13 - Rückkehr

Für einen Augenblick stand ich bloß weiterhin regungslos im Gang und starrte Tess durch die Scheiben der Türen an. Die Tess, die gerade bloß in einem Pullover, einer Jogginghose und Hausschuhen am Bahngleis stand, die Arme bibbernd um den Körper umschlungen. Es hatte ihr wirklich Leid getan.
Schwer wog der weiße Umschlag in meiner Tasche und drückte mir eine ungeheuere Last auf.

Der Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung und dann verschwand Tess aus meinem Blickfeld. Es tat mir im Herzen weh sie dort alleine am Bahnsteg zurückzulassen und obwohl ich wütend auf sie war und vor allem verletzt, hatte ich einen solchen Abschied nicht gewollt. Wir waren im Konflikt auseinander gegangen, und dennoch wusste ich Tess' Geste als eine Art Wiedergutmachungs- Versuch zu sehen.

Wie in Trance setzte ich mich in Bewegung, viel zu aufgewühlt von den Geschehnissen. Mein Herz raste immer noch wie verrückt, während ich mich in einen der weichen Sitze am Fenster sinken ließ. Mal wieder begann ich mich zu fragen ob das hier das war, was mich glücklich machte. War es nicht viel einfacher in mein altes Leben zurückzukehren und den Schmerz zu ertragen, wie zuvor auch schon? Ständig auf der Flucht zu sein, hin und her gerissen zwischen Entscheidungen und Gefühlen machte mich so müde wie noch nie. Aber immer noch war die Angst mir lieber, als das Gefühl eine Gefange zu sein.

Erschöpft ließ ich den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe sinken. Kjetill ich vermisse dich, dachte ich im Stillen. Es war jetzt schon ein paar Tage her, wo ich ihm in die Arme gefallen war und es kam mir bereits jetzt vor wie eine halbe Ewigkeit. Ich fühlte mich so schutzlos ohne ihn, auch wenn ich ab und zu etwas wie Stärke verspürte wenn ich mich an ihn erinnerte. Er war das größte Rätsel was mir jemals in meinem Leben begegnet war und dennoch der Einzige der mich voll und ganz verstanden hatte. Vielleicht machte ihn auch gerade das zu dem Rätsel.
Mit diesen Gedanken und dem Hauch von Kaffeegeruch in der Nase schlief ich ein.

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Jemand legte seine Hand auf meine Schulter und im ersten Moment dachte ich an Kjetill, bis mir bewusst wurde dass sich die Hand zu zart für seine anfühlte. Mein zweiter Gedanke war Tess, doch schlagartig erinnerte ich mich, dass ich im Zug saß. Erschrocken riss ich meine Augen auf und blickte verwirrt in das Gesicht einer jungen Frau, welche in einer dunkelblauen Uniform gekleidet war, ihr blondes Haar streng in einen tiefen Dutt gebunden hatte und eindeutig ein schwarzes Gerät in ihren Händen hielt, was mich viel zu heftig zusammenzucken ließ. Sie lächelte mich mit einem eingeübten Lächeln an und hielt auf meinen verwirrten und auch erstarrten Blick ihr Umhängeschild mit ihrem Gesicht hoch, das mir wohl ihr Kontrolleurrecht beweisen sollte. "Ihr Fahrticket bitte.", forderte sie mich freundlich auf.

Unter Schock schluckte ich einmal. Die Müdigkeit war wie verflogen. Mit klammen Fingern nickte ich einmal und begann so zu tun, als würde ich mein Ticket in meiner Jackentasche suchen. "Moment, ich hab's gleich.", gab ich nervös von mir, während die Kontrolleurin mich misstrauisch musterte. "Das muss doch hier irgendwo sein..", murmelte ich gespielt zu mir selbst und sah dann ratlos zu ihr auf. Ich versuchte so verzweifelt wie möglich zu gucken und hielt mir schockiert eine Hand vor den Mund. "Es tut mir leid, ich bin mir ganz sicher dass ich es eben noch hatte!"

Die Frau sah mich mitleidig an und notierte etwas auf einem Zettel. "Tut mir leid,dass kostet dich 80€ Strafgeld, sind deine Eltern hier irgendwo in der Nähe?"

Wie erstarrt blickte ich sie an und schüttelte langsam meinen Kopf, während ich versuchte meine Augen feucht werden zu lassen, was mir leichter gelang als ich dachte. "Ich bin alleine unterwegs.", jammerte ich und sah wie ich das Mitleid in ihren Augen erregte. Was für einen miesen Beruf sie hatte.
"Was soll ich denn jetzt machen?", heulte ich aufgelöst und starrte sie aus großen grünen Augen an. Sie kaufte es mir ab.

"Schätzchen, beruhig dich erst mal.", sagte sie tröstend und setzte sich mir gegenüber auf den freien Platz. Mein Herz raste. "Wie ist denn dein Name?"
Jetzt war mein Herz kurz vorm eskalieren und kalter Angstschweiß lief über meinen Rücken. "Ich hab Geld dabei!", versuchte ich sie abzulenken und tat so, als wäre mir die rettende Idee gekommen. Hektisch griff ich in meine Taschen, wollte nach dem Umschlag greifen und streifte etwas kaltes. Erschrocken zog ich meine Hand wieder zurück. Was war das denn? Eigentlich hatte ich jetzt keine Zeit dafür, aber ich griff entschlossen ein weiteres Mal in meine Jackentasche und zog das fremde Metallding heraus.

Ich zuckte zusammen, als hätte mich jemand geschlagen. Die Frau betrachtete mich komisch, wie ich den silbernen Schlüssel in meinen Händen drehte, als wäre ich vollkommen verrückt. Das war Kjetills Ersatzschlüssel. Für seine Wohnung. Mir wurde kalt und heiß gleichzeitig. Oh scheiße.

"Ist alles okay?", fragte mich die nette Frau, die leider meine Gegnerin war. Mein Blick wanderte zu ihr und dann nickte ich schnell, steckte den Schlüssel in Windeseile zurück und hatte in diesem Moment schon einen Entschluss gefasst: Ich würde zu Kjetill zurückkehren, wenn die Zeit reif war.

"Hier.", sagte ich und schniefte schnell, um den Anschein zu bewahren. Ich holte 80€ aus dem Umschlag und versuchte nicht meine Augen aufzureißen, als ich den Packen Scheine sah, den ich gerade mit dem Umschlag in meinen Händen hielt. Das war verdammt.viel. Geld. Tess hatte mir tatsächlich alles gegeben was sie gespart hatte. Das konnte ich unmöglich für mich behalten!

Die Frau sah mich aus ungläubigen Augen an, starrte auf das Geld und dann auf mich. Sie sagte nichts, aber die Art wie überrascht sie ihre Augenbrauen hob und gleichzeitig versuchte sich nichts anmerken zu lassen, offenbarte mir, dass das Scheinbild des armen, kleinen Mädchens was sie von mir gehabt hatte ins schwanken geriet. Mist.

"Deinen Name bitte.", wiederholte sie lächelnd, nun mit einem Funken Misstrauen in den Augen.
Wenn ich ihr den Namen verriet könnte sie Verdacht schöpfen, oder? Ich riss mich zusammen. Der Zug würde gleich halten. Vielleicht schaffte ich es irgendwie auszusteigen!

Meine Stimme war viel zu dünn und bloß ein Hauch:"Ella Nessel."
Ich hielt die Luft an. Sie notierte sich den Namen, ohne komisch zu gucken. Gerade wollte ich aufatmen, da hielt sie plötzlich inne, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern. Mein Blut gefror zu Eis. "Ella Nessel?", wiederholte sie, nur um sicher zu gehen ob sie mich richtig verstanden hatte. Ich schluckte. "Ja?"

"Bist du nicht das Mädchen das seit Wochen vermisst wird? Das läuft überall in den Nachrichten!", rief sie schockiert und ich war wie gelähmt.

Das war's dann wohl.

Mein Atem stockte und mein ohnehin schnell schlagendes Herz geriet ins stolpern. Dann raste es los und eine Welle neuen Adrenalins überrollte mich, schoss in meine Glieder und ließ die gelähmten Knochen plötzlich ohne Vorwarnung aufspringen. Die Kontrolleurin sah mich aufgeschreckt aus ihren großen, geschminkten Augen an und dann schien sie zu begreifen.

Wie von der Tarantell gestochen stürmte ich los, eine viel zu unüberlegte Reaktion. Der Zug begann bereits langsam abzubremsen und ich rannte Panisch durch den Gang des Waggons, drückte die Tür zum nächsten auf und hörte gleichzeitig wie die Dame hinter mir alarmiert rief ich solle stehen bleiben. Ich beschleunigte mein Tempo, ignorierte die stechenden Blicke der Leute und drückte mich hektisch an einem dicken Mann vorbei, der im Begriff war seinen Koffer von der Ablage zu heben.

Verdammt! Ich hatte meinen Koffer vergessen! Draußen sah ich den Bahnsteig näher rücken, das Licht der Laternen erleuchtete die feinen Schneeflocken die in der Dunkelheit des Abends selig umherwirbelten.

Aber ich konnte nicht zurück. Ich musste sofort aus dem Zug raus und mich in Sicherheit bringen. Der Koffer war egal.

Mit einem Ruck blieb der Zug stehen, Zeitgleich stieß die hübsche Kontrolleurin die Abteiltür auf und bedachte mich mit einem wütenden Blick. "Stehen bleiben.", befahl sie schrill und hätte ich sie unter normalen Umständen zufällig auf der Straße getroffen, ich hätte ihr niemals diesen schroffen Ton zugetraut. Köpfe drehten sich aus allen Richtungen nach dem Aufruhr um und durchbohrten mich mit ihren fragenden Blicken. Was konnte ein kleines, süßes Mädchen wie ich schon verbrochen haben?

Die Türen gingen auf und ich quetschte mich mit der Menge an Leuten die aufgestanden waren aus der Tür. Zumindest hatte ich das vor.
Mein linker Fuß stand auf der ausklappbaren Stufe, mein rechter hing in der Luft um den Bahnsteig zu berühren. Ich fühlte schon wie die Freiheit mich umhüllte, wie Erleichterung mein Herz erfüllte und alles gut werden würde, so wie am Ende in allen viel zu schönen Geschichten. Aber so war es nicht.

Eine Hand griff im letzten Moment nach mir. Packte mich fest am Handgelenk und zog mich mit einem Ruck zurück in den Waggon.
Ich quitschte erschrocken auf. Nein! Das durfte nicht wahr sein!

"Hier geblieben.", sagte eine tiefe Männerstimme während ich mich wie ein Fisch an der Angel hin und her wandte. Eine eisige Erinnerung durchschoss mich. Genauso hatte mich Ralf gepackt und mich in seinem Griff über den Sitz gezogen. Noch immer spürte ich, wie sich seine klobige, raue Hand um mein dünnes Handgelenk geschlossen hatte. Blanke Angst schoss in mir hoch. "Lassen Sie mich los!", wimmerte ich aufgelöst und sogleich lockerte sich der Griff des Mannes, jedoch nahm er nicht seine Hand weg.

"Beruhig dich, junge Dame. Mach hier nicht so einen Aufstand und komm erst mal mit." Seine Stimme war ruhig und kontrolliert und noch immer hatte ich keine Ahnung wer das überhaupt war und wo er plötzlich her kam. Jedoch wurde mir das in der nächsten Sekunde offenbart, denn Fräullein Blond kam außer Atem dazu geeilt und schob sich mit uns aus dem Zug, während sie ein schlaffes:"Danke, Markus.", schnaufte. Das ließ mich darauf schließen, dass die beiden Kollegen waren und als ich einen Blick nach hinten warf erkannte ich auch an ihm eine Uniform, die sich über seinen breiten Bierbauch spannte.

Ich war noch total unter Schock und alles in mir zog sich zusammen. Ich versuchte noch einmal meinen Arm aus Markus' Griff zu befreien, allerdings umschloss er diesen daraufhin bloß wieder fester. In der anderen Hand hielt ich immer noch den Umschlag mit dem Geld, den ich trotzig an mich drückte.

Leute schwirrten um uns herum aus dem Zug und in den Zug. Ein komplettes durcheinander am Bahnsteig und wir waren mittendrin, während Markus vor lief und mich bestimmt an meinem Arm durch die Masse zog.

"Sie haben nicht das Recht mich festzuhalten!", protestierte ich wütend und hielt die heißen Tränen zurück, die mal wieder kurz vorm Ausbruch standen. Vor mir ertönte ein gelassenes, ruhiges Lachen und ich hätte den dummen Mr. Bierbauch am liebsten getreten. "Oh doch, kleines. Ich bin Polizist."

Die Spucke blieb mir im Hals stecken. Was?!.. Aber.. Das konnte doch nicht wahr sein! Nun brachen die Tränen doch aus und stürzten unaufhaltsam meine Wangen hinab. Das war zu viel. Ich wollte nicht mehr.
Es war, als würde plötzlich alles in sich zusammenfallen. Einfach so. Von einem Moment auf den anderen.

"Markus, ich übergebe dir das Mädchen, ja? Sie muss eine Geldstrafe von 80€ zahlen, wegen fehlendem Ticketnachweis." Blondi sah kurz zu mir, während sie sich Markus zugewendet hatte. "Ich nehme sie mit auf die Wache, keine Sorge. Dann werden wir erst mal die Eltern kontaktieren und dann sehen wir weiter." Er zwinkerte mir kurz freundlich zu, während ich bloß mit leerem Blick in die Ferne starrte. Wir standen etwas abseits der Menschenflut. Alle Geräusche um mich herum verloren an Bedeutung und verwandelten sich in eine gedämpfte Hintergrundkulisse. "Alles okay? Geht es dir nicht gut?", fragte der Polizeibeamte, während Blondi sich bloß mit einem flüchtigen Abschiedsgruß davon machte. Ich sah ihr nicht nach. Alles schien mit einem Mal so nichtig.

Ich musste zurück. Das war also nun der Moment, vor dem ich Wochenlang geflohen war. Ich würde auf die Polizeistation gebracht werden, man würde mir Löcher in den Bauch fragen und vielleicht würden sie das Jugendamt einschalten, sobald ich Anzeichen machte weshalb ich nicht zurück wollte.

"Ella, richtig? Du bist Ella Nessel.", versuchte der dicke Polizist ein Gespräch anzufangen und ich schniefte einmal. "Das sollten Sie doch wissen.", murmelte ich geistesabwesend.
Er reagierte nicht darauf und ließ dann endlich mein Handgelenk los. Sofort dachte ich daran es noch einmal zu versuchen. Einfach abzuhauen. Aber meine Chancen waren so schlecht, wie noch nie.

Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Ich war müde und erschöpft, die Polizei hatte mich aufgeschnappt und jetzt noch einmal die Stadt zu verlassen war viel zu aufwendig. Ich wusste nicht wo ich hin sollte, mein Gepäck fuhr gerade irgendwo ohne mich hin und ich fühlte mich, als hätte man mir jeglichen Lebensgeist genommen. Ich musste mir endlich eingestehen, dass weglaufen keine Lösung war. Irgendwann kam nun mal der Punkt, an dem es nicht mehr weiterging und dann war alles nur noch schlimmer als vorher.

Polizist Markus murmelte irgendwas in sein Funkgerät, notierte sich was auf einem Block und forderte mich dann auf mitzugehen. Ich ließ es alles regungslos über mich ergehen. Es war nicht so, dass es mir egal war. Ich wollte nicht zurück. Aber irgendetwas in mir sagte mir, dass es keinen Sinn mehr hatte so weiter zu machen und das leuchtete mir auch ein.

Also lief ich schweigend neben ihm her, ließ mich in den Streifenwagen schieben und mit leerem Kopf zur Wache fahren.

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Geistesabwesend starrte ich auf den Schlüssel in meinen Händen, drehte ihn und genoss das kühle Gefühl des Metalls auf meiner Haut. Ich hatte bereits drei ausführliche Gespräche hinter mir, wo mir wie erwartet mehr Fragen gestellt wurden, als zu erzählen war. Oder zumindest als ich erzählen wollte. Ich war nicht so dumm und schwieg bei den unangenehmen Fragen. Viel eher versuchte ich die Beamten zufriedenzustellen mit dem was ich sagte. Als mir eine Fotokopie von Kjetills Gesicht auf den Tisch gelegt wurde, die von der Live-Aufnahme des Gottesdienstes stammte, zuckte ich innerlich zusammen als hätte man mich geschlagen. Noch immer war mir zum heulen zumute. Bei allem was passiert war, war das das letzte was ich gewollt hatte.
Ich tat es aber ab und erzählte dem Polizisten, dass ich ihn nicht wirklich kannte und ihn bloß im Gottesdienst kennengelernt hatte, da er neben mir saß. Der Fakt, dass sie nichts über ihn in ihren Akten finden konnten und auch sonst nirgendwo hatte mich mehr als beruhigt. Warum auch immer das so war.
Ich starrte an die Wände, auf die schrägen Bilder im Wartezimmer. Die Stille die mich umgab drückte nicht. Erstaunlicherweise. Auch in mir drin war gerade nichts als Ruhe. Vielleicht lag es an der Leere die ich erneut empfand, aber ich genoss dieses dumpfe Gefühl des Nichts. Es war die Ruhe vor dem eigentlichen Sturm und ich wusste ganz genau, dass großes Unheil auf mich wartete.
In meinem Kopf liefen die verschiedensten Szenarien des Wiedersehens meiner Eltern ab. Nichts schien zu passen und das löste dann doch eine gewisse Unruhe in mir aus. Wie würden Sie auf mich reagieren, wenn ich nach etlichen Wochen plötzlich wieder vor ihnen stand? Würden sie mich anschreien? Weinen? Oder schlagen? Aber wieso sollten sie so viel Geld für den Finder versprechen,- das wir definitiv nicht besaßen-wenn es ihnen so egal war?..

Plötzlich musste ich Lachen. Ich hatte es tatsächlich durchgezogen! Ich war auf eigene Faust losgezogen, hatte mich losgemacht von dem System meines Lebens! Ich war meinen eigenen Weg gegangen, wenn auch nicht ganz freiwillig. Es lag ein Zwang dahinter, der mich getrieben hatte. Und dennoch war ich mit einem mal mehr als stolz auf mich. Was auch geschehen würde, das was ich gesehen, erlebt und gefühlt hatte konnte mir keiner nehmen! Das waren Schätze in meinem Herzen, von denen meine Eltern nicht mal was ahnten.

Die Tür ging auf und der mollige Polizist namens Markus trat einen Schritt in das stille Wartezimmer hinein. Er lächelte warm und freundlich und zu meinem Erstaunen erwiderte ich es. "Deine Eltern sind jetzt da.", sagte er mit ruhiger Stimme. Meine Glieder versteiften sich etwas. Alles in mir sträubte sich aufzustehen, den friedlichen Raum zu verlassen und ihnen gegenüber zu treten. Ich wusste nicht was auf mich zukommen würde. In meinen Gedanken schickte ich ein kurzes Stoßgebet ab und hoffte ein weiteres Mal bewahrt zu werden.
Äußerlich nickte ich bloß, erhob mich langsam und verließ mit zitternden Händen den Raum. Augen zu und durch. "Die Flucht ist es wert gewesen", sagte ich mir immer wieder.

Es war ein komischer Moment. Mutter und Vater standen zusammen im Eingangsbereich, deutlich distanziert voneinander, die Gesichter verschlossen, vermischt mit Unbehagen. Für einen kurzen Moment hatte ich Zeit sie zu Mustern, ehe sie mich wahrnahmen. Das braune, glatte Haar meiner Mutter war in einem unordentlichen Dutt zusammengesteckt und wirkte total zerwühlt, als hätte sie sich mehrmals mit den Händen in die Haare gegriffen. Ihr Ausdruck war beinahe wie immer. Gefüllt mit einer Härte, die in ihren Mundwinkeln und der Falte auf ihrer Stirn zum Ausdruck kam und gleichzeitig großen braunen Augen, die ihren Glanz verloren hatten. Auch hier wirkte sie einen Tick zu abwesend, im Gegensatz zu meinem Vater. Sein Ausdruck verriet nicht viel, aber ich sah dass er nüchtern war und dass er offensichtlich mehr als gestresst wirkte. Seine grünen Augen sprangen suchend umher, als fände er keine Ruhe und dann fielen sie plötzlich auf mich.
Etwas in seinem Gesicht veränderte sich und ich zog automatisch den Kopf ganz leicht ein, aus Angst vor seiner Reaktion. Er war nüchtern. Er würde mich nicht schlagen im nüchteren Zustand. Erstrecht nicht hier. Auch die Augen meiner Mutter fanden meine und etwas sprang in ihre Augen. Ein Funken. Ein Blitzen, ein Aufleuchten?
Ich war viel zu erschrocken von dieser kleinen Veränderung, dass ich es nicht schaffte mich weiterhin auf sie zu zubewegen, geschweige denn ein Wort herauszubringen. Stocksteif stand ich da, vielleicht drei Meter entfernt von denen, die ich so verabscheut hatte. Aber da war etwas in mir, was mir Angst machte. Eine Sehnsucht, die so heiß und wehmütig aufkam, dass ich fast anfing zu weinen.
Ich wollte, dass sie froh waren. Ich wollte, dass sie gelitten hatten als ich fort war und nun erkannt hatten, dass ihnen etwas gefehlt hatte. Wie sehr ich es mir wünschte, dass sich die warmen Arme meiner Mutter um mich schlossen, mich an ihre Brust zogen und mich hin und her wiegten, wie damals, als ich noch ein kleines Kind war.
Wir starrten uns an, Fassungslosigkeit und Aufgelöstheit im Blick meiner Mutter, Schock und Unglaube im Gesicht meines Vaters.

"Du bist zurück", hauchte meine Mutter plötzlich und dann geschah etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Tränen füllten ihre großen,trüben Augen und ließen sie noch trauriger aussehen, als ohnehin schon.Sie setzte sich in Bewegung. Langsam und unsicher, als hätte sie Angst ein Reh zu verscheuchen. "Du bist zurück!", wiederholte sie mit festerer Stimme und zum ersten mal hatte ich das Gefühl, dass sie nicht abwesend war. Sie war hier. Im hier und jetzt, bei mir. Und sie weinte. Um mich.

Als mich diese Information erreichte traten auch mir die Tränen in die Augen. Ich wollte nicht weinen. Wollte keine Schwäche zeigen und mich verletzbar machen. Aber der Schmerz und die Bitterkeit all der vergangenen Jahre schnürten mir die Kehle zu, trieben mir die Tränen in die Augen und ließen mich schneller die Fassung verlieren, als mir lieb war. Meine Mutter kam auf mich zu, schlang ihre Arme um meinen steifen Körper und schniefte mir wie in meiner Wunschvorstellung weinend ins Ohr. Wiederstrebende  Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Träumte ich?

Ich wollte mir das nicht eingestehen, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich das hier mehr als alles andere gebraucht hatte. Die Nähe und Zuwendung meiner Eltern. Es fühlte sich fremd an, wie meine Mutter mir mit einer Hand über den Rücken strich und dabei leise schniefte. Ich wusste nicht, wann sie mich das letzte mal so gehalten hatte. Tränen traten in meine Augen. Wir waren so zerbrochen. Aber dann realisierte ich plötzlich, dass das hier so nicht sein konnte. Ich war doch wütend! Mit einem plötzlichen Anflug von Ekel wandt ich mich auf ihrem Griff und schob ihre Arme von mir.
"Lass das.", flüsterte ich mit kaum hörbarer Stimme. Aber die Worte waren so klar und schneidend, dass meine Mutter aufhörte zu weinen und den Blick abwandte.
Immer wieder spielte sich die Szene in mir ab, wie sie mit so einem Hass auf mich geblickt hatte. Wie sie mir die Schuld dafür gab, dass ihr Leben scheiße war.
Entschieden trat ich einen Schritt zurück. In mir krampfte sich alles zusammen, aber die auflodernde  Wut bestärkte mich darin.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie mein Vater sich langsam näherte.  "Was dachtest du dir bloß dabei.", sagte er. Für seine ersten Worte war das nicht das schönste zu hören, aber er sagte es nicht anklagend. Und das wunderte mich mehr denn je. "Wir haben uns Sorgen gemacht.", sagte er und ich hätte beinahe gelacht.
Das war das erbärmlichste, was er jemals im nüchternen Zustand von sich gegeben hatte. Und plötzlich verstand ich auch was hier abging.
Es schnürte mir die Kehle zu und ließ mich noch einen kaum merklichen Schritt nach hinten taumeln. Aber ich blieb stark.
Das hier war also alles Show. Für die Polizei.

Ich sah in das Gesicht meiner Mutter. In ihren Augen spiegelte sich blanker Schmerz und ich hielt es kaum aus sie anzublicken, aber ich hielt dem Blick stand. Jetzt war ich die Stärkere von uns beiden und das zeigte ich ihr mit all der Verabscheuung, die man nur in einen Blick legen konnte. Für den Hauch einer Sekunde hatte ich Mitleid mit ihr. Verspürte den Schmerz den sie in sich trug und es durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich hatte das Gefühl in ihr ein kleines, gebrochenes Mädchen zu sehen, genauso wie ich es gerade war.
Aber dann verschwand der Moment und ich hatte es mit einem Mal ganz Eilig.

"Wir können jetzt nach hause.", sagte ich emotionslos und lief an meiner Mutter und meinem Vater vorbei, hinaus aus der Polizeistation. Ich drehte mich nicht um, bedankte und verabschiedete mich nicht und fragte mich was bloß aus mir geworden war.

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