17 - Silvester 2.0 - Neuanfang?
Neuanfang?
Wir stürzten uns auf das Essen, wie zwei ausgehungerte Wölfe. Die Stimmung im Raum war heiter und familiär und weckte in mir einen neuen Geist der Euphorie, der im hier und jetzt leben wollte.
"Ich freue mich schon auf das Feuerwerk", nuschelte Noah mit vollem Mund, während ich versuchte mein Essen ordentlich zu mir zu nehmen. Ich nickte zustimmend. Eigentlich war ich nie so richtig davon zu begeistern gewesen. Es war laut, stank und hinterließ am Ende nichts als Müll, den keiner weg machte. Aber jetzt, in diesem Moment fühlte ich Vorfreude.
"Hast du irgendwelche Ziele für das nächste Jahr?", fragte mich Noah, als wir uns seufzend mit vollem Magen zurücklehnten. Ich zögerte. Ich wusste, dass sich etwas ändern musste. Ich wusste, dass ich die Initiative ergreifen musste und in meinem Leben eine neue Wendung einleiten sollte, weil es sonst keiner tun würde. Aber ich hatte mir noch gar keine Gedanken gemacht wie die konkreten Schritte dazu aussehen könnten und wie ich überhaupt in der Lage dazu sein könnte etwas zu ändern.
"Ich möchte mutiger werden.", sagte ich also zögerlich und realisierte gleichzeitig was ich mir da vorgenommen hatte. Es bedeutete, dass ich mich einem Prozess aussetzten musste, um dann Stück für Stück den Menschen und Umständen gegenüber treten zu können. Es bedeutete, dass ich anfangen musste mich dem Monster zuzuwenden, was immer größer geworden war, umso älter ich wurde. Es nicht mehr länger zu ignorieren, sondern es zu fixieren, darauf loszulaufen und zu besiegen.
"Aber du bist das mutigste Mädchen, das ich kenne", hörte ich Noah neben mir sagen und ich musste mich beherrschen nicht zu kichern. Das klang ja alles so theatralisch!
"Was redest du da?", lachte ich ungläubig.
Aber in Noahs Blick lag Verständnislosigkeit.
"Meinst du das ernst? Du.."
Er stellte seinen Teller beiseite, die Augenbrauen eng zusammengezogen, während er etwas aufrutschte, um mich besser ansehen zu können. Einen Moment verharrte er in dieser Position, den Mund zu einem Redeansatz geöffnet, als er ihn schweigend wieder schloss. Sein Blick wurde wieder sanfter, fast als wäre er plötzlich erschöpft.
"Du merkst das nicht mal..", stellte er eher zu sich selbst sagend fest und schüttelte den Kopf.
Ich blinzelte verwirrt und wollte zu einer Antwort ansetzten, aber in dem Moment sprang der Korken einer Weinflasche mit einem lauten Knall an die Decke und der Geräuschpegel der Leute schwoll um einiges an, füllte den Raum mit erheiterndem Gelächter. Ich vergaß was ich sagen wollte und was Noah gesagt hatte, stand auf und erblickte in dem Moment meine Mutter, welche sich mit verquollenem Blick sachte von Marleen in den Raum schieben ließ. Ich bemerkte wie sie sich in einer unauffälligen Geste übers Gesicht strich und versuchte nicht all zu vielen Menschen ins Gesicht zu blicken. Ich runzelte die Stirn.
Was war bloß in sie gefahren? War sie es nicht gewesen, die mich zusammen mit meinem Vater davon abhalten wollte mich mit Noah zu treffen? Und jetzt ließ sie sich aus was für Gründen auch immer von seiner Mutter trösten?..
Ich ließ mich zurück neben Noah aufs Sofa plumpsen. Es brannte mir auf der Zunge über meine Mutter und ihr Verhalten herzufallen, aber ich riss mich zusammen und sagte stattdessen etwas anderes: "Mir fällt es total schwer zu vergeben." Die Worte kamen ebenfalls nur schwer über meine Lippen, aber ich spürte dass sie gesagt werden mussten. Ich spürte, dass ich mich dem bezüglich jemandem öffnen musste. Ich starrte weiterhin zu meiner Mutter, die sich in ein Gespräch intrigrieren ließ. -mehr oder weniger.
"Du redest von deiner Mutter, oder?"
Noah sah ebenfalls zu ihr herüber. Ich zuckte nur kurz mit den Schultern um ihm meine Unentschlossenheit zu offenbaren. "Naja, auch. Aber ganz generell gesehen. Mir fällt es schwer Menschen dafür zu vergeben, was sie mir angetan haben und ich merke, wie mich das ebenfalls kaputt macht. Sie verdienen es nicht mal, dass ich ihnen vergebe, also warum sollte ich?" Noah nickte.
"Aber beim Vergeben geht es ja eben nicht darum, ob man es verdient hat oder nicht. Es geht darum abzuschließen mit etwas, es zwar nicht zu vergessen, aber es zu akzeptieren und aus Liebe darüber hinwegzusehen."
Meine Zuversicht sank ein weiteres Stück. Es fühlte sich an, als würde man Unmögliches aus mir heraus fordern wollen, was gar nicht vorhanden war. Ich hatte da einfach keine Lust drauf!
"Das bedeutet ja nicht gleich, dass du alles was passiert ist ignorieren und die kaputten Verhältnisse überspielen sollst."
"Und was ist, wenn ich keine Liebe für diese Menschen übrig habe?" , flüsterte ich kaum merklich und sah auf meine Hände.
Wie schrecklich sich das anhörte. Ich wollte nie zu einem dieser Menschen werden, die die Liebe in sich verloren hatten. Mein Motto war es immer gewesen nett und freundlich zu sein in einer Welt, wo man nun mal alles sein konnte. Warum nicht einwenig Sonnenlicht verbreiten, anstatt sich dieser Kaltherzigkeit zu widmen?
Ich hatte immer gedacht, dass Freundlichkeit der Schlüssel der Zufriedenheit war, indem man all den Hass, die Negativität, den Schmutz an sich abperlen ließ und eine Fassade des Sonnenscheins errichtete. Ich dachte immer, es konnte keine bessere Waffe im Leben geben, als unschlagbare Freundlichkeit, Güte und Nachsichtigkeit, einfach weil die Welt nicht damit rechnete. Aber im Grunde genommen war es eben auch nie mehr bei mir gewesen als das: eine bloße Fassade.
Noah legte mir eine Hand auf die Schulter, warm und tröstend. Wie ein echter Freund.
"Dann bittest du deinen Vater im Himmel um die nötige Liebe und er wird sie dir schenken. Du musst nichts aus eigener Kraft schaffen, Ella. Das muss niemand von uns. Du bist schon ein unglaublich starkes Mädchen und auch wenn ich nicht immer für dich da sein konnte und wir nicht immer so viel reden konnten wie jetzt gerade, ist mir bewusst, dass du langsam aber sicher an diesen Lasten zugrunde gehst."
Er hatte so recht. Ich ging daran kaputt. Freundlichkeit reichte nun mal nicht aus um den brennenden Pfeilen standzuhalten, die einer nach dem anderen mein Leben trafen. Mein Herz hatte versucht stark und nachsichtig zu sein, aber auch das ging nicht, wenn ich versuchte aus meiner eigenen Kraft stark zu sein.
"Du hast ein reines und gutmütiges Herz und wenn du weiterhin versuchst diese Welt aus deinen Kräften zu besiegen, wirst du daran zerbrechen. Und das will ich nicht."
Da war tatsächlich etwas von Sorge und Zerbrechlichkeit in seinem Blick und es berührte mein Herz so sehr, dass Noah so achtsam und ermutigend mit mir sprach. Es rann regelrecht wie Honig durch mich hindurch, wie das kitzeln leichter Sonnenstrahlen auf den Fingerspitzen, wenn sie sich für einen kurzen Moment aus den Wolken herausschob.
"Danke... ich weiß deine Worte zu schätzen..", sagte ich verlegen und den Tränen nahe. Ich war viel zu nah am Wasser gebaut.
"Wie wäre es, wenn wir gleich jetzt dafür beten?"
Ich hob überrascht den Blick, blinzelte die Feuchtigkeit aus meinen Augen."Jetzt?"
Noah erwiderte schon gar nichts mehr darauf, sondern festigte bloß seinen Griff auf meiner Schulter und begann zu beten:
"Oh, Vater im Himmel. Du siehst Ellas zerbrochenes Herz und die ganzen Lasten, die sie zu tragen hat. Ich bete dafür, dass du sie heilst und dass du ihr kaputtes Leben wiederherstellst. Ich bete, dass dein Licht in ihr Leben kommt und dass du all die Schatten aufdeckst, die sie belagern. Dass du ihr hilfst ihr Herz zu öffnen und dass sie fähig wird zu vergeben. Dass du ihr Herz mit Liebe überflutest und sie lernt von den Dingen loszulassen, die sie quälen. Ich bete dafür, dass sie freigiebig lieben kann und es ihr Stück für Stück leichter fällt ihrer Mutter und ihrem Vater zu vergeben. Fülle sie mit deinem Frieden, der nicht von dieser Welt ist und lass sie deine Liebe spüren und darin auftanken und ihre Kraft aus deiner Quelle suchen. Ich lege sie in deine Hände und bete für Führung und Weisheit in deinem Namen. Amen."
Mit einem leichten Nachdruck zog Noah seine Hand zurück und ich fand blinzelnd in die Realität zurück. Eine enorme Welle der Geborgenheit überrollte mich und ich konnte spüren, wie sich eine wohlige Wärme in meinem Inneren ausbreitete. Erstaunt blickte ich zu Noah, der mich lächelnd ansah. Tatsächlich fühlte ich mich, als hätte mir Gott höchstpersönlich sanft über die Wange gestrichen und gesagt: "Sorge dich nicht, ich bin bei dir."
Das Gefühl soeben gestillt worden zu sein war so präsent in mir und mit einem Mal erinnerte es mich daran, als ich mich so trostlos an das öffentliche Klavier in der Markthalle von Kjetills Stadt gesetzt hatte. Auch dort hatte ich dieses Gefühl von tiefem Frieden verspürt. Ich begann mich zu fragen, ob es Gott war der mich in dem Moment und auch jetzt gerade mit seinem Trost gefüllt hatte.
"Danke, mir geht's schon viel besser." , sagte ich und meinte es auch so. Ich versuchte diese Ruhe in mir einzuordnen, die sich so natürlich und dennoch so fremd anfühlte, als wäre sie tatsächlich nicht von dieser Welt.
"Ich finde du solltest mit deiner Mutter reden." Unsere Blicke trafen sich erneut und ich konnte nicht anders, als ihn stirnrunzelnd anzusehen. Hatte ich nicht gerade gesagt, dass ich noch nicht bereit dazu war?
"Komm schon, es ist die letzte Chance es noch dieses Jahr zu begraben. Wann, wenn nicht jetzt?"
Die Beklemmtheit drohnte wieder aufzusteigen, aber dieses Gefühl der Besänftigung war so stark in mir, dass es gleich wieder verschwand.
"Aber worüber soll ich denn mit ihr sprechen? Es gibt nichts zu sagen und außerdem hab ich keine Lust am Ende wieder die Schuldige für alles zu sein. Du weißt nicht wie das ist der Sündenbock zu sein."
Noah bedachte mich mit einem kritischen und doch verständnisvollem Blick. "Was hast du zu verlieren? Du wolltest doch mutiger sein! Also hör auf Ausreden zu finden und sprech dich mit deiner Mutter aus. Ich glaube ihr habt euch mehr zu sagen, als du denkst."
Ich seufzte, sah im selben Moment aber doch zu ihr zurück. Ihr Blick schweifte suchend durch den Raum und blieb an mir hängen, als sie mich unter den Leuten ausmachte. Die Augen waren verquollen vom Weinen.
Aus irgendeinem Grund machte dieser Blick etwas mit mir. Ich konnte nicht länger stillsitzen. Ich stand auf, bewegte mich wie automatisch auf sie zu.
In diesem Moment traf ich einen Entschluss. Noah hatte Recht, es war Zeit Dinge zu klären, anzusprechen. Etwas stimmte nicht mit ihr und egal was sie so beschäftigte und egal was vorher passiert war, ich musste es wissen.
Als ich vor ihr stand, brauchte ich nicht einmal etwas zu sagen, da schob sie mich schon an der Schulter durch den Raum. "Wir müssen reden.", sagte sie mit belegter Stimme, als hätte sie den gleichen Gedanken gehabt wie ich.
Überrascht ließ ich es über mich ergehen.
Wir verließen den Veranstaltungsraum und betraten erneut den nun fast leeren Gemeindesaal, wo sich nur noch vereinzelt Leute aufhielten, die abbauten oder sich in angenehmer Lautstärke unterhielten.
Kribbelige Neugierde regte sich in mir, gemischt mit etwas Unbehagen und Zweifeln, die es mir verboten zu große Erwartungen zu hegen.
Mutter setzte sich auf einen der Stühle in den hintersten Reihen und ich folgte ihr zögerlich, ließ mich neben sie auf dem Sitz nieder. Etliche Fragen brannten auf meiner Zunge, aber ich schwieg. Ich wollte nichts überstürzen.
Neben mir schniefte es und als ich zu meiner Mutter blickte, hatte sie ihr Gesicht in den Händen vergraben. "Warum weinst du?", fragte ich dann doch mit kratziger Stimme. Es ging mir einfach kein Licht auf, was passiert sein könnte. Würde sie gerade einen ihrer emotionalen Anfälle haben, hätte sie mich schon längst verbal angegriffen. Aber sie schwieg und schniefte, presste sich bloß bitter die Hand vor den Mund, als hätte sie etwas schreckliches getan. Etwas schreckliches ausgesprochen.
"Mama.", sagte ich mit festerer Stimme. "Wir müssen jetzt was besprechen."
Endlich sah sie mich an, versuchte sich zu beruhigen und nickte dann schnell. Etwas in mir drin streckte sich danach aus, sie zu berühren. Sie zu trösten und zu fragen, was passiert war. Aber der harte Kern in mir, der die letzten Wochen so an Form zugenommen hatte, hinderte mich daran, als würde ich meine Finger an ihr verbrennen.
Fall nicht auf diese Spielchen rein!, schrie es in mir drin. Sie wird dich wieder verletzten. Dich stehenlassen, alleine lassen und beschuldigen.
Ich schluckte. Ich würde mir nicht noch einmal die Finger verbrennen lassen. Schlimmer: Mein Herz!
Mit aller Härte die ich aufbringen konnte sah ich sie an. Versuchte mir nichts von dem Wunsch anmerken zu lassen, ihr in die Arme zu fallen. Ich war nicht länger die Schwache, biegsame Ella, die man rumschubsen konnte. Ich musste Stark sein.
"So geht das nicht weiter.", würgte ich die Worte hervor. "Du weißt, dass eine Menge Mist Zuhause abläuft und machst gar nichts." Ich sah sie nicht an dabei. Ich wollte nicht sehen, wie sie auch jetzt wieder teilnahmelos danebensaß und sich die Selbstmitleidstränen abwischte. "Ich hatte allen Grund dazu abzuhauen und wäre ich nicht noch ein Teenager der ein Zuhause braucht, würde ich es gleich nochmal machen."
"Ella..", kam es zaghaft von der Seite, doch ich war jetzt noch nicht bereit mir ihre Worte anzuhören. Jetzt wurde ich gerade warm und ich hatte noch einiges zu sagen!
"Ihr habt mir so vieles kaputt gemacht und es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe. Eine Vierzehnjährige sollte nicht mit solchen Dingen konfrontiert werden und schon so kaputt sein, dass sie einfach geht. Ich mach das nicht mehr mit. Wenn ihr euer Leben nicht auf die Reihe kriegt, werde ich meins nicht mehr länger mit eurem verbringen. Ich lass es nicht mit eurem untergehen! Ich hab noch was vor damit, falls es dich interessiert."
Jetzt sah ich doch zu ihr rüber und für einen Moment drohte ich zu taumeln. Es lag so ein Schmerz, so eine Zerbrochenheit in ihrem Blick. Ich zuckte erschrocken zurück, unfähig weiterzusprechen. Was war das für ein Schmerz in ihrem Blick? War das Reue?
Plötzlich musste ich an Noah denken, wie er sagte, ich solle versuchen es nicht aus eigener Kraft zu schaffen. Und auch Kjetills weiche Stimme klang deutlich in meinem Ohr nach, dass ich versuchen sollte zu vergeben.
Ich hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Wie sollte ich denn vergeben, wenn die einzigen Gefühle in mir Wut, Verletztheit und Hass waren?
Doch ich schaffte es nicht mehr etwas zu sagen, denn meine Mutter fing an zu sprechen. Sie sagte nicht viel und doch reichte es, um mich zu lähmen, um mich unfähig zu machen, überhaupt noch etwas zu sagen.
"Ella, ich weiß."
Was sollte das? War das ein Geständnis? Hatte sie begriffen, dass sie dabei gewesen war mich zu ertränken?
"Dein Vater und ich..wir führen kein vorbildliches Leben. Es..es tut mir so wahnsinnig leid was du ertragen musst und ich wünschte ich könnte es wieder rückgängig machen.."
Ihre braunen Augen glänzten matt und spiegelten pure Zerschlissenheit und Reumütigkeit wieder. Ich konnte es kaum glauben. Versuchte sie mir gerade zu erklären, dass sie begriffen hatte, was für eine beschissene Mutter sie mir die letzten Jahre gewesen war? Einfach so?
"Rückgängig machen?", fragte ich fassungslos. "Das kannst du nie wieder rückgängig machen!" Ich wusste nicht was ich fühlen sollte. Da kam mir ein Gedanke, der sich mir eingebrannt hatte, als wäre er meine Identität: "Ich weiß schon, am liebsten hättest du mich gar nicht erst geboren. Aber das kannst du auch nicht mehr rückgängig machen.", sagte ich tonlos."Kümmer dich lieber darum, wie du deine Zukunft wieder in den Griff bekommst."
"Ich habe dich nie bereut, Ella."
Etwas in mir brach in diesem Moment. Etwas von der falschen Stärke, von der Mauer meines Kerkers. Ein Riss, der sich sachte durch den klumpigen Kern zog. Ein Luftzug an Hoffnung fiel in mich hinein, erstickte jedoch so schnell, wie er gekommen war.
Sie lügt! Sie hat mir nie gesagt, dass sie mich liebt! Sie hat mich ein Leben lang behandelt wie eine Last oder Luft.
Bei dem Gedanken daran, wie ich mir gewünscht hatte sie würde mich anschreien, anstatt mich weiterhin wie Luft zu behandeln traten mir dann doch die Tränen in die Augen.
"Wann hast du mich jemals geliebt?", fragte ich kränklich und machte mir keine Mühe mehr die Tränen zu verstecken. Es war doch eh offensichtlich, dass ich daran kaputt gegangen war! Es half nichts, mir was vorzumachen.
"Ich weiß, du hast nicht sonderlich viel davon gespürt. Ich weiß, ich war dir keine gute Mutter. Aber geliebt habe ich dich immer, Ella." Ihre Stimme wurde zum Ende hin immer leiser und ich traute meinen Ohren nicht. Was sagte sie da?! War sie verrückt geworden?!
"Ich weiß nicht welche Tabletten du genommen, oder nicht genommen hast, aber ich glaub dir kein verdammtes Wort!", zischte ich wütend und fing mir einen überraschten Blick von einem der Männer ein, die die Liederbücher einsammelten. Geliebt! Ich glaube meine Mutter wusste nicht, wie dieses Wort zu definieren war!
"Ich verstehe, dass du wütend bist. Sei es ruhig, ich hab's verdient. Aber bitte lass mich erklären!", sagte die mir viel zu fremde Frau vor mir, während sie nervös an ihrem Taschentuch herumzupfte. "Meine eigene Mutter hat mich nicht gewollt. Sie wollte eine Abtreibung, als sie schon in der vierten Schwangerschaftswoche war. Die Operation konnte nicht durchgeführt werden, weil die Ärzte sagten, meine Mutter würde bleibende Schäden davon tragen müssen, da sie eine spezielle Vorerkrankung hatte, die sie bei der Operation behinderte. Meine Mutter hat nicht einmal versucht mich zu lieben. Sie hat mir von Tag eins, an dem ich irgendwie verstehen konnte was sie mir sagte weiß gemacht, dass ich ein Unfall und der Fehler ihres Lebens war. Wegen mir konnte sie nicht zu den Olympischen Spielen der Eiskunstläuferinnen und ihre Sportkarriere durchführen. Sie war noch sehr jung, Anfang zwanzig und ihr damaliger Freund verließ sie. Ich habe mein Leben lang darunter gelitten und mir Bestätigung und Liebe bei Jungs gesucht. Ich wollte deswegen nie Kinder."
An dem Punkt stand mir der Mund so weit offen, dass ich es nicht einmal mehr schaffte meiner Überraschung Luft zu machen. Ich war wie versteinert.
"Dein Vater und ich kennen uns schon seit ich achtzehn bin. Er war meine erste große Liebe und für uns war immer klar, dass wir keine Kinder bekommen wollen. Aber wir haben einmal nicht gut genug aufgepasst und dann war ich plötzlich mit dir schwanger. Es war wie ein Alptraum für mich. Ich dachte, jetzt werde ich genau wie meine Mutter und ich versemmel mein komplettes Leben mit meinen 24 Jahren. Du kannst dir denken, dass ich nicht begeistert war und dein Vater war es leider noch weniger. Er.."- sie stockte, als müsse sie kurz überlegen, wie sie es vorsichtig ausdrücken sollte, oder ob sie es überhaupt sagen sollte. Dann gab sie sich einen Ruck: "Du weißt, er hat ein starkes Alkoholproblem. Damals war er schon abhängig von Zigaretten und durch seine Depressionsphasen, die immer wieder auf- und abschwellten griff er immer mal wieder zum Alkohol, um seinen Frust darin zu ertränken. Jetzt ist es natürlich viel schlimmer. Ich war damals zu blind um zu verstehen, dass er viel zu kaputt war, um sich ein stabiles Leben mit ihm aufzubauen. Aber jedenfalls wollte er nicht, dass du in solche Umstände hineingeboren wirst und drängte mich zu einer Abtreibung."
Ich schluckte. Tränen rannen mir stumm übers Gesicht und ich konnte einfach nicht fassen, was gerade passierte. Was mir gerade alles erzählt wurde.
"Aber ich konnte nicht. Ich konnte und wollte nicht den gleichen Fehler machen, den meine Mutter mit mir machen wollte und wollte lieber mit den Konsequenzen meiner Taten leben, als mein Leben lang zu bereuen, mein Kind getötet zu haben. Berndt war sehr sauer auf mich und hat mich angeschrien, ich würde unsere Zukunft verbauen. Wir haben viel gestritten während der Schwangerschaft und nacher habe ich das immer bereut, weil du bis heute bei jedem Wutausbruch deines Vaters in Angstzustände gerätst." Tränen standen nun auch ihr wieder in den Augen.
Was? Was erzählte sie da, das konnte doch alles einfach nicht wahr sein! Am liebsten hätte ich mich wie ein kleines Baby zusammengerollt und bitterlich geweint. Woher wusste sie von meinen Angstzuständen? War ihr das etwa die ganze Zeit bewusst gewesen?! Sie hatte mich doch wie Luft behandelt und nicht einmal meine Panikattaken Nachts bemerkt, als ich heulend und schreiend aufgewacht bin. Doch sie schien es ernst zu meinen und erzählte mit traurigen Augen weiter:
"Wir haben dann beschlossen zu heiraten. Den Teil kennst du ja. Dein Vater hat mich abgöttisch geliebt und ich wollte dir einen sicheren Rahmen einer Familie geben, nicht so, wie ich das erlebt habe. Ich hatte tierische Angst, dass ich dich nicht halten konnte, dass ich dir keine gute Mutter sein würde. Naja, du siehst ja was daraus geworden ist.", sie lachte einmal fassungslos. "Ich wollte dir alles geben, alles ermöglichen, was mir jemals versäumt wurde. Aber es war schwierig, weil dein Vater sich nie genug um dich gekümmert hat. Er ließ mich oft alleine und ging mit seinen Freunden feiern, während ich mich um dich kümmern musste und gleichzeitig den Haushalt schmiss. Irgendwann habe ich mich so einsam gefühlt, dass ich regelrecht daran zerbrach. Ich weiß, dass dein Vater mich immer geliebt hat und es heute auch noch tut, aber er konnte dir nie die Liebe geben, die er mir gegeben hat und das hat mich so verrückt gemacht, dass ich ihm untreu geworden bin. Den unschönen Teil kennst du ja leider auch. Ich fühlte mich nicht mehr wertgeschätzt und suchte so sehr nach Liebe, dass ich dich und deinen Vater total vernachlässigte. Ich wollte mich endlich mal wieder um mich kümmern, weißt du."
Meine Hände zitterten inzwischen aufgelöst. Es so aus dieser Sicht zu hören, war mir so fremd und ging mir dennoch so nah, dass es mich komplett überforderte. Ich hatte nie verstanden, wie meine Mutter uns das hatte antun können. Das war der Punkt in unserem Leben, wo die heile Welt vollkommen zerbrochen war.
Ich hatte immer gedacht, die beiden hatten geheiratet, weil Dad sie nicht als die Schwangere, verlassene Freundin darstehen lassen wollte. Dass er meine Mutter so sehr geliebt hatte, ging nicht wirklich in meinen Kopf.
"Ich kam überhaupt nicht damit klar, dass dein Vater dich nicht als wirklichen Teil seines Lebens ansah, obwohl wir unter einem Dach lebten und eine Familie waren. Es lastete alles an mir und dann tat ich das dümmste, was ich hätte tun können.." sie schüttelte beschämt den Kopf. "Aber auch das, konnte ich nicht mehr gerade biegen."
Jetzt musste ich doch noch mal was sagen: "Du hast doch gewusst dass Vater schwer an der Klippe hing. Du hast ihm und auch mir den letzten Rest damit gegeben. Nur deswegen ist jetzt alles noch viel schlimmer als vorher.", flüsterte ich und ertrug es dennoch nicht, wie sie beschämt die Schultern fallen ließ und nickte.
"Ja, ich wusste es. Ich dachte, es würde nicht ans Licht kommen. Ich dachte, dein Vater würde mir eh alles verzeihen. Sehr dumm und egoistisch von mir. Dabei vergaß ich, dass er dir nicht alles verzeihen würde."
Ein Schluchzer bahnte sich den Weg aus meiner Kehle heraus und ich konnte einfach nicht mehr. Ich klappte einfach zusammen, wie ein geknicktes Papierboot und heulte Rotz und Wasser. Jetzt war es vollkommen um mich geschehen. Ich hatte es mein Leben lang gewusst, dass Dad mich verabscheute. Dass er mir die Schuld an allem gab. Aber es jetzt nochmal so deutlich zu hören, gab mir den Rest. Mein Vater hasste mich.
"Hey, Ella Schätzchen, wein doch nicht.", hörte ich meine Mutter ganz weit weg sagen und es wiederstrebte und beglückte mich zur gleichen Zeit. Konnte das hier vielleicht eine Wiedergutmachung werden? Ein Neunfang?
Eine Hand streichelte mir zärtlich über den Rücken, als ich so gekrümmt auf meinem Stuhl saß, so dass ich mit der Zeit immer ruhiger wurde und die Tränen langsam versiegten. Ich verweilte so, als meine Mutter wieder zu erzählen begann.
"Er hat das bis heute nicht verkraftet. Ich rechne es ihm hoch an, dass er immer noch bei uns ist, nach all dem was passiert ist. Er hätte mich schon längst verlassen können, aber er hat mir versprochen, dass er mich nicht alleine lassen wird. Und das hat er bis heute gehalten. Ich frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn wir unterschiedliche Wege gegangen wären. Vieles wäre anders.."
Die beruhigenden Bewegungen von Mamas Hand auf meinem Rücken hatten mich besänftigt und nun lauschte ich ihr mit einem in der Aufregung erzäugten Hicksen, dass mir unwillkürlich aus der Kehle drang.
"Dein Vater ist ja nach dem Vorfall in schwere Depressionen gefallen und hat seinen Kummer immer mehr im Alkohol ertränkt. Du weißt ja, wie er jetzt ist. Und ich bin einfach daran zerbrochen, Ella. Ich war so leer und verwüstet, dass ich es nicht mehr geschafft habe dir die nötige Liebe entgegenzubringen, die du verdienst."
Wieder traten heiße Tränen in meine Augen. "Meinst du das ernst?", fragte ich und wollte stachelig klingen, jedoch hörte selbst ich den fragenden Unterton in meiner Stimme der wollte, dass sie bejahte. "Natürlich. Ich kann nie wieder gut machen was ich versäumt habe und es tut mir so wahnsinnig weh, wenn ich sehe wie sehr du mich hasst."
Jetzt schoss mein Kopf nach oben. "Ich dachte immer ich bin dir gleichgültig!", protestierte ich und konnte trotzdem plötzlich nicht mehr wütend sein. Da war plötzlich Mitleid und Verständnis in mir. Mein Herz tat weh und ich war immernoch so verwundet wie vorhin, aber plötzlich hatte ich die Hoffnung und den starken Wunsch, dass diese heilen würden. Nicht von heute auf morgen natürlich, aber Stück für Stück.
"Ich war unfähig. Ich konnte dir nicht zeigen, was ich wirklich empfand und ich hab mich gefühlt wie tot. Ich weiß nicht, ob du das jemals kannst und ich erwarte es auch nicht, aber ich hoffe du kannst mir verzeihen, dass ich nicht für dich da war und dich beschützt habe. "
Das war alles so viel. Ich konnte kaum glauben, dass meine Selbstbemitleidende Mutter, die immer duckmäuserisch neben meinem Vater herumgeschlichen war, nun bekannte, dass sie einen riesigen Fehler begangen hatte. Es fiel mir schwer das zu verarbeiten.
"Und jetzt nicht mehr?", fragte ich vorsichtig. "Bist du jetzt nicht mehr so tot innerlich?" und wollte damit eigentlich nur wissen, ob sie wieder so wie früher sein konnte. Die Mama, die sich um ihre Tochter kümmerte.
"Ja.", sagte sie mit so einem glücklichen und selbstüberraschtem Lächeln, dass ich eine Gänsehaut bekam. "Seit heute bin ich frei, glaube ich. Nun ja..", begann sie auf meinen fragenden Blick hin zu stammeln. "Marleen hat mir das erklärt. Sie hat vorhin mit mir gebetet, nachdem die Predigt mich so umgehauen hat und da hat sie mich gefragt, ob ich Jesus kenne."
Ich stutze. War das ein Traum? Konnte mich bitte jemand kneifen! Erzählte mir meine sonst so scheinheilige, kaputte und aufgesetzte Mutter gerade, dass sie eine Begegnung mit Jesus hatte?!
"Ich wusste erst nicht was sie meint, natürlich kenne ich Jesus, wir sind ja auch gelegentlich in die Kirche gegangen.. Aber was sie mir danach erzählt hat, hat mich komplett verändert! Ich kanns dir auch nicht erklären, ich hab plötzlich richtig angefangen zu weinen und es war, als hätte sich in meinem ganzen Herzen so eine tiefe Liebe ausgebreitet, die meine ganzen Ketten gesprengt hat! Marleen hat gebetet, dass ich von meinen Depressionen geheilt bin und plötzlich, noch während sie es sprach, war es, als würde sich ein grauer Schleier von mir lösen, der augenblicklich zu Boden fiel! Marleen hat gesagt, dass Jesus Gnade mit mir hat und dass in seinem Namen alle Ketten und Festungen zerstört werden können, wenn wir erlauben, dass sein Licht in unser Leben tritt. Und obwohl ich so viel falsch gemacht habe, glaube ich wirklich, dass Jesus mir das verzeihen kann. Ich hab zum ersten Mal verstanden, was seine Liebe bedeutet!"
Ich war sprachlos. Ich war so sprachlos, dass ich einfach dasaß und meiner Mutter in die Augen starrte. Diese Person vor mir, war nicht länger die Frau, die ich so angefangen hatte zu hassen. Das war nicht länger die Frau, die an ihren Depressionen zugrunde ging und wutentbrannt Teller gegen die Wände schmiss. Das war meine Mutter. Meine Mutter, wie ich sie immer vermisst hatte.
Spätestens ab diesem Punkt hielt ich es nicht mehr länger aus. Überglücklich schlang ich meine Arme um meine Mutter, drückte sie an mich und vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter. Die Berührung war so ungewohnt, aber als sich ihre Arme zögerlich und doch willig um mich legten, fühlte es sich so an, als würde ein klitzekleiner Teil in mir zu heilen beginnen. Vieles war kaputt gegangen. Aber in diesem Moment spürte ich eine so intensive Liebe, die mich daran glauben ließ, das Unmögliche zu schaffen.
Wir weinten beide. Hielten uns einfach, als müssten wir die vergangenen Jahre wieder aufholen, in denen wir uns verloren hatten. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich einfach unbeschreiblich glücklich. So richtig von innen heraus.
Als wir uns lösten, sah mir meine Mutter so herzensgut in die Augen, dass mir ganz warm wurde. "Plötzlich konnte ich wieder sehen. Ich konnte alles wieder klar sehen als diese Trauer von mir gewichen war und dann wusste ich sofort: ich muss mit meiner Tochter reden! Ich muss was in Ordnung bringen, was schon viel zu lange kaputt gegangen ist. Und ich bin Jesus so dankbar, dass er mir das geschenkt hat. Ab jetzt wird sich alles ändern."
Ich war ebenfalls dankbar. Von Herzen. Ich wusste ganz genau, dass dieser Moment von Gott herbeigeleitet war und fühlte, dass Jesus uns nie alleine lassen würde. Wieder dachte ich daran, dass manchmal schwere Zeiten kommen mussten, damit Gott uns daraus heraus retten konnte. Wie wären wir Gott begegnet, wenn nicht in dem tiefsten Tal unseres Lebens?
Ich hatte unendlich viele Fragen an Gott und auch meine Mutter, fühlte dass da noch so viel Unausgesprochenes und Unaufgeräumtes war. Vergeben fiel mir immernoch nicht leicht und nein, verziehen hatte ich meiner Mutter immer noch nicht für alles. Aber plötzlich sah ich sie mit anderen Augen, konnte verstehen was in ihrem eigenen Leben alles schiefgegangen war und zum ersten Mal dachte ich: Ja, ich würde ihr verzeihen. Stück für Stück. Ich brauchte noch etwas Zeit. Aber wir würden das schaffen.
Gott würde uns nicht verlassen. Oder?
"Ach und noch was.", sagte meine Mutter ruhig. Sie hatte sich inzwischen genauso beruhigt wie ich. "Ich habe verstanden, dass ich in meinem Leben viele Dinge geerntet habe, die zuvor dort hinein gesäht wurden. Viel Gutes natürlich, aber auch sehr viel Schlechtes. Das Obst ist faul geworden. Ich habe die Samen nicht bewässtert , sondern verderben und austrocknen lassen. Und ich habe realisiert, dass auch ich Samen gesäht habe in deinem Leben. Und ich möchte nicht, dass die Ernte genauso schlecht ausfällt, wie bei mir. Ich hab viel kaputt gemacht, viel Unfrieden, Hass und Schuld verbreitet. Ich habe Dinge über unser Leben ausgesprochen, die ich nie hätte sagen dürfen. Das hat viel mehr zerstört, als ich geahnt habe."
Sie legte eine kurze Pause ein und sah mich an. Ich konnte die Schuld auf ihren Schultern spüren.
"Ich habe begriffen, dass mein Leben geprägt war von den Angriffen, die ich in meinem Leben ertragen musste. Nichts davon entschuldigt, was ich euch angetan habe. Ich hätte es besser machen können. Aber ich hoffe, dass du jetzt besser verstehst, warum Menschen manchmal so viel zerstören..
Ella? Als du so lange weg warst, da dachte ich, ich hätte dich jetzt vielleicht für immer verloren. Es hat mir das Herz gebrochen. Ich weiß, ich hätte es viel früher bemerken müssen, aber mit einem Mal habe ich erkannt, dass du alles warst, was ich jemals geliebt habe.
Bitte verzeih mir."
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