-03-

Für einen Moment war ich sprachlos. Ich hatte nie meinen Namen erwähnt. Er wusste also die ganze Zeit, wer ich war. Sogar wo ich wohnte. Das klang schon ein bisschen gruselig.

Was tat ich hier?

Ruhe füllte den Raum aus, bis auf das leise Geklimper des Radios. Die Töne klangen vertraut. Ich schaute kurz zu Dean, der fokussiert auf die Straße blickte, bevor ich etwas lauter drehte. Das war kein Radio, das musste CD sein. Das Lied lief nicht im Radio. Und das Lied war mein Lieblingslied. Ich schaute wieder zu meinem Fahrer. Der Lockenkopf sah für einen Moment zu mir. "Was ist?", fragte er mich, da ich ihn anstarrte. "Du hörst Vinnie Paz???" Er nickte nur. Ich starrte ihn weiter an, während die letzten Töne von 'The Ghost I used to be' verklangen und ein anderes Lied startete.

War es Zufall, dass wir den gleichen Musik Geschmack hatten? Oder war das ein weiteres Anzeichen, dass die ganze Situation extrem creepy ist und ich schnellst möglich verschwinden sollte?

Deans Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. "Du starrst", sagte er und es klang viel... sanfter als sonst. Was war denn jetzt los? Ich wandte schnell den Blick ab und sah auf die Straße. "Ich denke nur. Das war mein Lieblingslied", antwortete ich. "Du hörst sowas?" Ich nickte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob er das sehen konnte.

Irgendwie wünschte ich mir, er würde mehr mit mir reden. Eine richtige Konversation, nicht nur zwei drei Wörter. Ich war mir noch nicht sicher, ob ich ihn mochte. Irgendwie tat ich es. Aber für ein Urteil musste ich ihn näher kennenlernen. Wollte ihn irgendwie näher kennenlernen.

Der Rest der Fahrt war still und meine Gedanken schwankten zwischen er entführt mich und eigentlich ist er ganz nett. Doch dann erreichten wir die Gegend, wo ich wohnte und ich kramte meine Anwohner-ID für den Security-Typen raus und reichte sie Deans als wir am Gate hielten. Ohne ID würde hier keiner durchkommen. Ich atmete erleichtert auf. Einerseits froh, dass mich nun jemand gesehen hatte und andererseits auch erleichtert, dass ich mich doch nicht in Dean getäuscht hatte. Auch wenn ich ihm gedanklich schon einige Taten und Vorhaben vorgeworfen hatte. Aber davon musste er ja schließlich nichts erfahren.

Der Security-Typ des Gates warf einen merkwürdigen Blick auf Dean und sein Auto und ich hoffte, dass er uns trotzdem durchließ. Fremde waren in diesem Bezirk ungern gesehen, vor allem keine, die weniger Geld hatten. Doch dann nickte er, reichte Dean meinen Ausweis und öffnete die Schranke, dass wir weiterfahren konnten.

Ich packte das Kärtchen wieder in meine Handyhülle und sah zu, wie Dean den Rest des Weges zu meinem Haus fuhr. Er wollte gerade ans Tor fahren, als ich das Auto meiner Eltern in der Einfahrt sah. Sie mussten eben erst von der Arbeit zurückgekommen sein.

"Warte! Nicht ans Tor, dann sehen meine Eltern mich. Die killen mich, wenn die mich mit dir sehen!", sagte ich schnell und Dean hielt den Wagen an. "Was machen wir denn jetzt? Ich kann doch nicht einfach durchs Tor spazieren!" Ich bekam ein wenig Panik.

Meine Eltern waren da echt streng. Ich war keine 21, weshalb ich laut ihnen noch einen Babysitter brauchte. Meistens war das zum Glück mein Bruder und ich bekam meine Freiheiten. Doch wie sollte ich ihnen erklären, dass ich mit Dean, der aussah wie aus der Apokalypse stammend, unterwegs war und mein Bruder wie vom Erdboden verschluckt!

"Beruhig dich." Ich starrte Dean an, wie so oft, seit ich ihn kannte. Er hatte gut reden! Dean startete den Wagen wieder und fuhr ein Stück die Straße abwärts, wo er dann parkte. In meinem Kopf spielten sich die verschiedensten Szenen ab, in denen mich meine Eltern köpften, weil ich mich mal wieder nicht an ihre dummen Regeln gehalten hatte. Wieso mussten sie auch so unglaublich streng mit mir sein? Ich wollte doch einfach leben.

Dean stieg aus und ich folgte ihm, wusste nicht was ich anderes tun könnte. Er sperrte den Wagen ab. "Komm."

Gott, wie mich diese kurzen Aussagen nervten! Konnte man denn nicht ordentlich mit mir sprechen? Dieser Kerl ist so sonderbar!

Auf ihn angewiesen, lief ich dennoch hinterher. Wenn er einen Plan hatte, konnte mir das ja nur zu Gute kommen. Wir gingen ein Stück die Straße entlang, folgten der Mauer meines Grundstücks. Wie so oft an diesem Tag fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Trotz all meinen Bedenken, hatte ich tief in mir das Gefühl, dass Dean okay war. Dass ich ihm vertrauen konnte. Immerhin hatte er mich nach Hause gebracht.

"Wo gehen wir hin?", fragte ich ihn, als wir immer weiter in das kleine Waldstück liefen, dass uns von den Nachbarn abschottete.

"Zu Logans Hintereingang."

"Zu Logans was??"

Mein Bruder hatte einen Geheimeingang?? Warum wusste ich das nicht? Ich wohnte seit 18 Jahren in diesem Haus! "Du weißt davon nichts?" Ich schüttelte nur den Kopf, auch wenn ich gerne geantwortet hätte. Dean schien irgendwie aufzutauen, er sprach mehr mit mir. Ich wollte die Konversation beibehalten, jedoch wusste ich einfach nicht was. Der Tag heute war total irre. Ich hatte das Gefühl, als würde ich meinen eigenen Bruder überhaupt nicht kennen.

Stumm folgte ich dem Lockenkopf, welcher anfing die Mauer abzutasten. Er blieb an einer bestimmten Stelle stehen, wo das klopfen anders klang. Dort trat er leicht gegen und die Mauer sprang auf. Das Ganze zu beobachten, war einfach nur gruselig. Ich hatte tausend Fragen im Kopf.

Wieso wusste ich nichts von dem Eingang? Wieso kannte Dean ihn? Seit wann gab es diesen Eingang? Wer war eigentlich mein Bruder?

Dean schob das rausgesprungene Teil zur Seite und eine kleine Tür zeigte sich. Diese öffnete er und öffnete die Mauer auch auf der anderen Seite. Das Ganze war wie ein kleiner Tunnel! Ich konnte nur dumm rumstehen und zuschauen. Was hätte ich sonst auch machen können? Ich hatte schließlich von nichts eine Ahnung. Dean verschwand durch den kleinen Tunnel und drehte dann seinen Kopf zu mir. Ich folgte ihm schnell und er lehnte die Tür an.

Wir befanden uns im Garten. Nicht weit entfernt war Logans Terrassentür, auf die wir zusteuerten. "Hoffentlich hat Logan nicht abgeschlossen. Sonst hätte das Ganze nichts gebracht", murmelte ich schließlich, unfähig lauter zu sprechen oder meine Gedanken klar zu sortieren. "Die Tür ist offen." Ich sah zu ihm hoch, hoffte auf weitere Erklärungen. Warum wusste er das alles und ich nicht?

"Ich komme ab und an hier her", lautete seine schlichte Antwort. Mir blieb der Mund offenstehen, obwohl mich eigentlich nichts mehr schockieren sollte, nach allem was heute war.

"Danke fürs Herbringen", flüsterte ich und sah zu ihm hoch. Er nickte leicht und sah zu mir herunter. Er war um einiges größer als ich. Erfüllte er eigentlich alle Kriterien des perfekten Mannes? Nicht mal seine ganzen Schrammen, von denen manche immer noch leicht bluteten, zerstörten sein Aussehen. Das Blut schien ihn aber auch nicht zu irritieren, es war einfach da. Nichts Besonderes. Vielleicht etwas immer Wiederkehrendes? Ich biss mir auf die Lippe, damit ich ihn nicht berührte. Was machte dieser Mann nur mit mir? Ich kannte ihn doch gar nicht so lange. Und doch hatte ich das Bedürfnis, mich ordentlich zu bedanken, ihn vielleicht sogar zu umarmen. Er hatte mir doch so sehr geholfen.

"Bye, Ana", Dean unterbrach den Augenkontakt, drehte sich um und joggte über den Rasen zum kleinen Tunnel. So viel zu einer richtigen Umarmung. Ich flüsterte nur noch ein leises „Bye" und sah zu, wie er sich von mir entfernte. An der Mauer angekommen, verschwand er und rückte sie wieder an Ort und Stelle. Kurze Zeit später, sah man nichts mehr von der Tür.

Einen weiteren Moment blieb ich stehen, bevor ich mich abwandte und die Terrassentür öffnete. Ich sah mich in Logans Wohnzimmer um und lief dann leise in mein Zimmer. Um meine Eltern kümmerte ich mich später. Ich musste erstmal duschen, über den Mittag nachdenken und ganz dringend mit meinem Bruder sprechen.

Doch Logan tauchte den ganzen Abend nicht auf. In der Zeit, in der ich wartete, hatte ich geduscht, die die Haare geföhnt und geflochten, mir die Nägel neu lackiert und mich sogar rasiert, und das war echt zeitaufwendig! Meinen Eltern war ich noch eine Weile ausgewichen und traf erst auf sie, als ich mir etwas zu Abendessen holte. Wie immer war ihnen ihr Business wichtiger als ihre Tochter und es wurde sich nur nach Logan erkundigt. Außer, dass sie mich fragten, wo ich war, als sie Heim kamen, wurden mir keine Fragen gestellt. Dass ich geschlafen hatte, kauften mir sie mir sofort ab. Dafür, dass sie mir keinerlei Freiheiten ließen, hätte ich es erstaunlicherweise leicht, einfach für eine Weile abzuhauen. Gut, dass ich jetzt wusste, dass es einen von meinen Eltern unbewachten Ausgang gab. Mein Bruder würde mich sowieso nicht verpetzen.

Der Gedanke an meinen Bruder erinnerte mich wieder an den Mittag und seine Geschehnisse. Dieser Tag war einfach sonderbar. Vielleicht war ja alles ein Traum und ich würde am Morgen aufwachen und nichts von alledem wäre je passiert.

Aber ob ich wirklich wollte, dass Dean nur ein Traum war? So perfekt wie er mir erschien, konnte er eigentlich nur ein Traum sein. Traum oder Halluzination. Bevor ich wieder alles doppelt und dreifach überdachte und infrage stellte, legte ich mich in mein Bett und startete meinen Fernseher. Netflix würde meine Gedanken schon verstummen lassen.

Meine Lieblingsserie lenkte mich genügend ab, um nicht ständig an den mysteriösen Lockenkopf zu denken und auf meinen Bruder zu warten. Irgendwann war ich ruhig genug, um endlich einzuschlafen. Morgen würde bestimmt alles wieder in Ordnung sein. Dann konnte ich mit Logan über alles reden. Morgen. 

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