27.Kapitel
Am liebsten würde ich Emilia sofort am nächsten Morgen anrufen und meine Mum auch gleich, dann habe ich es hinter mir. Nicht, dass ich nicht gerne mit ihr sprechen würde, aber ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht und in den letzten Tagen hatte ich so viel zu tun, dass ich ganz vergessen hatte, dass sie gar nicht weiß, wo ich bin und was passiert ist.
Was bin ich nur für ein unsensibler Sohn, dass ich das vergessen konnte.
Doch bevor ich mich ans Telefon klemmen kann, habe ich noch einiges zu erledigen, denn mein Tagesplan für heute ist wieder ziemlich voll. Spiegel- und Gesprächstherapie, Physio und der Termin bei Dr Tennant stehen auf dem Plan, sodass ich mich nicht noch damit beschäftigen kann, mir zu überlegen, wie ich Emilia am Besten hierher einlade und wie ich meiner Mum möglichst schonend beibringe, was passiert ist.
Im Trainingsraum der Physiotherapie übe ich gemeinsam mit dem ehemaligen Soldaten Paul daran, das Gleichgewicht halten zu können. Auch er hat seine Prothesen bekommen und es noch ein wenig schwerer, als ich – schließlich fehlen ihm beide Beine. Vorsichtig und konzentriert werfen wir uns abwechselnd einen Tennisball zu und versuchen dabei nicht von der weichen Schaumstoffmatte zu rutschen, auf der wir balancieren. Es ist anstrengend, aber wir schlagen uns ganz gut, finde ich, bin allerdings am Ende so KO, dass mich die Therapeutin gleich zur Massage weiterschickt.
Die Klinik bietet einem wirklich alles, denke ich, als ich langsam durch einen schmalen Flur in den vorderen Teil des Gebäudes komme. Hier befinden sich schön hergerichtete Massageräume, die fast schon ein wenig nach Spa-Bereichen aussehen.
Die Masseurin weist mir ein kleines Zimmer zu, in dem ich mich ausziehen und die Prothese ablegen kann. Das dauert zwar eine Weile, weil ich die Handgriffe noch immer nicht raus habe und ziemlich lange an dem Bein ziehen muss, bis ich es losgeworden bin. Wie jedes Mal bin ich überrascht, wie fest die Prothese sitzt. Mit zusammengebissenen Zähnen kriege ich schließlich auch den Silikonschlauch vom Bein und reibe über die Haut, die sich ein wenig seltsam anfühlt, weil sie wieder richtig atmen kann.
„Mr Styles, sind Sie so weit oder brauchen Sie Hilfe?", fragt die Masseurin, ihre Stimme klingt dumpf durch die geschlossene Tür. „Kommen Sie rein", bitte ich und sie folgt meiner Aufforderung. „Es hat nur ein wenig gedauert, bis ich das Bein losgeworden bin", erkläre ich und reiche ihr die Prothese, die sie auf einem Schrank ablegt. „Sie lernen gerade wieder zu gehen?", fragt sie und bedeutet mir, mich auf den Rücken zu legen. „Ja, es wird langsam. Aber es ist schwer, das fehlende Gewicht auszugleichen." Sie nickt verstehend. Sicherlich hatte sie schon Fälle wie meinen, immerhin ist das hier eine Rehabilitationsklinik.
Im Raum ist es angenehm warm, trotzdem legt sie mir ein weiches Handtuch über den Oberkörper, damit ich nicht friere und verteilt dann warmes Massageöl auf meinen Beinen. Es ist traumhaft und sie löst jede noch so kleine Verspannung, die sich gebildet hat. Durch das fehlende Gewicht des Unterschenkels habe ich momentan ein wenig Schlagseite und die Muskeln kommen mit dem Ausgleichen noch nicht so recht klar.
Ihre Hände sind kräftig und die Massage entspannt mich. Ohne wirklich aktiv darüber nachgedacht zu haben, hat sich in meinem Kopf ein Plan gefestigt, wie ich Louis und Emilia zusammenbringen kann und nachdem ich mir das Öl von den Beinen gewaschen habe, sitze ich recht optimistisch wieder auf der Liege und versuche, mein Bein anzuziehen. Das klappt allerdings so gar nicht.
Mehrmals ziehe ich den Silikonschlauch nicht richtig an, sodass es sich schief und verdreht anfühlt und ich dadurch nicht richtig in den Schaft der Prothese hineinkomme. Vielleicht liegt es auch am Öl, aber es scheint sich alles in die falsche Richtung zu bewegen und nachdem ich mehrmals versucht habe, alles von vorne zu starten, gebe ich auf. „Entschuldigung, haben Sie einen Rollstuhl?", erkundige ich mich bei der Masseurin, nachdem ich umständlich mit der Prothese in der Hand einmal quer durch die Massageabteilung gehüpft bin und nun etwas außer Atem am Tresen stehe. „Was ist mit Ihrem Bein?", fragt sie und mustert die Prothese in meiner Hand. Da gehört sie definitiv nicht hin, ich weiß. „Ich kriege sie nicht angezogen, das Öl hat alles ein wenig rutschig gemacht. Ich denke, ich werde das alles gleich mal abduschen."
„Das ist eine gute Idee, Mr Styles. Ich hole Ihnen einen Rollstuhl."
„Ich warte dann so lange hier", sage ich laut und kann sie kichern hören. Natürlich – was soll ich in der Zwischenzeit auch tun? Weghüpfen kann ich schlecht; ich käme nicht mal bis zur Tür, da wäre sie schon zurück.
Zeit zum Duschen habe ich erst nach dem Mittagessen und meiner Stunde bei Dr Tennant. Die heutige Sitzung bei ihm macht mich nachdenklich. Ich sollte in den letzten Tagen eine Art Tagebuch führen und jeden Abend vor dem Schlafengehen drei Worte hineinschreiben, wofür ich an diesem Tag dankbar bin. Auf diese Weise soll ich mir die kleinen Freuden des Alltags bewusst machen und eine neue Perspektive einnehmen. Wir sehen uns meine Einträge der letzten Tage an und Mr Tennant bemerkt, dass ich häufig geschrieben, habe, dass ich dankbar bin, dass wir hier sein können. Das sei gut, sagt er mir, doch ich solle mir nicht jeden Abend vor Augen halten, dass wir uns hier in einer Klinik befinden. So würde ich mich immer wieder selbst daran erinnern, dass wir etwas Schlimmes erlebt haben. Mein Fokus muss auf meine Erfolge in der Therapie gehen.
Nachdenklich rolle ich zurück zu meinem Zimmer, wo ich endlich das Öl abwaschen und dann Emilia anrufen möchte. Sie hat nichts mehr von mir gehört, seitdem sie mir die Briefe für Louis mitgegeben hat und vielleicht hat sie Angst, dass ich sie ihm gar nicht gegeben habe.
Mein Verdacht bestätigt sich, denn sie klingt enorm unsicher am Telefon, nachdem ich mich gemeldet habe. „Hallo Harry, wie geht es dir?", fragt sie leise und ich kann hören, dass sie eine Tür schließt. Vielleicht ist der kleine Titus in der Nähe und sie will nicht, dass er das Gespräch mitbekommt. „Es geht mir ganz gut", antworte ich knapp, denn schließlich ist das ja nicht der Grund, weshalb ich angerufen habe. „Hör zu, ich habe Louis die Briefe gegeben. Er wollte sie nicht allein lesen und bat mich darum, sie vorzulesen. Ich weiß also, was du geschrieben hast." Ich will sie vorwarnen, immerhin weiß ich nicht, was sie davon hält, dass ich den Inhalt der Briefe kenne, doch Emilia ist da ganz ruhig und sagt: „Das ist okay. Wenn Louis wollte, dass du sie liest, dann ist das vollkommen in Ordnung für mich."
„Gut. Er war sehr gerührt von den Briefen und will dich gerne kennenlernen", sage ich und Emilia schnappt nach Luft. Vermutlich habe ich mit dieser Aussage gerade ihren Lebenstraum wahr werden lassen. „Ist das...ist das wahr?", fragt sie und ihre Stimme zittert so sehr, dass ich glaube, sie bricht gleich in Tränen aus. „Ja, er will dich kennenlernen. Er weiß allerdings nicht genau, wie. Er sagte mir, es sei ihm total unangenehm, wenn ihr euch ganz förmlich kennenlernen würdet."
„Ja, mir auch, aber ich wüsste nicht, wie man das einfädeln kann, dass es nicht förmlich ist. Mr Tomlinson sagte mir, dass ihr erst in zwei Wochen zum ersten Mal die Klinik verlassen könnt. Dann würde sich vielleicht eine Möglichkeit ergeben. Was meinst du?"
„Louis wird sicher nicht so lange warten wollen. Er hat jetzt deine Briefe bekommen und weiß Bescheid. Wie ich ihn kenne, will er dich so schnell wie möglich kennenlernen", sage ich, obwohl mir der Gedanke, Emilia und Titus vielleicht ganz unbefangen im Londoner Hyde Park treffen zu können sehr zusagt. Moment mal: einen Park haben wir hier doch auch.
Eine kleine Idee schlägt Funken in meinem Gehirn und ich lege ihn Louis' Mum nahe, die sofort begeistert ist und wir vereinbaren eine Uhrzeit.
Louis wird also seine Mutter treffen und ich hoffe, dass das alles gut läuft. Wann genau das der Fall sein wird, werde ich ihm nicht verraten, damit er unvorbereitet an die ganze Sache herangeht und um mich selbst davon abzuhalten, gleich in sein Zimmer zu gehen, wähle ich erst mal die Nummer meiner Mum. Immerhin steht das Gespräch mit ihr auch noch aus und ich habe mittlerweile ein wirklich schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht gemeldet habe.
Mit jedem Klingeln des Freizeichens wird mein Herzschlag ein wenig schneller und endlich, nachdem es sicher zehnmal geläutet hat, geht sie ran.
„Hallo?"
„Hey Mum, ich bin's."
„Harry! Wieso meldest du dich erst jetzt? Ich warte seit Wochen auf einen Anruf von dir. Ich habe in deiner Londoner Wohnung angerufen, auf deinem Handy warst du nicht zu erreichen...weißt du, was ich mir für Sorgen gemacht habe?", legt sie sofort los und ich weiß genau, dass sie es nicht böse meint, nur gerade enorm erleichtert ist, dass ich mich melde.
„Mum, es tut mir leid, aber hier ist so viel passiert...ich konnte einfach nicht."
„Man kann sich immer bei seiner Familie melden, Harry", sagt sie streng. „Ich war kurz davor, die Polizei zu rufen, weil ich dachte, du hättest vielleicht schon wieder etwas ausgefressen. Du hast dich nicht einmal gemeldet, nachdem du vor Gericht freigesprochen wurdest."
Da ist es wieder. Der ewige Vorwurf und der ständige Verdacht, ich könnte etwas angestellt haben. Natürlich liebe ich meine Mum, aber dass sie mir jetzt unterstellt, was Kriminelles angestellt zu haben, das...nun, das liegt eigentlich ziemlich nahe, oder?
Seufzend stehe ich auf und gehe im Zimmer auf und ab. „Mum, ich konnte mich nicht melden, ich war auf einer Undercovermission für das MI5 unterwegs."
Jetzt fängt sie an zu lachen. Und wie. Sie lacht, als hätte ich ihr gerade den Witz des Jahrhunderts erzählt und ich sehe den Telefonhörer kurz böse an. „Mum, das ist kein Witz, das stimmt."
„Harry, du kannst mich nicht für dumm verkaufen, ich bin deine Mutter. Wieso sollte ich dir diese Geschichte glauben?"
„Weil sie wahr und die einzige Entschuldigung dafür ist, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich war so beschäftigt, dass ich mich auf fast nichts anderes konzentriert habe und dabei habe ich schlicht und einfach vergessen, mich zu melden", sage ich ziemlich beleidigt, weil sie mir nicht glauben will. „Harry, du kannst mir auch einfach sagen, wenn du mir nicht erzählen willst, was passiert ist. Aber ich hätte mich einfach gefreut, wenn ich ein bisschen früher was von dir gehört hätte", sagt sie und klingt jetzt ein wenig milder. Ich hingegen bin beleidigt und würde am Liebsten auflegen. Gerade nervt sie mich ziemlich. „Wenn du mir nicht glaubst, dann komm doch nach London und besuche mich in der Reha Klinik in Roehampton. Ich bin der, dem ein Auge und ein halbes Bein fehlt." Und mit diesen Worten lege ich auf.
Wütend falle ich auf die Couch und vergrabe das Gesicht in einem Kissen.
Ja, ich habe viel Dummheiten gemacht.
Ja, ich habe meine Mum oft enttäuscht und das beste Verhältnis haben wir eigentlich auch nicht.
Aber, dass sie mir diese Geschichte überhaupt nicht abnimmt, das hätte ich nicht gedacht. Sie ist meine Mum. Müssten da nicht die Alarmglocken läuten?
Nein, wie es aussieht, tun sie das nicht.
Nun gut, jetzt habe ich ihr gesagt, wo ich bin und was mit mir los ist. Was sie mit der Information anfängt, bleibt dann ihr überlassen, denke ich knurre nochmal wütend vor mich hin, als es an der Tür klopft und ich zusammenzucke.
.-.-.-.
Das ist ja jetzt Mal überhaupt nicht gut gelaufen. Harry und seine Mum haben wohl wirklich ein sehr abgekühltes Verhältnis.
Schade.
Ich wünsche euch allen eine schönen 1.Dezember. Vergesst bitte nicht, in den Adventskalender von lashton_fever reinzuschauen! Da warten schöne OS auf euch (und einer ist von mir)
Liebe Grüße
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