6 - Unwillkommener Besuch

Nach dem Gottesdienst begann Kjetill einige Leute zu grüßen, jedoch fasste er sich relativ kurz und ersparte mir somit ungeduldige Wartezeit. Allerdings stellte er mich nie jemandem vor. Zuerst nagte ein leiser Gedanke an mir der Kjetill dafür anklagte, doch schnell fiel mir wieder ein, was der Grund dafür war.

Er versuchte mich zu schützen. Würden die Leute meinen Namen erfahren, könnte es gefährlich für mich werden..

Resigniert schüttelte ich den Kopf. Ich dachte viel zu egoistisch. Natürlich würde es in erster Linie viel gefährlicher für ihn werden, wenn herauskam was er getan hatte! Mein schlechtes Gewissen begann wieder an mir zu nagen. Die Angst, er könne wegen mir irgendwelche Probleme bekommen stieg wieder an, ließ meinen Puls unkontrolliert schneller schlagen. Er hatte das nicht verdient. Jemand der sich so herzensgut hingab, sollte nicht für etwas bestraft werden, was keinem geschadet hatte. Ein flaues Gefühl legte sich auf meinem Magen ab. Zeitgleich schwand das Gefühl der Gelassenheit und ich begann mich verstohlen und angsterfüllt immer wieder umzublicken. Die Menschenmasse kam mir plötzlich so groß und laut vor, dass die Stimmen und Gespräche begannen mir in den Ohren wehzutun.

Ich zupfte Kjetill leicht an seinem Jackett. Ich musste hier ganz schnell raus. Die Berührung war nur ganz sachte, jedoch drehte sich Kjetill sofort zu mir um, da ich hinter ihm stand. Er sah mich besorgt an, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte: "Alles okay?" Ich schluckte unwohl. Ich hatte ihn während eines Gesprächs mit einem älteren Mann unterbrochen, welcher mich nun neugierig musterte, als wäre ich ihm erst soeben aufgefallen. Ich hatte die Aufmerksamkeit nicht auf mich ziehen wollen und vor allem hatte ich nicht gewollt, dass sich wieder einmal alles um mich drehte. Ich wollte Kjetill nicht den Abend zerstören, indem ich mit meinen egoistischen Bedürfnissen dazwischenfunkte. Also schluckte ich kaum merklich und rieb mir unwohl über den linken Ärmel meines Arms. "Ich.. Ich geh etwas an die frische Luft.", stotterte ich unbeholfen. Ich wollte nichts falsches sagen. Ein falsches Wort könnte uns in Schwierigkeiten bringen.

Ich sah an Kjetills Blick, dass er meinen Gedankengang verstand. Jedoch schüttelte er nur kaum merklich den Kopf, als würde er sagen wollen "Keine Sorge, du wirst nicht auffliegen". Aber die Panik kroch in mir hoch, als mir bewusst wurde, was wir hier eigentlich taten. Ich hätte nie zusammen mit Kjetill in die Öffentlichkeit gehen sollen! Vor allem nicht in so einen privaten Umkreis von ihm.

Man musste mir mein Unbehagen ansehen, denn Kjetill legte besorgt seine Hand auf meine Schulter, was mir einen kleinen Adrenalienschub in der Magengegend versetze. "Geht es dir nicht gut?" Schnell machte ich eine wegwerfende Handbewegung und setze ein Lächeln auf. "Alles gut, ich warte draußen."

Ich drückte mich schnell an den beiden vorbei und lächelte dem Mann noch höflich zu, ehe ich mich durch die Menschenmenge davonmachte. Mein Herz pochte immer noch unangenehm. Ich versuchte möglichst niemandem ins Gesicht zu sehen, während mich die Schuldgefühle und die Angst begleiteten. Was hatte ich mir nur gedacht? Als ich an der Tür ankam, stieß ich diese mit einem Ruck auf. Kalte Nachtluft schlug meinem erhitztem Gesicht entgegen und ich saugte gierig den frischen Geruch auf. Schnell schlüpfte ich zurück in meine Jacke und zog den Kragen bis ganz nach oben, während hinter mir die Tür zufiel.

Ich blickte über den Parkplatz und entdeckte eine Bank, die halbwegs zugeschneit unter dem milden Lichtkegel einer Laterne stand. Zielstrebig lief ich darauf zu und wischte mit dem Ärmel kurz über einen Teil der Sitzfläche, damit ich mich zumindest auf den Rand der Bank setzen konnte. So langsam beruhigte sich mein Puls wieder. Die kühle Nachtluft gab mir die nötige Klarheit, um den Kopf wieder frei zu bekommen.

Ich würde hier einfach auf Kjetill warten und dann würden wir ganz locker wieder zu seiner Wohnung fahren. Wir würden einen schönen Abend miteinander verbringen, ich würde ihm mein Geschenk geben und das war's. Keine Komplikationen oder gar Gefahren. In Zukunft würden wir einfach nicht wieder zusammen in seine privaten Umfelder gehen, obwohl mir der Gedanke einen Stich versetzte. Ich würde Kjetill also nie wirklich komplett kennen lernen können, denn ich würde auf so viele Seiten von ihm verzichten müssen, die mir vielleicht nur in Verbindung mit anderen Menschen offenbart werden konnten. Zudem war diese Kirche für mich erstmal tabu. Frust stieg in mir hoch. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, dass ich ständig auf alles und jeden verzichten musste, nur weil mich meine Umstände andauernd dazu zwangen!

Ich meine, wozu war ich denn bitte abgehauen? Ich wollte doch aus diesen einengenden Umständen raus und nun tat ich nichts anderes, als mich weiterhin in meinem Käfig zu winden.

Ich begann mich zu fragen, ob ich überhaupt jemals aus meinem Käfig ausgebrochen war. Ein kleiner Gedanke meldete sich, der mir zuflüsterte, dass ich keine Macht über meinen Käfig hatte. Dass ich darin hilflos gefangen war und dass egal wie weit ich laufen würde, der Schlüssel zur Freiheit nicht in meiner Hand lag.

Wütend kniff ich die Augen zusammen, um den lästigen Gedanken abzuschlagen. Ich war nicht von Zuhause weggelaufen nur damit mir klar wurde, dass es keine Hoffnung gab. Verärgert grub ich meine Fingernägel in den Stoff meiner Jackenärmel. Ich war doch frei! Niemand konnte mir was ab, ich würde verdammt nochmal darum kämpfen wenn mich jemand versuchte auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen!

Gerade in dem Moment, als ich entschlossen aufsprang, sah ich wie Kjetill die Treppen der Gemeinde hinunter lief. Ich wollte lächeln, doch irgendwie war da immer noch diese Wut die mich daran hinderte eine neutrale Miene aufzusetzen. Sollte ich nicht eigentlich Abstand von Kjetill halten? Er hatte so viel für mich getan. Vielleicht war es besser, wenn ich ihn nun in Ruhe ließ und wieder meinen eigenen Weg ging... Andererseits hatte ich praktisch nichts. Ich war von Kjetill abhängig, wenn ich weiterhin diesen Luxus beibehalten wollte, den er mir bot. Aber das war so egoistisch. Konnte ich das machen?

"Geht es dir besser?", fragte mich Kjetill, als er vor mir zum stehen kam. Ich blinzelte nur resigniert, bis die Frage wirklich bei mir ankam. Er war so nett. Zu nett. Zu nett für diese Welt, aber am meisten zu nett für mich. "Ja.", krächzte ich und bildete dabei eine kleine Atemwolke. Ich vernahm Kjetills Geruch, der wie immer leicht nach Kaffee roch. Es hatte aufgehört zu schneien und das milde Licht der Straßenlaterne schien auf uns herab. Es wäre die perfekte Szene für den ersten Kuss, dachte ich, bis mir schlagartig bewusst wurde, was ich gedacht hatte. Ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Was dachte ich da? Hatte ich nicht genau heute noch zu mir gesagt, dass ich nichts von Kjetill wollte?

Schnell versuchte ich auf andere Gedanken zu kommen. "Kjetill? Feierst du Weihnachten nicht mit deiner Familie oder so?" Das fragte ich mich nämlich schon seit dem Gottesdienst. Sein Blick war irgendwie komisch. So als würde er mich anlächeln, aber auch irgendwie traurig. Aber so, als gälte die Traurigkeit mir.

Ich war verwirrt als er mir nicht darauf antwortete und stattdessen etwas aus seiner Jackentasche holte. Ich wollte nochmal auf das Thema zurückgreifen, jedoch zog das schlecht eingepackte Ding in seinen Händen meine Aufmerksamkeit auf sich. "Was ist das?", fragte ich neugierig. "Mein Geschenk für dich.", sagte er in einem fröhlichen Ton, der mich sein zuvor trauriges Gesicht vergessen ließ. Meine Wut war wie weggeblasen. "Tut mir leid, dass es so doof verpackt ist, ich hab mir echt Mühe gegeben, aber naja.."

Ich musste etwas lachen, als ich sah was er meinte. Das Geschenkpapier war mit schönen Schneeflocken gemustert, aber der Stil der Verpackung zerstörte das Papier ein wenig. Kjetill hatte etwas zu viel Tesafilm benutzt, der an einer Ecke des kleinen Päckchens nicht mal hielt, sondern gnadenlos abstand. Aber irgendwie fand ich das unglaublich süß und so kicherte ich nur belustigt und nahm das Päckchen lächelnd entgegen. Hatte er deshalb vorhin so lange gebraucht?

"Das macht doch nichts!", sagte ich. "Dankeschön, das wäre echt nicht nötig gewesen! Du hast mir doch schon das beste Geschenk gemacht. Wirklich, hab noch nie eine Wohnung von jemandem bekommen. ", fügte ich noch halb im Spaße hinzu. Kjetills Mundwinkel hoben sich erneut, während er: "Im Himmel gibt es viele Wohnungen", murmelte. Als ich ihn fragend anblickte nickte er nur in Richtung des Päckchens in meinen kalten Händen. Ich sah dies als eine Aufforderung es auszupacken und so riss ich nach seinem Wunsch hin das Papier ohne Rücksicht auf.

Es war ein Buch. Besser gesagt eine Bibel. Ich lächelte freudig und blickte zu Kjetill hoch, der mich beobachtete. "Ich hoffe die Bibel gefällt dir. Alle Sachen die Jesus gesagt hat sind rot markiert." Ich schlug die Bibel auf und blätterte einmal kurz durch und tatsächlich waren da einige rote Stellen relativ am Ende der Bibel markiert. "Das ist cool!", sagte ich und meinte es auch so. "Ich hoffe, dass du dadurch Gott näher kennenlernen wirst. Vergiss nie, dass du sein Wort in den Händen hältst und dass du darauf vertrauen kannst, was dir die Bibel sagt. Ich empfehle dir aber mit dem Neuen Testament anzufangen..", sagte er mit einem Schmunzeln. Ich legte den Kopf schief. "Wieso das denn? Es wäre doch besser alles von vorne durchzugehen, damit man alles versteht?.."

"Das alte Testament ist auch wichtig, aber etwas schwieriger zu verstehen. Ich glaube du solltest dich erstmal mit Jesus beschäftigen." Ich nickte. Ich wollte mich gerade nochmal bedanken, da sagte Kjetill: "Ach und noch was.. Gottes Wort ist voller Leben und Kraft und es ist voller Wahrheit. Wahrheiten bleiben wahr. Egal zu welcher Zeit." Er legte eine kurze Pause ein und schien kurz nachzudenken. dann sagt er noch: "Vielleicht startetest du einfach mal mit Johannes 14."

Ich nickte. Etwas verwirrt, aber zugleich entschlossen. "Danke Kjetill. Ich bin gespannt darauf, sie zu lesen."

Meine Finger waren inzwischen eiskalt und so vergrub ich sie schützend in den Taschen meines Mantels. Die Bibel passte glücklicherweise auch hinein. "Es tut mir leid, aber mein Geschenk für dich liegt in der Wohnung.. Ich gebe es dir gleich.", sagte ich mit einem nervösen Lächeln und Kjetill nickte.

Das Komische an der ganzen Sache war eigentlich nur, dass es sich anfühlte wie ein Abschied. Diese ganze Situation ließ ein flaues Gefühl in meinem Magen aufkeimen, welches ich nicht gut hieß. So, als würden wir beide ahnen, dass sich unsere Wege bald trennen würden.

Ich schluckte schwer und sah zu Kjetill. Mir fiel wieder sein trauriger Blick ein. "Komm", sagte ich schnell und dann liefen wir zurück zu seinem Auto. Der Rückweg kam mir viel kürzer vor als der Hinweg und ehe ich mich versah saßen wir auch schon auf dem gemütlichen Sofa in seinem Wohnzimmer. Er mit einer Tasse Kaffee und ich mit einer Tasse Tee. Ich hatte mir ein dickes paar Socken übergestülpt und dem wohligen Gefühl nach welches ich empfand, wäre ich am liebsten für immer so neben Kjetill sitzen geblieben. "Ich hole dein Geschenk", sagte ich dann jedoch und lief in das Gästezimmer.

Als ich durch den Flur auf die Zimmertüre zusteuerte vernahm ich eine merkwürdige Unruhe vor Kjetills Wohnungstür. Ich hörte Männerstimmen die gedämpft durch die Wände zu mir drungen. Ich lief verwirrt an der Tür vorbei, aber als ich noch einmal genauer lauschte, meinte ich meinen Namen zu hören..

Das Blut in meinen Adern gefrohr zu Eis. Das konnte nicht sein. Hatte ich richtig gehört? Ich blieb stehen und schaute langsam zurück auf die Tür. Irgendwer war da draußen und störte die familiäre Atmosphäre sämtlicher Hausbewohner zu Heiligabend. Wie in Trance lief ich zurück zu der Tür und stellte mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick durch das kleine Guckloch in der Tür zu erhaschen.

Was ich zu Gesicht bekam ließ mich so heftig zusammenzucken, dass ich rückwärts gegen Kjetills Garderobe knallte. Der Schmerz an meiner rechten Schulter war nichts, im Vergleich zu der Angst die mich wie ein Blitzschlag traf und der Panik, die mich wie Wellen zu überrollen schien.

Da draußen standen zwei Polizisten in ihrer Uniform, mit dem Rücken zu Kjetills Wohnungstür gewandt. Ich krallte mich an der Hüfthohen Kommode fest, nicht fähig normal zu atmen. Verzweifelt schnappte ich nach Luft und starrte auf das kleine Guckloch, welches mir soeben die schreckliche Realität offenbart hatte. Ich war hier nicht länger sicher. Kjetills schützender Bau, der mich von der Realität abgeschirmt hatte, verlor seine Magie. Die Traumblase war nun endgültig mit einem lauten scheppern zerplatzt.

Ein heftiger Adrenalinschub fuhr durch meinen Bauch und verhalf mir mich mit einem Ruck aus meiner Starre zu lösen und mit pochendem Herzen erneut an die Tür zu eilen. Ein weiterer Blick durch das milchige Loch bestätigte mir das Befürchtete. Die Polizisten klingelten an der nächsten Tür und ich hörte wie sie sich für die Störung entschuldigten und dann irgendetwas hochhielten. Ein Bild, oder irgendwelche Dokumente, keine Ahnung. Mein Gehirn ratterte auf Hochtouren und war nicht fähig solch ein nebensächliches Detail wahrzunehmen. Das Einzige was mir durch den Kopf schoss war: "Scheiße, sie haben mich gefunden!"

Das letzte was mein überfordertes Gehirn wahrnahm war, dass mich nur noch drei Türen von meinem grauenhaften Schicksal trennten. Wie versteinert trat ich von der Tür zurück. Ich musste jetzt handeln. Sofort!

Ich riss meinen Blick von der Tür los und rannte in mein Zimmer. Sofort schmiss ich alle auffindbaren Sachen die mir gehörten in meinen blauen Reisekoffer, der offen neben meinem Bett lag. Scheiße, scheiße, scheiße!
Ich musste sofort hier verschwinden, oder Kjetill und ich würden in gewaltige Schwierigkeiten geraten! Ohne viel darüber nachzudenken was ich tat, zog ich den Reißverschluss des Koffers zu, öffnete das Fenster und hievte ihn über die Fensterschwelle. Er verschwand in der kalten Nachtluft und nach einigen Sekunden vernahm ich ein dumpfes Geräusch unter dem Fenster. Ich dankte Gott, dass draußen eine dicke Schneeschicht auf den Koffer wartete, die ihn sicher auffing.

Ich stürmte zurück in den Flur, riss meine Jacke von der Garderobe und schlitterte auf meinen Socken um die Ecke ins Wohnzimmer, woraufhin Kjetill mich sogleich alarmiert ansah. "Sie haben mich gefunden", hauchte ich außer Atem. Kjetill zog seine Augenbrauen zusammen und stellte seine Tasse schnell auf dem Wohnzimmertisch ab, ehe er eilig aufstand. "Die Polizei?", fragte er direkt und ich nickte wie gelähmt, während ich dabei war in meine Jacke zu schlüpfen und meine Schuhe zu suchen, die dummerweise unter die Kommode im Flur gerutscht waren.

"Beruhig dich Ella, du kannst dich hier verstecken.", flüsterte Kjetill mit nachdrücklicher Stimme, aber ich schüttelte panisch den Kopf. "So wie damals in der Tankstelle." Nein. Das ging nicht. Dieses mal konnte er meine Verfolger nicht abweisen und zur Polizei schicken. Dieses Mal stand der Feind höchstpersönlich vor der Tür. "Nein, nein, nein!", jammerte ich panisch und sprang von dem Fußboden auf, nun vollständig angezogen. "Das ist zu gefährlich, ich muss hier sofort weg!"

Ich starrte in Kjetills aufgewühlte Augen, die mich aus ihrem tiefen Braun anloderten. "Wie stellst du dir das vor?", zischte er aufgebracht und sein Blick huschte nervös zwischen mir und der Tür hin und her. Die Zeit tickte. Die Zahnräder in meinem Kopf ratterten. "Ich weiß es nicht..", hauchte ich mit erstickter Stimme und die Angst musste blank in meinem Gesicht stehen. Ich war doch noch ein Kind. Ich hatte keine Ahnung wie ich das alleine schaffen sollte!

"Kjetill. sie werden mich finden!", jammerte ich und Tränen der Angst und der Überforderung traten in meine Augen. Scheiße, ich wollte nicht zurück nach Hause! Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in meinen unmächtigen Händen. Sofort löste sich Kjetill von dem Türrahmen und trat einen Schritt auf mich zu. "Hey." Vorsichtig nahm er meine Hände und zwang mich dadurch ihn anzusehen. "Werden sie nicht. Du bist klug. Du kannst ihnen entkommen, wenn du dich beeilst." Ich sah ihn an. Ich wollte nicht gehen. Ich wollte nicht alleine sein und vor allem wollte ich dem Schicksal keine Chance geben mich immer wieder erneut von meinem Glück zu trennen. Aber ich musste. Das hatte das Leben so an sich und wieder einmal lag die Kraft der Wahl nicht in meinen Händen.

Das Braun seiner Iris begann sich aus dem lodern in einen karamellflüssigen Ton zu verwandeln und ich drohte darin hilflos zu ertrinken. "Ich werde dir dabei helfen.", sagte er nachdrücklich und ich nickte wie versteinert. Ich konnte einfach immer noch nicht fassen, dass da Polizisten in unmittelbarer Nähe vor der Tür standen. Wie hatten sie mich bloß gefun..

Da fiel es mir wie auf einen Schlag ein. Die Live-Übertragung heute im Gottesdienst! Jemand musste mich und Kjetill auf der Leinwand gesehen haben und daraufhin die Polizei verständigt haben. Jetzt drohte mir das Essen von heute Nachmittag wieder hochzukommen und ich musste stark gegen die aufkommende Übelkeit ankämpfen. Ohne es beeinflussen zu können, würde Kjetill nun in das Desaster miteinbezogen sein. Ob ich verschwand oder nicht, sie würden ihn ausfragen und vielleicht sogar zu sich auf die Wache mitnehmen.

"Kjetill sie wissen von dir!", sprach ich meine schlimmste Befürchtung aus und er blickte mich verwirrt an. "Die Live-Übertragung! Sie werden dich ausquetschen!" Kjetill schüttelte bloß den Kopf und ich sah ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen, welches wiederum mich verwirrte. "Mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar."

Ich drehte mich hektisch zur Tür und lauschte auf die Stimmen, die gefährlich nahe gekommen waren. Ein letzter Blick durch das Loch und mir wurde klar, dass uns die Zeit drastisch davonlief. Nur noch eine Tür. "Schnell, schalt alle Lichter aus!", zischte ich aufgebracht und eilte Kjetill zur Hilfe. Nach nur wenigen Sekunden lag die Wohnung in kompletter Dunkelheit und völliger Schwärze, bis auf die vier Adventskerzen die leuchtend im Wohnzimmer ihr flackerndes Licht abgaben.

"Und jetzt?", fragte ich flüsternd in die Dunkelheit hinein. Ich konnte Kjetills Gesicht nur schwach ausmachen. "Ich kann dich schlecht aus dem Fenster schmeißen.", murmelte er mit gesenkter Stimme und die Panik drohte mich zu ersticken. "Mein Koffer liegt schon draußen. Es sind ja auch nur zwei Stockwerke."

"Was?!", flüsterte Kjetill etwas harscher zurück. "Beruhig dich, den finden die nicht in der Dunkelheit.", versuchte ich ihn zu beschwichtigen, bevor er mir etwas vorwerfen konnte. Einige Sekunden war es still und dann hauchte Kjetill: "Das ist es."

"Was?!", schoss es sofort aus meinem Mund. "Was ist was?" Kjetill gab eine Art prustendes Geräusch von sich. Was war denn jetzt so lustig, verdammt?! Mir war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Doch Kjetill schien sich nicht weiter von der angespannten Situation beirren zu lassen: "Warum komme ich da erst jetzt drauf?", murmelte er und ich platze beinahe vor Ungeduld. "Wir werden ganz einfach nicht die Tür öffnen.", gab er schelmisch von sich und ich konnte sein halbes Grinsen in der Dunkelheit erkennen. "Aber.." ,weiter kam ich nicht, denn das Geräusch der Klingel hallte durch die Wohnung und ließ uns beide gleichzeitig zusammenzucken. Schockiert starrten wir uns an und dann ging alles ganz schnell. "Los, versteck dich!"

Auf Zehenspitzen huschten wir in das Zimmer am anderen Ende des Ganges, welches ich noch nie betreten hatte. Kjetills Zimmer. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als Kjetill mich schweigend mit einer Handbewegung dazu aufforderte in seinen Schrank zu steigen, der unter der Kleiderstange genug Raum bot, um sich hinein zu hocken. Es war so dunkel, ich konnte beinahe gar nichts sehen und als Kjetill sich neben mich kauerte und die Schranktür mit einer vorsichtigen Bewegung von innen zu zog, erkannte ich nicht einmal mehr meine eigene Hand vor Augen. Nur unser abgehacktes Atem erfüllte die kleine Kabine. Wir lauschten in die Stille hinein und als es ein zweites Mal klingelte hielt ich sogar ohne es zu bemerken die Luft an. Es klingelte noch insgesamt weitere zwei Male, dann kam nichts mehr. Ich weiß nicht wie lange wir so warteten, aber irgendwann als die Luft im Schrank zu dick wurde, ich in meiner Jacke zerschmolz und die Stille begann auf den Ohren zu drücken, stieß Kjetill die Schranktür mit seinem Fuß auf. Sogleich strömte uns die angenehme Raumtemperatur der Wohnung entgegen, die im Vergleich zu der stickigen Schrankluft ziemlich kühl war.

"Sind sie weg?", wisperte ich angespannt, während sich Kjetill stöhnend aufrichtete. "Ja, denke schon.", flüsterte er zurück und streckte sich daraufhin erst mal, denn für ihn musste die enge Position noch beengender gewesen sein als für mich. "Mussten wir uns unbedingt in deinem Schrank verstecken?", fragte ich mit den Nerven am Ende, als auch ich mich langsam wieder aufrichtete. "Wo wir doch eh die Tür nicht aufgemacht haben?.."

Kjetill lachte leise. "Tut mir leid, das war ein Fluchtinstinkt. Keine Ahnung, ich hatte erwartet, sie könnten hier einfach rein stürmen oder so.." Ein Gähnen beendete seine Erklärung und auch ich bemerkte wie die Müdigkeit sich in mir breit machte, sobald die Panik sich stillschweigend zurückzog und Raum dafür ließ. "So hatte ich mir mein Weihnachten nicht vorgestellt.", gab ich etwas enttäuscht von mir, als ich endlich fest auf beiden Füßen stand. "Oh, ich auch nicht.", lachte Kjetill, der wohl irgendwie amüsiert über diese Situation war. Ich jedoch konnte immer noch nicht darüber lachen. Der Schock saß noch zu tief in meinen Knochen.

"Können wir das Licht auslassen?", fragte ich bettelnd als Kjetill Anstalten machte nach dem Lichtschalter zu tasten. "Wieso?", fragte er, aber dann schien er es zu verstehen. "Ist okay. Mach dir keine Sorgen, dir wird nichts passieren." Ich lächelte und war froh, dass die Dunkelheit es vor ihm verbarg. Meine Wangen waren immer noch gerötet von der Hitze, aber auch ein wenig vor Verlegenheit. Ich konnte nicht bestreiten, dass mir die Nähe zu Kjetill gefallen hatte.

"Und jetzt?", fragte ich wieder einmal und mir fiel mein Koffer ein, der dummerweise nun draußen im Vorgarten lag. Und darin Kjetills Geschenk, welches ich ihm doch so unbedingt hatte geben wollen. Das war echt eine unüberlegte Reaktion gewesen. Mist.

"Weiß nicht, ich schlage vor wir erholen uns jetzt erst mal von dem Schock und lassen den Abend noch irgendwie würdig ausklingen. Schließlich feiern wir Jesus Geburt." Ich nickte erleichtert und war froh darüber dass der Abend nicht ganz ins Wasser fallen würde. Dann fiel mir ein, dass Kjetill das ja wahrscheinlich nicht sehen konnte und so stimmte ich ihm mit einem "Wir sollten ein paar Kerzen anzünden." zu.

Ein wenig später saßen wir wieder auf dem Sofa, tranken neu aufgestellten Kaffee und Tee und Kjetill las etwas aus einem Andachtsbuch über den Sinn von Weihnachten vor. Ich hörte irgendwann nur noch mit halbem Ohr zu, denn die Müdigkeit übermannte mich Stück für Stück und ließ meine Gedanken ganz sachte in eine Traumwelt abdriften, an die ich schlussendlich meine Kontrolle abgab. Das letzte was ich wahrnahm war, dass es dennoch das perfekte Weihnachtsfest war, auch wenn mich die unerwünschten Strapazen wieder einmal beinahe ausgelaugt hätten. Aber mit dem flackerndem Schein der Kerzen, dem Geruch von Zimttee und Kaffee in der Nase und Kjetills beruhigender Stimme in meinem Ohr, war es das wohltuendste Gefühl, welches ich jemals an einem Heiligabend empfand.

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