Fantasie

Das lautstarke Ticken der Wanduhr ist wie ein kleines Männchen auf meiner Schulter, das mit einem Hammer sehr präzise gegen meine Schläfe schlägt. Ich habe viel zu wenig geschlafen. Aber so ist das, wenn die neue Staffel der Lieblingsserie erschienen ist, da bleibt einem nichts anderes übrig, als sie durchzusuchten. Auch wenn man dadurch Gefahr läuft, völlig übermüdet in der Stochastik-Vorlesung zu sitzen und sich den einschläfernden Monolog von Professor Verdez über lineare Regression anhören zu müssen. Ich sitze in der hintersten Reihe, mein Kopf liegt in meine verschränkten Arme gebettet auf dem Tisch. Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die mit dem überwältigenden Gefühl von Langeweile zu kämpfen hat. Keiner macht den Eindruck zuzuhören. Der Großteil der etwa dreißig Studierenden, die mit mir in der Vorlesung sitzen, sind mit ihren Handys beschäftigt. Ein paar hängen über ihren Schreibblöcken, ich kann aus der Entfernung allerdings nicht erkennen, ob es Gekritzel oder Liebesbriefe sind. In der Nähe des Fensters sitzt ein Kerl, von dem ich mir nie ganz sicher bin, ob er Michael oder Thomas heißt. Jedenfalls macht er den Eindruck zu schlafen, denn seine Stirn liegt auf dem Tisch und der Kopf wird durch einen Kapuzenpullover verdeckt. Wie gern würde ich es ihm gleichtun. Aber wenn Professor Verdez doch auf die Idee kommen sollte, ihren Blick von der Tafel zu nehmen, möchte ich nicht diejenige sein, die am desinteressiertesten aussieht. Stattdessen beobachte ich meine Kommilitonen und ihre unterschiedlichen Beschäftigungen. Ein paar der Mädels frischen ihr Make-up auf und tauschen unter dem Tisch Lipgloss und Mascara miteinander aus. In der ersten Reihe scheinen stattdessen wirklich ein paar Studierende mitzuschreiben, kaum verwunderlich bei Menschen, die sich freiwillig direkt vor die Nase der Professorin setzen. Mein Blick gleitet zur anderen Seite. In der Nähe der Tür sitzen mehrere Kerle, die allen Anschein nach eine Konversation via Messenger führen. Zumindest hat jeder sein Handy in den Fingern und tippt in beeindruckender Geschwindigkeit darauf herum.

Direkt vor ihnen sitzt Roux.

Meine Schwärmerei für diesen Mann ist jenseits von gesundem Menschenverstand. Meine beste Freundin Kyra fragt mich ständig, was ich eigentlich an ihm finde und warum ich jedes Mal fast anfange zu sabbern, wenn Roux an mir vorbei läuft oder auch nur in meiner Nähe vor sich hin existiert. Ich kann es ihr nicht mal beantworten.

Vielleicht sind es die tiefblauen Augen.

Vielleicht ist es die ausgeprägte Kieferpartie.

Vielleicht sind es diese anbetungswürdigen Wangenknochen.

Vielleicht ist es dieser lässige Business-Casual-Style, der absolut meinen Geschmack trifft.

Vielleicht ist es gar nichts davon.

Vielleicht ist es alles.

Fakt ist: Ich finde Roux unglaublich attraktiv, dabei haben wir noch nie ein Wort gewechselt. Das könnte zu großen Teilen auch daran liegen, dass er strenggenommen kein Student ist. Von Kyra, die ihre Augen und Ohren überall hat, weiß ich, dass Roux sich in der Qualifikation zum Associate Professor befindet und an der Universität sogar unterrichtet sowie Vorlesungen gibt. Er gehört zum Kollegium und behandelt die Studierenden stets mit dem nötigen Maß an Distanz und Professionalität. Dazu kommt ein beachtlicher Altersunterschied zwischen uns von knapp zehn Jahren.

Alles in allem trennen uns nicht nur Welten, sondern ganze Galaxien und ich habe keine Chance, an ihn heranzukommen. Deswegen bleibe ich auf meinem Hintern sitzen, drei Reihen von ihm entfernt, und beobachte mit dem nötigen Abstand, wie er vollkommen konzentriert dem eintönigen Monolog von Professor Verdez folgt. Er macht sich sogar Notizen.

Die Geräuschkulisse im Raum ist prädestiniert dafür, eine Migräne auszulösen, und besteht neben der nasalen Stimme der Professorin, der nervtötend lauten Uhr und den Nebengeräuschen, die die alternativen Beschäftigungen meiner Kommilitonen nach sich ziehen, lediglich aus dem Regenschauer, der in sanfter Gleichmäßigkeit gegen die Fensterscheibe prasselt. Eine perfekte Kakophonie.

Mit größter Mühe versuche ich, mich wach zu halten. Natürlich wäre es eine Option, aufzupassen und jegliches Wissen in mich aufzusaugen, so wie Roux es offenbar tut, aber sind wir mal ehrlich: Stochastik ist kein Michael-Bay-Film. Da wende ich mich lieber schöneren Dingen zu. Beispielsweise dem hübschen Kerl drei Reihen vor mir.

Wäre es peinlich, ihm einfach einen Zettel zu schreiben, in dem ich um ein Date bitte, und diesen einfach quer durch den Raum in seine Richtung zu werfen? Mehr als Nein kann er nicht sagen, und ich hätte endlich dieses Gefühl los, etwas zu verpassen. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass ich es nicht verkraften könnte, nicht wenigstens ein einziges Mal mit Roux gesprochen zu haben. Wenigstens das, wenn mir eine gemeinsame Nacht mit ihm schon mit ziemlicher Sicherheit verwehrt bleiben wird.

Meine Augenlider werden schwerer und das Blinzeln immer anstrengender. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Professor Verdez den gleichen Satz zum zehnten Mal sagt. Und in meinem Kopf sammeln sich plötzlich die wildesten Ideen. Am besten gefällt mir die, jetzt einfach aufzustehen und gemeinsam mit Roux zu schwänzen. Wir könnten in mein Wohnheimzimmer gehen, und ich würde mit ein bisschen Glück herausfinden, was sich unter dem weißen Hemd und der beigen Stoffhose befindet.

Aber das wird leider niemals passieren.

✱✱✱

Nach einer halben Ewigkeit beendet Professor Verdez endlich die Vorlesung. Ich bin dankbar, dass sie nicht auf die Idee kommt irgendwen abzufragen. Das ist sonst ihre liebste Methode, um den Studierenden die Laune zu verderben.

Lustlos greife ich nach meinen Schreibsachen und stopfe sie in den Rucksack. Es warten heute noch drei weitere Kurse auf mich. Wie zur Hölle soll ich das überstehen, ohne einzuschlafen? Mein einziger Hoffnungsschimmer ist die gemeinsame Mittagspause mit Kyra, die meine Stimmung mit ihrer überschwänglichen Energie heben dürfte. Es sei denn, sie ist selbst völlig übermüdet. Dann sehe ich keine Chance, den heutigen Tag im wachen Zustand zu Ende zu bringen.

Nachdem ich im Schneckentempo meinen Platz aufgeräumt habe, hebe ich den Kopf und werfe einen Blick durch den Raum. Außer mir ist nur noch eine Person anwesend, da alle anderen, sogar die Professorin, schon gegangen sind – Roux. Er sieht zu mir und mein Herzschlag setzt für einen Moment aus.

Diese Augen werden mein Verderben sein.

Eilig senke ich den Kopf und fummle am Reißverschluss meines Rucksacks herum.

»Hallo, ich bin Roux.«

Herrgott, kann der Kerl sich teleportieren? Plötzlich steht er direkt vor meinem Tisch und ich starre ihn völlig verdattert an. Das ist das erste Mal, dass er mich direkt anspricht.

»Du bist Isla, oder?«

Okay, ich sollte jetzt etwas sagen, doch stattdessen nicke ich einfach nur wie eine dieser Bobblehead-Figuren. Es fasziniert mich, dass er meinen Namen kennt.

»Professor Verdez meinte, dass du dich für die Dekarbonisierungsinitiative der Universität engagierst. Das ist überaus beeindruckend«, sagt er und ich schlucke den Speichel, der sich in meinem Mund gesammelt hat. Jetzt zu sabbern, wäre wirklich unsexy. Vor allem, da er mir gerade ein Kompliment gemacht hat, auf das ich vielleicht mit einem vollständigen Satz antworten sollte.

»Danke. Regenerative Energien war ein großes Thema meiner Bachelor-Arbeit.« Glückwunsch, Isla: Subjekt, Prädikat, Objekt.

»Ich hätte ein paar Fragen zur Initiative. Für die Qualifikation zum Associate Professor schreibe ich eine Ausarbeitung über die Bereitschaft der Studierenden, nachhaltige Themen zu unterstützen. Hast du Zeit?«, fragt er und mein Inneres jubelt vor Freude. Er möchte sich mit mir unterhalten und meine Meinung hören? Das muss der Jackpot sein.

Und dann fällt mir ein, dass ich eigentlich gleich einen Kurs in Soziologie habe, zu dem Kyra mich abholen wollte. Der Professor wird mich rundmachen, wenn ich wieder zu spät komme.

»Ich ... ich würde mich liebend gern darüber unterhalten. Leider habe ich gleich einen Kurs bei Professor Biggs«, sage ich und beiße mir auf die Lippe. Am liebsten würde ich mir selbst eine Ohrfeige verpassen. Wie dumm kann man sein und nur aufgrund von Pflichtbewusstsein diesen Wahnsinnstypen abweisen?

Er legt seine Hand auf den Tisch und durch den hochgekrempelten Ärmel seines Hemdes sieht man das ästhetische Muskelspiel seines Unterarms. Ich bin abgelenkt.

»Also ich habe die Information, dass Professor Biggs krank ist und seine heutigen Kurse dadurch ausfallen«, erwidert er und das ist die beste Nachricht des Tages.

»Oh, dann habe ich Zeit«, sage ich und ziehe den Stuhl, der neben mir steht, zu mir heran. Es ist eine stille Aufforderung zum Setzen, der er sofort nachkommt.

Wir waren noch nicht so nah beieinander, uns trennt nur noch eine Armlänge und ich bin sicher, dass er meinen Herzschlag hören kann. Roux stellt mir einige Fragen zum Thema Dekarbonisierung und Ressourceneffizienz. Obwohl ich schwer damit beschäftigt bin, ihn anzuhimmeln und mir unanständige Dinge vorzustellen, zieht er mich mit seiner Begeisterung für dieses Thema schnell in seinen Bann. Nicht umsonst handelt meine Bachelorarbeit von der klimaschonenden Verbindung aus Strom, Wärme, Mobilität und Wasserstoff. Roux ist ein fantastischer Gesprächspartner, der sich hervorragend auskennt und extrem clevere Fragen stellt.

»Also glaubst du nicht daran, dass man unseren Planeten durch den übermäßigen Kauf von Elektroautos retten kann?«, witzelt er und tippt mit der Spitze seines Kugelschreibers auf dem Block herum, auf dem er sich bis eben Notizen gemacht hat.

»Sicher nicht«, erwidere ich. »Es ist ein Ansatz, aber nicht die Universallösung. Auch wenn die Tesla-Fahrer dir sicher etwas anderes erzählen werden.« Ich schiebe mir eine Strähne meiner Haare hinter das Ohr und Roux' Blick springt zu dieser unschuldigen Bewegung.

»Zu meinem Glück rede ich jetzt nicht mit diesen Menschen, sondern mit dir.« Er zwinkert mir zu und am liebsten hätte ich geseufzt. Wie kann jemand nur so charmant sein?

»Und ich habe mehr Geschmack als die Leute, die sich dieses Modeauto zulegen«, erwidere ich und kichere albern.

»Was mich zu einer anderen Frage bringt ...«, sagt Roux und wirkt auf einmal sehr viel ernster als noch wenige Sekunden zuvor.

Ich drehe mich in seine Richtung und unsere Knie berühren sich unter dem Tisch. Es ist ein harmloser Kontakt, immer noch getrennt durch zwei Stoffschichten, doch mir schießt schlagartig Hitze ins Gesicht. Ich gebe es zu: Ich bin schwach, und mein mühsam aufrechterhaltenes Selbstvertrauen ist so weit davon entfernt, diese Situation als selbstverständlich zu betrachten.

»Ach, weißt du was? Vergiss es. Ist nicht so wichtig.« Er klappt seinen Notizblock zu und verstaut ihn in seiner Aktentasche.

Was? Er will das Gespräch beenden? Einfach so?

»Warte!« Ich greife nach seinem Handgelenk und stoppe ihn in seinem Tun. Selten habe ich mich so wohl gefühlt in der Nähe eines gutaussehenden Mannes und ich will nicht, dass es endet.

»Was wolltest du mich fragen?«

Seine blauen Augen springen zu mir und schlagartig verliere ich mich darin. Meine Finger liegen immer noch auf seiner Haut und ich spüre den Puls darunter vibrieren.

»Ich sollte das nicht fragen«, sagt er und schüttelt den Kopf, als müsste er sich erst selbst davon überzeugen. »Wir könnten in Schwierigkeiten geraten.«

»Schwierigkeiten?« Ich verstehe kein Wort. Was für Schwierigkeiten? Wir sind zwei erwachsene Menschen, die sich in einem verlassenen Vorlesungssaal nett unterhalten. Wo ist das Problem dabei?

»Die Sache ist die ...«, murmelt er und beginnt mit dem Daumen über das Stück meiner Haut zu streicheln, das er erreicht. »Ich habe dich nicht nur angesprochen, um dir Fragen für meine Ausarbeitung zu stellen. Auch wenn das überaus hilfreich war.«

»Sondern?«, frage ich und lehne mich neugierig nach vorn. Die Berührung auf meiner Hand macht mich nervös und hibbelig zugleich.

»Ich hatte gewisse Hintergedanken. Welche von der Art, die man nicht haben sollte. Aber du ziehst mich an, Isla. Seit Wochen schon. Ich habe die ganze Zeit das Bedürfnis, in deiner Nähe zu sein, und jetzt hat sich einfach die perfekte Gelegenheit ergeben.«

Mein Mund ist geöffnet und ich starre ihn an. Darüber habe ich die ganze Zeit fantasiert und jetzt ist es plötzlich Realität? Einfach so?

»Und ich wollte dich fragen, ob es möglich wäre, dass ich zumindest ein bisschen zu deinem Geschmack passe?«

Hat jemand die Heizung angestellt? Jedenfalls glüht mein Gesicht bei Roux' Frage so heftig, dass ich mit Sicherheit jeder Tomate Konkurrenz mache.

»Und diese Frage könnte dich in Schwierigkeiten bringen?«, frage ich dämlich, denn es gibt jetzt in diesem Moment viel interessantere Dinge, die ich von ihm erfahren könnte.

Er nickt und die Hand, die bis eben noch an meiner war, ist plötzlich an meinem Kinn. Und mein Herzschlag galoppiert.

»Durchaus«, raunt er. »Denn wenn deine Antwort Ja wäre, dann würde es unweigerlich darauf hinauslaufen.«

Und ehe ich begreifen kann, was er sagt, und noch bevor ich überhaupt nach Luft schnappen kann, liegen seine perfekt geformten Lippen auf meinen. 

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