28.Kapitel
Es ist der Chefarzt der Klinik. Er kommt auf mich zu und ich setze mich schnell wieder hin, um nicht vollkommen verloren auszusehen, wenn ich da vergraben in meiner Couch liege.
„Mr Styles, gut, dass ich Sie hier antreffe. Wir haben einen Termin für Sie und Mr Tomlinson im Schlaflabor und ich möchte Sie bitten, eine kleine Tasche zu packen. Nach dem Abendessen bringen wir Sie dorthin, wo sie die Nacht verbringen werden."
„Gut", sage ich vorsichtig und stehe vom Sofa auf. „Wie lange bleiben wir dort?"
„Zwei Nächte, vielleicht drei und tagsüber kommen Sie hierher zurück, um Ihre Reha weiter zu führen."
Zwei Nächte, das bedeutet, dass ich im Prinzip nur einen Schlafanzug und Waschzeug einpacken muss. Wenn wir tagsüber wieder hier sind, dann brauche ich nicht sonderlich viel in dieses Schlaflabor mitzunehmen.
Mit einer leichten Jogginghose, einem Shirt, frischen Boxershorts und der Zahnbürste im Gepäck, stehe ich nach dem Abendessen zusammen mit Louis im Eingangsbereich und warte auf das Auto, das uns abholen soll. „Ich hab vorhin mal gegoogelt, was da so auf uns zukommt", sagt Louis und sieht zu mir hin. Interessiert hebe ich die Augenbrauen und erwidere seinen Blick. „Und was konntest du rausfinden?"
„Man bekommt so Elektroden an den Körper geklebt, die dann die ganze Nacht lang die Hirnströme und Schlafphasen messen", sagt Louis und will mir gerade weiter erzählen, was er noch alles über Schlaflabore gelesen hat, da kommt eine Mitarbeiterin der Klinik und sagt uns, dass der Wagen da ist.
Ein bisschen nervös steigen wir ins Auto, setzen uns nebeneinander auf die Rückbank und schnallen uns an. Der Fahrer des Wagens grüßt uns freundlich und teilt uns mit, dass wir bis zum Schlaflabor sicherlich eine Stunde unterwegs sein werden, da wir mitten durch die Londoner Innenstadt und auch noch auf die andere Seite der Themse müssen. Zwar ist es schon Abend, allerdings ist der Verkehr in der City um diese Uhrzeit noch lange nicht vorbei und ich bin sicher, wir werden an der ein oder anderen Ampel eine Weile stehen.
„Ist das nicht komisch, dass wir jetzt das erste Mal das Klinikgelände verlassen?", fragt Louis leise und sieht aus dem Fenster, als wir durch das Tor zum Gelände fahren. „Ja, stimmt. Ich komme mir vor, als würde ich aus dem Gefängnis entlassen werden", gebe ich zu und sehe durch den Rückspiegel auf das Gebäude, das schon fast hinter der hohen Mauer verschwunden und kaum noch zu sehen ist.
Ich bin gespannt, wie es im Schlaflabor sein wird und hoffe, dass sich unsere Aussage, Louis würde bei mir deutlich besser schlafen können, bewahrheitet. Dann könnte man uns nicht mehr verbieten in einem Zimmer zu wohnen und ich bin sicher, dass wir uns beide dadurch wesentlich wohler fühlen und vielleicht sogar schneller genesen könnten.
Wir kommen recht gut in die Innenstadt und es ist schön, wieder einige Ecken Londons zu sehen, die ich kenne. Obwohl sich die Klinik ebenfalls in der Stadt befindet, fühlt es sich an, als sei man ganz woanders. Das Umfeld der Rehaklinik ist ländlich, es gibt schmale Straßen, kleine Reihenhäuser und gepflegte Gärten. Würde man es nicht wissen, könnte man kaum glauben, dass man sich in der Hauptstadt Englands befindet.
Hier in Central London ist es voll, laut, der Verkehr ist zäh, die Straßenecken schmuddelig und die Menschen in Eile. Trotzdem schlingt mich London gleich wieder in seine Arme und fesselt meine Blicke und ich sehe an den vielen alten Häusern hinauf, die eng beieinander stehen und deren Nachbarschaft immer wieder von modernen Gebäuden unterbrochen wird.
„Ich freue mich, wenn wir wieder nach Hause können", sagt Louis leise, der ebenfalls aus dem Fenster schaut und seufzt. „Nach Hause", wiederhole ich trocken und denke an meine kleine Wohnung. Ich glaube, ich muss umziehen, sobald ich wieder ein normales Leben habe. In diese kleine Wohnung kann ich nicht mehr zurück, weil viel zu viele Erinnerungen dranhängen. Wer weiß, ob der Vermieter mir nicht schon gekündigt hat. Immerhin habe ich schon eine Weile keine Miete mehr überwiesen und ich vermute, dass mein Vermieter das nicht lange mitmacht. Vielleicht liegt schon längst ein Kündigungsschreiben im Briefkasten, der langsam aber sicher überquellen muss. „Ich glaube, ich habe kein Zuhause mehr."
„Wie meinst du das?", fragt Louis, wendet sich vom Fenster ab und sieht mich erschrocken an. „Naja, ich glaube einfach, dass ich mir etwas Neues suchen muss, wenn ich wieder zurückkomme..." Ohne weiterzureden, sehe ich Louis in die Augen und versuche ihm klarzumachen, was ich mittlerweile alles mit der Wohnung verbinde, ich aber Angst habe, mir auch nichts Neues leisten zu können. Jede Wohnung wird, wenn ein neuer Mieter einzieht, mindestens 15% teurer. Das wird in meinem Budget nicht drin sein.
„Du kannst bei uns einziehen...", schlägt Louis vor und klingt dabei ganz unsicher. Er scheint nicht wirklich von seiner Idee überzeugt.
Bei dem Vorschlag wird mir ganz warm ums Herz und ich freue mich, dass er mir das anbietet. Allerdings bin ich mittlerweile zu alt, um nur in einem einzelnen Zimmer zu leben und darauf wird es vermutlich hinauslaufen, wenn ich das Angebot annehmen würde. „Willst du nicht?", fragt Louis unsicher, weil ich nicht sofort Freudensprünge gemacht habe. „Doch, ich würde gerne, aber ich brauche meinen Platz und ich will nicht bei deinem Onkel leben, wie in einem Hotel...verstehst du? Es ist toll, dass du mir das sofort anbietest aber ich brauche Abstand, auch wenn ich deinen Onkel mag, würde ich gerne auch mal eine Tür hinter mir schließen, die nicht nur die Schlafzimmertür ist. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht mit dir in einem Zimmer schlafen möchte...also natürlich nur, falls du das gemeint hast." Ich muss schnell klarstellen, dass ich nicht sofort davon ausgehe, dass Louis und ich dann zusammenleben, wie ein Paar. Natürlich wünsche ich mir das, aber ich weiß auch, dass ich Louis nicht drängen will.
„Also ich würde mich freuen", gibt Louis zu und lächelt kurz schüchtern. Schnell greife ich nach seiner Hand und drücke sie: „Ich mich auch, Louis."
Also könnten wir zusammenziehen.
Meine Güte, wer hätte das vor einigen Wochen gedacht, dass wir darüber mal sprechen. Bevor ich mir allerdings die Frage stellen kann, ob das von Louis vielleicht nur ein Angebot ist, weil er weiß, dass ich vielleicht erst mal keine andere Möglichkeit habe, fahren wir vor einem Hochhaus vor, das hauptsächlich aus Glas und Stahl besteht. Direkt gegenüber befindet sich eine Augenklinik, da bin ich ja genau richtig.
„So, wir sind da", informiert uns der Fahrer, fährt links ran und wir steigen aus. „Müssen wir die Fahrt bezahlen?", frage ich, doch er schüttelt den Kopf: „Nein, das gehört zum Shuttleservice der Klinik."
Also bezahlen wir nichts, schultern unsere Taschen und gehen langsam im Erdgeschoss in eine große Eingangshalle. Dort gibt es eine Rezeption und die Dame schickt uns in die fünfte Etage, wo sich das Schlaflabor befinden soll.
„Sieht eher aus, wie ein Bürogebäude, man würde gar nicht denken, dass sich hier drin ein Schlaflabor und einige Kliniken befinden", stellt Louis fest und liest sich die vielen Namen durch, die im Aufzug auf einer Aluplatte stehen.
Schlaflabor, Hirnforschung, Kieferorthopädie, Schlaganfallbehandlung...und die Liste geht scheinbar unendlich weiter.
Schließlich kommen wir in Etage Fünf an und werden von einem wunderbaren Blick auf Londons Dächer empfangen, denn die Lifttüren öffnen sich zu einem großen Panoramafenster hin. Weil es schon Abend ist, beschert uns der Ausblick einen tollen Sonnenuntergang.
Einen Moment vergesse ich, dass wir hier sind, weil Louis schlecht schlafen kann und trete vollkommen verzaubert dichter an die Scheibe, sodass sich der Abgrund zur Straße unter mir auftut. Das weiche Licht macht London romantisch und es wirkt unendlich alt.
Niemals könnte man sich vorstellen, dass hier schlimme Dinge passieren und sich hinter einem der Fenster ein Mensch verbergen könnte, der vielleicht sogar noch schlimmer ist, als Forster und Cornel. So wirkt alles friedlich und schön und ich frage mich, wieso es nicht immer so sein kann und ob das Erlebte in mir ein Art Grundmisstrauen geweckt hat, das jetzt immer da sein wird. Wenn ich jetzt nicht einmal mehr die Schönheit eines Sonnenuntergangs genießen kann, ohne mich zu fragen, welche dunklen Gestalten sich hinter den warmen Strahlen, in den engen Gassen verbergen...
„London ist so schön", seufzt Louis und steht lächelnd neben mir. „Ja, das ist es", pflichte ich ihm bei. „Ich frage mich gerade, wie etwas so Schönes, solche Schattenseiten haben kann", überlegt er und fährt vor: „ich meine, jetzt sieht alles toll aus, aber vielleicht steht irgendwo gerade ein Lieferwagen in dem vermummte Gestalten sitzen, die nur darauf warten, dass die Sonne vollends untergegangen ist, damit sie den Laden ausrauben können, den sie seit Wochen überwachen."
„Sowas in der Art habe ich auch gerade gedacht", gebe ich zu und sehe Louis von der Seite her an – auch er scheint die Schönheit nicht mehr ganz so unbefangen wahrnehmen zu können. „Gehört das zum Erwachsenwerden dazu? Dass man nicht mehr alles durch eine rosarote Brille sieht und nicht immer nur an das Gute im Menschen glaubt?", will er wissen und legt einen Arm um meine Taille. „Weiß nicht, aber es gehört vermutlich zum Leben dazu", antworte ich und erwidere die Umarmung. „Jede Erfahrung, die wir machen, formt uns und wenn das bedeutet, dass nicht mehr alles so rosig erscheint, dann hat das sicherlich auch seine guten Seiten. Man wird nicht so leicht hinters Licht geführt. Aber es ist schade, dass solche Gedanken dann in einen schönen Moment, wie diesen schleichen und ihn kaputt machen."
Louis seufzt zustimmend und ich streiche ihm über den Rücken. „Wollen wir die dunklen Gedanken hinter uns lassen und versuchen, ein gemeinsames Zimmer durchzusetzen?", frage ich und er nickt: „Ja, los, deswegen sind wir ja hier."
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Das Erlebte hat ihnen beiden wirklich ein bisschen die Naivität genommen. Meint ihr, die kommt zurück oder ist das einfach das, was man als Lebenserfahrung bezeichnet, wie Harry meinte?
Liebe Grüße
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