streiche ihm über die Wange. Er schluckt, nickt dann aber tapfer und sieht zur Badezimmertür hin.

.-.-.-.

Ein neuer Schritt, den Louis wagen möchte. Er will in die Badewanne - sehr mutig von ihm.

Liebe Grüße

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