21.Kapitel

Eine ganze Woche lang warte ich auf den passenden Moment, doch er will sich nicht einstellen. Fast werde ich ein bisschen ungeduldig, doch meine Therapie lenkt mich enorm ab.

Die Gespräche bei Dr Tennant werden tiefgründiger und nicht selten bin ich ziemlich erschöpft, wenn ich nach einer Sitzung seinen Raum verlasse. Auch die Gruppentherapie macht mir Spaß, denn sie besteht häufig daraus, dass wir auf dem Gelände Cricket, Golf oder Tischtennis spielen. Sowas lenkt ab und ich kann meinen Kopf ausschalten. Dass Louis bei mir in der Sportgruppe dabei ist, ist ein zusätzlicher Bonus und wir mausern uns zu einem guten Team beim Tischtennis, auch wenn ich jedes Mal gegen ihn gewinne, was ihn frustriert.

An einem Abend Anfang August sitzen wir im Garten unter einem Baum. Ich habe den Kopf in Louis' Schoß gelegt und die Augen geschlossen. Seine Finger kraulen sich durch meine Haare und ich versinke vollkommen in den kreisenden Berührungen. „Die sind ganz schön lang geworden", meint er leise und zieht ein wenig daran. „Naja, es ist ja auch schon ne ganze Weile her, dass du sie mir abgeschnitten hast", nuschele ich und muss lächeln, als ich an die Aktion in Berlin denke. „Fandest du eigentlich wirklich, dass die langen Haare so schlimm waren?"

„Naja du hast damit schon etwas verwahrlost ausgesehen. Außerdem waren sie immer so strähnig."

„Hey, ich habe Locken, wenn ich die nicht strähnig frisiert hätte, würde ich aussehen, wie ein geplatztes Sofakissen", bemerke ich gespielt entrüstet. „Egal, du gefällst mir jetzt trotzdem besser", beharrt er, beugt sich vor und küsst mich.

Es ist immer wieder schön, wenn er das tut und ich greife schnell in seinen Nacken, damit er mir nicht entwischt. Louis seufzt leise, was mir sofort eine Schauer über den Rücken jagt. „Ich liebe dich." Mein Freund lächelt und fährt mit der Zunge sanft über meine Unterlippe. Seine Bartstoppeln kitzeln mich ein wenig und ich muss lachen. Er unterbricht den Kuss und sieht mich irritiert an: „Wieso lachst du?"

„Dein Bart kitzelt."

„Ja, das bist du nicht gewohnt, hm? Du hast ja keinen Bartwuchs." Er will mich aufziehen, das weiß ich genau und ich setze mich ruckartig auf. „Willst du etwa sagen, ich sei kein richtiger Mann?"

„Vielleicht?" Zum ersten Mal seit langer Zeit sehe ich wieder dieses Glitzern in den Augen, von dem ich schon Angst hatte, dass ich es nie wieder sehen würde.

„Na warte, ich beweise dir gleich, dass ich ein richtiger Mann bin." Schnell richte ich mich auf, schiebe Louis von mir und drücke ihn an den Schultern hinunter ins dichte Gras. Louis sieht zu mir hoch und seine Augen lächeln mich auf eine verliebte und neckische Art und Weise an.

„Na da bin ich aber gespannt..." Als sich meine Hände fester auf seine Schultern legen erschauert er kurz und ich halte inne. „Kannst du mich bitte nicht so festhalten, das fühlt sich nicht gut an", sagt er leise und schnell, als sei es ihm ein wenig peinlich.

Mir ist klar, dass das noch von der Entführung herrührt und lasse ihn sofort los. Stattdessen lege ich eine Hand an seine Wange. „Soll ich dich lieber so anfassen?", frage ich leise und sanft und Louis nickt erleichtert. „Danke, so ist es schön."

Gerade, will ich ihn wieder küssen, als sich jemand räuspert.

„Mr Styles, Miss Richter ist gerade angekommen."

Mein Herz macht einen Hüpfer und ich starre Louis ungläubig an. „Mein Bein ist da." Sofort fängt er an zu strahlen, springt auf und reicht mir meine Krücken.

In den letzten Tagen bin ich nur kurze Zeit mit Prothese unterwegs gewesen, damit sich der Stumpf bloß nicht entzündet. Es wäre extrem frustrierend, wenn ich dann endlich die richtige Prothese hätte und sie nicht tragen könnte. Deswegen wollte ich da lieber kein Risiko eingehen und war fast schon ein wenig übervorsichtig. „Los komm, wieso brauchst du denn so lange?", lacht Louis und stürmt vor mir her über den Rasen. „Kleiner, du weißt doch genau, dass ich nicht so schnell kann", bemerke ich, versuche aber trotzdem zügig hinterher zu kommen. Obwohl es Abend ist, ist es draußen noch schön hell. Das liebe ich am Sommer. Man kann lange im Freien bleiben und hier in der Klinik haben wir auch noch diesen wunderschönen Garten, in dem selbst laue Sommerabende sicherlich wunderschön sind – und mit Louis bestimmt noch schöner werden.

Der Mitarbeiter der Klinik, der uns abgeholt hat, richtet sich nach meinem Tempo. Wir kommen wenige Minuten nach Louis am Gebäude an und der Angestellte bringt uns in einen Raum im Erdgeschoss, der ähnlich eingerichtet ist, wie ein Arztzimmer. Es gibt eine Bahre, ein Waschbecken, Handschuhe und alles sieht sehr steril aus. Ich bin nervös, als die Tür geöffnet wird, freue mich aber, Miss Richter wieder zu sehen.

„Mr Styles, Sie sehen ja schon viel besser aus, als beim letzten Mal", sagt sie erfreut und schüttelt mir die Hand. „Danke, es geht mir auch schon besser", antworte ich und lächle sie nervös an. „Ich habe etwas für Sie dabei. Da warten Sie sicherlich schon sehnsüchtig drauf", sagt sie, reicht nun auch Louis die Hand und bedeutet mir, mich zu setzen. Neben der Bahre auf einem Tischchen liegt ein länglicher Karton und zu sagen, ich sei nur nervös, ist eine Untertreibung. Ich weiß, dass darin die Prothese liegt, die mir passen wird und auf die ich mich schon so lange freue.

Mir ist fast schon schlecht.

Hoffentlich passt das Bein, ich wünsche mir nichts mehr, als endlich wieder richtig gehen zu können.

„Zeigen Sie mir mal den Stumpf", bittet sie und ich krempele die Hose ein bisschen hoch, damit sie die Naht begutachten kann. „Oh, das ist ja wunderbar verheilt, kaum noch eine Rötung zu sehen, keine verzogene Narbenbildung, das Gewebe scheint stabil", sagt sie und tastet alles ab. „Haben Sie ein Taubheitsgefühl an manchen Stellen, oder ist alles soweit in Ordnung?", will sie wissen und berührt mit einem kleinen Metallspatel testweise verschiedene Hautstellen. Jeder Piks ist gut zu spüren, nichts ist dumpf oder pelzig. „Es scheint alles gut zu sein, ich habe alles gespürt."

„Wunderbar, dann ziehen wir mal die Prothese an."

Es geht richtig schnell. Miss Richter legt einen Silikonschlauch über mein Bein, rollt ihn nach oben hin ab und kontrolliert den Sitz. Dann endlich öffnet sie den Karton, der neben mir liegt und ich staune nicht schlecht. Ein Seitenblick zu Louis hin, zeigt, dass er die Hände vor den Mund geschlagen hat und ganz begeistert aussieht. Seine Augen strahlen.

Das Ding sieht toll aus, soweit ich das beurteilen kann. Die Prothese ist grau und matt-glänzend, sieht sehr technisch aus, ohne an Ästhetik verloren zu haben. Sie haben sogar die Form meines anderen Beins nachgebildet, sodass die Silhouette wirklich aussieht, wie ein echtes Bein, nur die Farbe ist eben anders, aber ich finde es nicht schlimm. Im Gegenteil, es gefällt mir richtig gut. „Wow, das sieht aus, wie ein Terminator", stellt Louis fest, steht auf und kommt näher heran, um sich die Prothese ebenfalls anzusehen. Mir gefällt sie so gut, dass ich aus dem Grinsen gar nicht mehr herauskomme.

Hoffentlich passt sie jetzt auch.

Die Aussicht, die Krücken weglegen zu können, ist einfach toll und ich stelle mir vor, mit Louis zusammen spazieren zu gehen, Rad zu fahren oder vielleicht in der Londoner Innenstadt shoppen zu gehen. Wieder mobil zu sein und nicht mehr durch die Krücken aufzufallen, wird wunderbar. „Hey, du strahlst ja, als ob Weihnachten und Geburtstag auf einen Tag fallen würden", sagt Louis, setzt sich neben mich und legt mir die Hand aufs Knie. Es ist eine liebevolle Geste, die mich mehr berührt, als wenn er mich geküsst hätte.

Miss Richter stellt die Prothese vor mir auf den Boden und hilft mir oben in den Schaft hineinzusteigen. „Die Prothese hält durch ein Vakuum. Dadurch sitzt die Basis bombenfest und Sie verlieren sie nicht", erklärt sie mir und kontrolliert den Sitz des Schafts.

„Und wie kriege ich sie wieder ab?", frage ich und konzentriere mich auf den leichten Zug, den das Vakuum jetzt auf die Haut ausübt. „Hier unten am Ventil gibt es eine kleine Schraube, wenn Sie die lösen, strömt Luft nach und die Prothese kann abgenommen werden."

„Wow, das ist voll das High-Tech-Ding", staunt Louis und legt den Kopf schief. Miss Richter zieht noch einige Stoffschläuche aus dem Karton. „Wenn der Stumpf ein wenig dünner wird, können Sie einen dickeren Strumpf überziehen, sollte er ein wenig anschwellen, dann ziehen Sie nur den ganz dünnen Schlauch an. So gleichen wir minimale Größenunterschiede aus. So, dann stellen Sie sich doch mal hin", sagt sie und ich stehe vorsichtig auf.

Das Glücksgefühl wird gedämpft, denn ich stehe bei Weitem nicht so sicher, wie ich erhofft hatte. Im Gegenteil. Das Erste, was passiert ist, dass ich in die Prothese einsinke. Zumindest fühlt es sich so an und ich greife schnell nach Louis' Arm. „Geht es nicht?", fragt er besorgt und sieht mich an. „Es ist ziemlich instabil und irgendwie rutsche ich nach", versuche ich das Gefühl zu beschreiben und sehe Miss Richter an, die sich mit konzentrierte Miene in die Hocke gesetzt hat.

„Belasten Sie mal beide Beine. Genau so und jetzt lassen Sie vorsichtig mal Louis' Hand los...ja richtig, gut ausbalancieren. Und wieder festhalten."

Sie muss einige Schrauben nachziehen und dreht ein bisschen am Fuß herum. Millimeter verändert sie, aber es macht einen enormen Unterschied in der Standfestigkeit. Als die letzte Schraube angezogen ist, richtet sich Miss Richter wieder auf, geht einige Schritte zurück und nickt mir auffordernd zu: „Dann kommen Sie bitte mal auf mich zu."

Ich soll gehen? Einfach so? Das kommt mir jetzt ein bisschen übereilt vor und ich festige meinen Griff um Louis' Finger. Doch sie schüttelt den Kopf: „Nein, ohne Hilfe. Mr Tomlinson kann neben Ihnen stehen und eingreifen, aber versuchen Sie ohne Hilfe zu gehen. Nur einen Schritt."

„Das schaffst du, komm schon. Ich stehe direkt neben dir", sagt Louis aufmunternd zu mir und ich nicke knapp: „Bleib ja in der Nähe, okay?"

„Klar. Du schaffst das."

„Danke Schatz."

„Dann mal los." Seine Hand löst sich von meiner, doch kurz darauf spüre ich, wie er sie auf meinen unteren Rücken legt. Jetzt fühle ich mich sicherer und vorsichtig, ganz vorsichtig, hebe ich das Bein vom Boden und mache den ersten Schritt.

.-.-.-.

Er läuft! Unser Baby lernt laufen!
Okay Spaß beiseite, aber schön ist es trotzdem, oder?

Und habt ihr schon alle Weihnachtsgeschenke?

Liebe Grüße

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