5 - Allein aus Gnade
Als ich mich im Spiegel betrachtete fiel mir sofort auf wie gesund ich aussah. Die tiefen Augenringe hatten eine blassere Farbe angenommen, meine Haut dagegen war lebendiger geworden und in meinen Mundwinkeln lag ein kleines Lächeln.
Das Ausschlafen in den letzten Tagen hatte mir gut getan und auch den zuvor ständig anwesenden Stress hatte ich Zuhause gelassen.
Ich trug ein schwarzes Kleid, welches am Kragen mit schönen Glitzerpaletten verziert war. Es schmeichelte mir besonders an der Taille und fiel unterhalb meines Bauches locker ab. Ich hatte gedacht es wäre zu kurz für die Kirche, aber als ich es anprobierte hatte ich festgestellt, dass mir meine Größe einmal zum Vorteil werden würde. Ich war schon immer etwas kleiner als die Mädchen in meinem Alter, und so reichte das Kleid doch noch über meine Knie.
Vorsichtig strich ich über den weichen Stoff. Es hatte ganz schön viel gekostet, für das bisschen Geld was ich dabei hatte. Aber da ich bis jetzt ausreichend bei Kjetill versorgt worden war ohne einen Cent zu bezahlen, erlaubte ich mir den Preis zu bezahlen.
Denn heute war Heiligabend. Der Tag, an dem Familien sich trafen um das Fest der Liebe zu feiern. An dem die Menschen einmal etwas besinnendes machen wollten und sich in Schale warfen um ebenfalls vielleicht das erste Mal im ganzen Jahr in die Kirche zu gehen.
Eigentlich echt bescheuert. Ich fand das besuchen der Kirche sollte keine Tradition sein. Im Endeffekt wartete ja eh jeder nur bis es vorbei war, damit man endlich die Geschenke bekam. Ich fand, dass darin eine gewisse Respektlosigkeit gegenüber Gott lag.
Auch ich bin an Weihnachten und Ostern immer mit meinen Eltern in die Kirche gegangen. Umso mehr hasste ich diese Tradition, da alles einfach so aufgesetzt war. Meine Eltern lächelten, niemand bemerkte den Abstand den sie zueinander hielten und niemand sah die Streitereien, die sie dahinter verbargen.
Und ich hatte natürlich jedes mal mitgespielt. So getan, als wäre einfach alles in Ordnung.
Aber dieses Mal würde es nicht so sein. Dieses Mal waren meine Eltern alleine Zuhause und stritten sich vermutlich gerade darüber, wer das Kind aus den Augen gelassen hatte.
Deshalb grinste ich auch zufrieden, als ich mich im Spiegelbild musterte. Ich freute mich richtig, dass ich zum ersten Mal ein schönes Weihnachten haben würde. Das klang so hart, aber ich verzichtete lieber auf meine Familie, anstatt weiterhin dieses dämliche Spiel mitzuspielen.
Ich war aufgeregt mit Kjetill in den Gottesdienst zu gehen und noch aufgeregter ihm mein Geschenk zu geben.
Ich hatte es, - genauso wie mein Kleid, gekauft, als Kjetill arbeiten war.
Natürlich hatte ich keine Ahnung was ihm gefiel und mir war auch klar, dass nichts auch nur ansatzweise gut genug für ihn sein würde. Nicht weil er undankbar war, sondern weil er einfach zu perfekt für ein einfaches Geschenk war. Deshalb entschied ich mich ihm etwas zu schenken, was ihn an mich erinnern würde. Eine Sache die mir selbst wichtig war.
Es war eine Kette mit einem silbernem Kreuz Anhänger. Das Kreuz an sich war nichts besonderes und ich hätte es garantiert auch nicht gekauft, wäre mir nicht noch der kleine Engel aufgefallen, der in die silbernen Balken eingraviert war. Ich hatte sie von einem der Flohmärkte aufgestöbert, die momentan in der Stadt zugange waren und war nun richtig stolz auf meinen Fund. Ich hoffte sehr, dass sie Kjetill gefallen würde.
Kjetill war heute noch Arbeiten gegangen, aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass er gleich kommen würde. Er hatte mir gestern nach unserem Gespräch versprochen mich mit in die Kirche zu nehmen. "Vielleicht triffst du dann ja den echten Gott.", hatte er gesagt und mir vielsagend zugezwinkert. Aber er konnte ja nicht wissen, dass ich schon längst eine Begegnung mit ihm hatte. Ich war mir nun endgültig sicher, dass das Geschehene absolut kein Zufall war. Ich hatte es in dem Moment noch nicht gemerkt, aber nun erkannte ich, dass Gott da gewesen sein musste.
Ich verspürte etwas wie große Ehrfurcht, Freude und am meisten Dankbarkeit gegenüber Gott. Nie hatte ich mir zuvor so viele Gedanken zu diesem Thema gemacht. Für mich war Gott immer nur der eine alte Typ, an dessen Existenz man erst zu glauben wagte, wenn es drauf ankam. Aber dass er tatsächlich auch da war wenn man nicht nach ihm suchte oder dass er wirklich an meinem Leben interessiert war, hatte ich nie in Erwägung gezogen.
Umso aufgeregter war ich, dass ich heute zum ersten Mal eine Kirche betreten würde mit neu geschöpften Kenntnissen und echter Neugierde nach dem, was ich dort finden könnte.
Als ich den Schlüssel in der Tür hörte, strich ich ein letztes Mal über mein Kleid und lief aufgeregt in den Flur.
Als Kjetill mich sah lächelte er überrascht. "Wow, du hast dich ja schon richtig schick gemacht!", rief er aus und ich trat einen Schritt zurück als er sich die Schuhe abstreifte und vor die Garderobe stellte. Ich nickte grinsend.
"Frohe Weihnachten!", wünschte ich ihm und er drückte mich kurz, während er es mir erwiderte.
Ich musste kichern als Kjetill plötzlich anfing an der Luft zu schnüffeln und dabei misstrauisch die Augenbrauen zusammenzog. "Seit wann trinkst du Kaffee?..", fragte er verwundert und lächelte dabei schief.
"Ich nicht, aber du.", sagte ich einfach und lief in die Küche um die Kaffeemaschine auszustellen. Ich hatte den Tisch schon mal gedeckt und ein paar gekaufte Kekse auf einem Teller verteilt.
Verwundert trat Kjetill über die Türschwelle der abgegrenzten Küche und ließ seinen Rucksack langsam von der rechten Schulter gleiten. Ein kleines Lächeln legte sich auf seine perfekten Lippen und sein Gesicht erhellte sich freudig.
Ich fragte mich, was an ihm eigentlich nicht perfekt war. Sein Erscheinungsbild triefte so voller Vollkommenheit, dass es mir schwer fiel ihn von einer Seite der Schwäche, oder der Macken zu sehen.
Dafür musste ich ihn kennenlernen, das war mir klar. Die Zeit schritt gnadenlos voran und mir wurde gleichzeitig bewusst, dass es eine Grenze geben würde. An irgendeinem Tag war das hier vorbei und ich würde zurück in mein altes Leben gehen müssen.
Ich war nicht pessimistisch, aber durchaus realistisch. Jedoch war genau die Realität etwas, was ich zu verdrängen wusste. Mein naives Ich war gut darin die Realität zurückzudrängen. Also lächelte ich einfach und setzte mich zusammen mit Kjetill an den Tisch, um unser Kaffeekränzchen zu halten. Wobei ich eigentlich Tee trank.
Während wir redeten tauchte ich ständig in meine eigene Welt ab und musste mich mehr als einmal dazu ermahnen, Kjetill beim Essen nicht unhöflich anzustarren. "Okay ich mapf miff dan ma schnell pfertig.", nuschelte Kjetill mit vollem Mund, nachdem er sich zwei Kekse gleichzeitig in den Mund schob. Als ich darüber lachte hob er gespielt entrüstet die Hände, als wüsste er überhaupt nicht was an seinem Verhalten lustig gewesen war.
***
Um genau 15.50 Uhr stiegen wir aus dem Auto, das Kjetill halbherzig in eine noch freie Parklücke gequetscht hatte. Wir waren viel zu spät dran, denn der Gottesdienstbeginn war in 10 Minuten. "Beeil dich!", rief Kjetill gestresst während er eilig die Autotür zuschlug und den Wagen abschloss. Ich hätte echt nicht gedacht, dass wir bei unserem anfänglichen Zeitüberschuss irgendwie unter Druck geraten könnten. Aber Kjetill hatte, - aus welchem Grund auch immer - viel zu lange rumgetrödelt, bis wir mit Schrecken den Zeitvorschritt bemerkt hatten. Dann standen wir auch noch im Stau und ich hatte Kjetill das erste mal etwas aufgebracht gesehen. Ich konnte ihn aber irgendwie nicht wirklich ernst nehmen, wie er sich über jede rote Ampel aufregte. Es war, als müsse er irgendwelche Qualen während der Wartezeit durchstehen. Als ich ihn fragte was denn so schlimm an ein bisschen warten war, sah er mich fast schon ein wenig ertappt an. Von was, verstand ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
"Ich bin bloß ein bisschen ungeduldig", hatte er gesagt. Vielleicht hatte ich in diesem Moment eine Macke von ihm entdeckt.
Und so eilten wir schnellen Schrittes die Straße hinab, während leichte Schneeflocken vom Himmel hinabtanzten und den Stoff unserer Jacken benetzte. Ich hatte ein wenig Schwierigkeiten mit Kjetill mitzuhalten, da meine Beine um einiges kürzer als seine waren und lief deshalb ein paar Meter hinter ihm her. Dabei fiel mein Blick auf seine Schultern, die sich geschmeidig mit ihm bewegten. Ich weiß nicht ob es an den Umständen und den vielen Eindrücken lag die mich verwirrten und durcheinander brachten, jedoch spielte meine Fantasie plötzlich verrückt und ich stellte mir vor, wie sich zwei kräftige Engelsflügel von Kjetills Rücken abhoben. Es passte einfach perfekt ins Bild! Der Schnee der um uns herum aufwirbelte und die Straße vor uns in ein episch weißes Bild legte.
Und mitten drin war Kjetill, dessen anmutige Gestalt sich durch das Umfeld bewegte. Fasziniert starrte ich auf seine Schultern und die nicht vorhandenen Flügel, die sich in meiner Fantasie jedoch wie zwei Giganten in die Luft abhoben.
Plötzlich drehte sich Kjetill um und mir wurde mit einem Mal unglaublich heiß. Ich starrte ihn jedoch einfach weiterhin an und musste blinzelnd in die plötzliche Realität zurückfinden. Das Bild in meinem Kopf zerplatzte und ich räusperte mich resigniert, als Kjetill mich verständnislos ansah. "Kommst du?"
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich einfach stehen geblieben war. Sofort setzte ich mich wieder in Bewegung, um wieder den Abstand zwischen uns aufzuholen. "Tut mir leid, hab geträumt", gab ich kleinlaut zu und vermied seinen fragenden Blick.
Wir kamen über einen Parkplatz, der zugestellt mit Autos war. Von Weitem erkannte ich schon ein Gebäude, was wir in absehbarer Entfernung erreichen und betreten würden. Vorfreude und Aufregung stiegen in mir auf. "Ist das deine Kirche?", fragte ich neugierig und auch etwas verwundert. Ich hatte mit einer alten Kirche gerechnet. Eine mit Kirchturm und beeindruckenden Fensterbildern. Mit Kirchbänken und einem Altar. Doch Kjetill nickte nur lächelnd.
Das ziemlich normal aussehende Gebäude bot mir einen ganz anderen Ausblick als ich erwartet hatte. Fast war ich ein wenig enttäuscht, weil sich das Bild in meiner Vorstellung nicht erfüllte. Aber als wir die Treppenstufen des Gemeindehauses hinaufstiegen wurden wir herzlich von ein paar Leuten begrüßt, die Kjetill auch gut zu kennen schien.
"Heyy, was geht Bro, Frohe Weihnachten!", sagte gerade einer der jungen Männer und klopfte Kjetill freundschaftlich auf die Schulter. Ich stand etwas überflüssig daneben, doch dann kam ein hübsches Mädchen zu mir, vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich: "Hey, cool dass du da bist! Frohe Weihnachten auch dir!"
Sie hatte wunderschönes blondes, welliges Haar. Ihr rotes Kleid unter dem geöffneten Mantel stand ihr ausgesprochen gut und ihre ebenfalls roten, vollen Lippen lächelten mir selbstbewusst entgegen.
Ich lächelte etwas schüchtern, als sie mich offen anlächelte und mir freudig die Hand gab. "Herzlich Willkommen, komm doch rein. Bist du mit Kjetill gekommen?"
Sie schaute suchend zwischen ihm und mir hin und her und ich nickte schnell. "Ja und danke, dir auch frohe Weihnachten", gab ich unsicher von mir und versuchte nicht allzu überfordert auszusehen, nachdem ich praktisch von ihrer Ausstrahlung geblendet wurde.
"Cool, dann beeilt euch mal! Vielleicht findet ihr noch einen Platz", sagte sie schmunzelnd, wobei ich ihr anmerkte, dass sie sich Mühe gab ihre neugierige Miene hinter einer neutralen zu verstecken. Ich fragte mich sogleich, wie ich auf die Leute wirken musste. Was sie sich dachten, wenn sie den 19-Jährigen, anscheinend gut gekannten Kjetill, mit einem fremden Mädchen wie mir sahen. Sogleich hatte ich das Bedürfnis ihr klar zu machen, in welcher Position wir überhaupt zueinander standen und dass ich nicht mal daran zu denken wagte, etwas ernstes von Kjetill zu wollen. Mit einem klitzekleinen Eifersuchtsstich musste ich die bittere Realität hinunter schlucken und erkennen, dass ich keine Chance hatte. Ganz im Gegensatz zu dem Mädchen vor mir, welches Kjetill gerade herzlich mit einer Umarmung begrüßte und ihm sogar ein kleines Geschenk aus ihrer Handtasche in die Hand drückte.
Er bedankte sich und es wirkte so, als würden sie sich ziemlich gut kennen, denn auch er zog nach einem Grinsen etwas aus seiner Karamellfarbenden Jackentasche und überreichte es ihr. "Mach es erst Zuhause auf!", sagte er und verabschiedete sich mit einem geheimnisvollen Nicken für den Gottesdienst. Etwas widerstrebte mir daran, dass sie sich so nahe standen. Etwas wie Eifersucht regte sich in meinem Magen und begann die Schutzwälle um mein Herz kaum merklich zu festigen. Bis jetzt war Kjetill für mich jemand gewesen, der sich nur mir zugewendet hatte. Es war, als hätte ich tatsächlich in einer Traumblase gelebt, die nur Platz für mich, Kjetill und meine Probleme hatte. Eine Wohlfühlzone der Zuwendung und Aufmerksamkeit. Jedoch auch eine naive Illusion die mich vergessen ließ, dass Kjetill auch sein eigenes Leben hatte. Mit Menschen die ihm nahe standen und dessen Beziehung er ebenfalls pflegte.
Etwas verärgert über mich selbst folgte ich Kjetill und zuckte zusammen, als er mich sofort entschlossen am Arm packte und mich daran durch das wärmende Foyer zog, welches ziemlich leer wirkte.
"Komm, wir haben höchstens die ersten Ansagen verpasst, denke ich", sagte er.
Wir traten durch die Tür, die offensichtlich in den Gemeindesaal führte. Eine erneute Wärmewelle schwappte über mich und ich begann zu schwitzen. Jedoch war mein Hirn noch damit beschäftigt die Eindrücke zu verarbeiten, so dass ich erst darauf reagierte, als Kjetill mir vorschlug den Mantel auszuziehen. Auch er hatte seine Jacke ausgezogen und ich stutzte erstmal als ich erkannte, wie gut ihm der schicke schwarze Anzug stand. Wie hoch konnte das Maß an Attraktivität eigentlich ansteigen?
Wir befanden uns in einem großen Raum, der vollgestellt mit Stühlen war. Überall saßen Leute die schick gekleidet auf eine riesige Leinwand vorne über der Bühne blickten. Auch meine Aufmerksamkeit wurde davon in Beschlag genommen, denn es spielte sich ein Film ab, der epische Filmabschnitte von der Geschichte Jesu zeigte. Ich sah wie Josef und Maria der Engel erschien. Die Stelle wo Maria und ihr Mann auf dem Esel reitend die Stadt verließen. Die Suche nach einer Herberge und die ständige Abweisung.
Ich war so in der epischen Kurzerzählung gefangen gewesen, dass ich nur benommen blinzelte, als Kjetill mich sachte in eine Sitzreihe schob, damit wir uns setzten konnten. Kurz blickte ich zu ihm, nur um sicher zu gehen wie sein Ausdruck war. Seine tiefbraunen Augen leuchteten wie immer.
Ich unterdrückte ein Schmunzeln und richtete meine Konzentration wieder auf die Leinwand. Da wir ziemlich hinten saßen, mussten wir das Geschehen durch die Liveaufnahme darauf verfolgen.
Ich war immer noch ziemlich fasziniert von der Größe des gesamten Gottesdienstes und der ganzen Technik, als der Pastor auf die Bühne ging und uns alle begrüßte. "Guten Abend meine lieben Freunde, Herzlich Willkommen zu unserem Weihnachtsgottesdienst! Lasst uns den Gottesdienst mit einem Lied beginnen und das feiern, was dieser Tag für uns bedeutet!"
Wir sangen ein bekanntes Gemeindelied was ich schon oft bei meinen beschränkten Kirchenbesuchen mitgesungen hatte. Jedoch mit kaltem und versteinertem Herzen, welches bloß darauf bedacht war den strengen Blicken meiner Eltern zu gehorchen.
Doch dieses mal waren diese nicht da und ich erlaubte mir zum ersten Mal einfach nur zuzuhören. Ich nahm die andächtige und friedvolle Atmosphäre in mich auf und begann sie einfach zu genießen. Dabei konnte ich es nicht lassen, verstohlen zu Kjetill zu schielen, der aus voller Kehle mitsang. Seine Stimme war nicht unangenehm, aber ich musste sagen, dass er nicht sonderlich gerade sang.
Ich wusste nicht was ich von ihm erwartet hatte, aber irgendwie war es eine weitere Sache, die nicht in mein Bild von ihm passte. Eine Sache, die seine perfekte Seite aus einem anderen Licht beschien. Aber ein Licht, dass mir wahre Schönheit offenbarte. Denn Kjetill war echt. Er war jemand mit Schwächen und Stärken. Und das öffnete mir ein wenig meine Augen. Ich war es würdig neben ihm zu sitzen. Er war nicht heilig.
Der Verlauf des Gottesdienstes gefiel mir sehr. Es war zwar nichts anderes als die bekannte Weihnachtsgeschichte, die ich zuvor auch immer gehört hatte. Aber zum ersten mal interessierte ich mich aufrichtig für diesen Jesus, der extra von Gott auf die Erde geschickt worden war. Der sich tatsächlich den Umständen der Normalsterblichen Menschen anpasste und als hilfloses Menschenbaby geboren wurde. Ich meine, er ist der Sohn Gottes! Welcher König hätte es nötig seinen einzigen Sohn auf diese kalte Welt zu schicken, wenn er doch alles da oben im Himmel hat? Er hätte es nicht tun brauchen, denn die Menschen waren ihm doch eh andauert nur in den Rücken gefallen! Sie lebten gottlos und nicht ehrfürchtig. Und Gott gab das her, was er noch als letztes übrig hatte. Seinen Sohn.
Ich erinnerte mich sogleich an seine Kreuzigung, die in dem kurzen Leben von Jesus geschah. Wenn Gott doch alles weiß.. dann wusste er doch auch, dass sein Sohn im Alter von 33 Jahren einmal schmerzvoll sterben wird?! Und das Opfer was er gab, musste ihm doch alles bedeutet haben, oder?..
Ich fühlte mich überwältigt von dieser selbstlosen Hingabe. Was hatte Gott bloß dazu bewegt, seinen Sohn in diese Welt zu schicken?
Ich wusste, dass Jesus ein Revolutionär und Friedensstifter war. Wollte Gott vielleicht die Kontrolle über seine Schöpfung wieder haben? Aber das konnte nicht sein. Das hätte er doch auch so hinbekommen, wenn er es wollte. Er war doch Gott!
Fragen über Fragen stürzten über mich ein und ich hatte das Gefühl zu ertrinken, weil ich keinen Halt fand, der mir sicher sagen konnte was ich glauben sollte.
Ich sah zu Kjetill. Seine Miene war so voller Zuversicht und ernsthafter Überzeugung, dass ich mir sicher war, dass nur seine Beziehung zu Gott ihn so stark gemacht hatte.
Als er meinen Blick bemerkte, lächelte er wieder fragend. Mein Herz begann einen Takt schneller zu schlagen. Vorsichtig lehnte ich mich ein Stück zur Seite um ihm ins Ohr zu flüstern. Dabei berührten sich unsere Oberarme leicht und ich spürte eine Gänsehaut unter dem Stoff meines Ärmels. "Ich hab so viele Fragen"
Kjetill lächelte verständnisvoll. "Das ist normal, Gott ist nicht so einfach zu verstehen.", flüsterte er zurück, wobei seine Stimme mir in den Ohren kitzelte.
Ich lehnte mich zurück und sah wieder auf den Bildschirm. Genau in diesem Moment erschien mein und Kjetills Gesicht auf der Leinwand. Die Live-Kamera fokussierte kurz auf unsere Gesichter und ich schaffte es gerade noch Kjetill anzustubsen und ihm dies mitzuteilen, da wechselte das Bild plötzlich wieder woanders hin.
Ich machte mir keine weiteren Gedanken dazu und horchte bei den letzten Worten den Pastors auf: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn gab, damit alle die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben."
Während wir die letzten Lieder sangen dachte ich nochmal genauer darüber nach. Das waren krasse Worte. Denn erstens war es nun mal Gottes Sohn. Zweitens tat er es allein aus Liebe, die jedoch völlig unerwidert war, also sozusagen kompromisslos. Und drittens versprach Gott den Menschen hier das ewige Leben, was nicht mal ansatzweise in meinem Kopf Sinn zu ergeben schien. Auf der Erde wohl nicht. Und wenn damit der Himmel gemeint war, dann musste Gott wirklich irgendwie besessen von den Menschen sein, denn welcher König holte freiwillig die Diebe in seinen Palast?
Mein Kopf schoss zu Kjetill. Ich wusste ja nun, dass Kjetill nicht Gott war. Aber wenn nicht, dann kannte ich jetzt einen Menschen, der sehr wohl Diebe in sein Haus holte.
Eine Frage begann wie Feuer auf meiner Zunge zu brennen und ich brachte es nicht fertig damit bis zum Ende zu warten. Also lehnte ich mich nochmals zu ihm rüber und flüsterte aufgeregt: "Was findet Gott so toll an den Menschen? Wieso lässt er sie nicht einfach, er braucht sie doch gar nicht!"
Kjetill lächelte. Seine braunen Augen leuchteten so intensiv, wie noch nie. Sein Gesicht strahlte so viel Wärme und Geborgenheit aus, dass ich mir sicher war Gott sprach in diesem Moment durch Kjetill zu mir: "Oh, dass ist ganz einfach. Erinnerst du dich an den unermesslichen Wert, von dem ich dir erzählt habe?"
Ich nickte gebannt.
"Das nennt man radikale Liebe. Du warst es nicht Wert. Aber er gab dir Wert und der ist so groß, dass nichts auf der Welt dich jemals schmutzig genug für ihn machen könnte. Er weiß wie verloren wir sind. Und deshalb lässt er nicht los. Das ist Gnade."
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