Kapitel 9 - Das Ende des Fests
[Fred]
Beinahe hätte Fred sich geärgert, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war, um eine Teilnahme bei den Quidditchauswahlspielen zu kämpfen. Fast eine ganze Woche lang fragte er sich, ob er es wohl in die Mannschaft geschafft hätte und träumte davon, wie er unter den Jubelrufen der ganzen Schule über das Feld geflogen wäre. Andererseits, so dachte er bei sich, hatte er ohne das aufwendige Quidditchtraining viel mehr Zeit für die Erkundung des Schlosses und das Herumstromern über die Ländereien. Sie saßen nun oft nur noch zu dritt unten am schwarzen See, auf den Bänken im Innenhof oder zwischen den Unterrichtsstunden in der Großen Halle. Ava unterdessen verbrachte viel Zeit auf dem Quidditchfeld und trainierte mit ihrer neuen Mannschaft. Marlin Cattermole schien entschlossen zu sein, Hufflepuff in diesem Jahr endlich den Quidditchpokal gewinnen zu lassen. Ein ums andere Mal setzten sich Fred, Zoe und Nathanael auf die Tribünen und verbrachten dort ihre Zeit, so konnten sie sich miteinander unterhalten und nebenbei Ava beim Training zusehen. Doch Marlin Cattermole und die anderen Hufflepuffs sahen dies eher ungern, da sie befürchteten, die drei könnten für ihre eigenen Häuser spionieren. Zudem wurde es mit fortschreitendem Herbst immer kälter, und stundenlang auf den zugigen Quidditchtribünen zu sitzen damit zunehmend unangenehm. Und so bekamen die drei ihre Freundin nur noch selten zu Gesicht.
Das Dumme war, dass sie auch nicht die Abende miteinander verbringen konnten, da von den Erstklässlern im Allgemeinen erwartet wurde, dass sie sich nach dem Abendessen in ihren Gemeinschaftsräumen aufhielten. Eine Weile lang trödelten die vier beim Abendessen mit Absicht herum, sodass sie sich anschließend alle an einen der langen Haustische setzen, Zauberschnippschnapp spielen und Schokofroschkarten tauschen konnten. Irgendwann jedoch fiel immer einem der Lehrer oder älteren Schüler auf, dass sie längst in ihre Gemeinschaftsräume mussten und so wurden sie Abend für Abend unterbrochen. Sie bemerkten zwar, dass sie sich am Hufflepufftisch so unsichtbar wie möglich machen konnten, da die Hufflepuffs im Allgemeinen nachsichtiger mit ihnen zu sein schienen – vielleicht, weil Ava ihr neues Quidditchwunder war – doch irgendwann schickte man sie eben doch in ihre Häuser.
Es war schließlich Nathanaels Idee, den Geheimgang zu nutzen, den Fred in ihrer ersten Woche entdeckt hatte. Und obwohl gerade Zoe ganz und gar nicht davon begeistert schien, – schließlich war es den Erstklässlern verboten, zu so später Stunde noch im Schloss unterwegs zu sein - so gingen sie doch dazu über, nach dem Abendessen oder in den wenigen gemeinsamen Stunden am Nachmittag in diesem kleinen Korridor Zuflucht zu suchen.
Fred und Ava brachten aus den Gemeinschaftsräumen der Gryffindors und Hufflepuffs ein paar Kissen und Decken mit, und so verbrachten die vier Stunde um Stunde auf dem kalten Steinboden unter der einsamen Fackel irgendwo zwischen dem fünften und dem zweiten Stockwerk.
Und obwohl man nicht sagen konnte, dass es hier sonderlich gemütlich war, so hatte es doch etwas aufregendes, im flackernden Fackelschein in einem Geheimgang zu sitzen, den, so redeten sie es sich ein, bestimmt kaum ein anderer kannte. Gewiss, manchmal, wenn sie wieder in den Korridor zurückkamen entdeckten sie schmutzige Fußabdrücke, die vorher noch nicht dagewesen waren oder die Kissen waren beiseitegeschoben worden – einmal sogar hatte irgendjemand alle Kissen und Decken fortgeräumt – aber dennoch fühlte sich dieser Gang und ihre gemeinsamen Abende wie ein spannendes Geheimnis an, das nur sie vier kannten.
Am Ende jeden Abends nahmen Ava und Nathanael den Ausgang hinter dem Wandteppich im zweiten Stock, um die Treppen hinunter in ihre Gemeinschaftsräume zu steigen, während Zoe und Fred hinter der Zaubererstatue im fünften Stock wieder auftauchten und so leise und so schnell wie möglich in die Türme ihrer Häuser schlichen.
Das Problem war Freds Cousine Molly, die unbedingt wissen wollte, wohin die vier immer verschwunden waren.
»Zoe war den ganzen Abend nicht in unserem Gemeinschaftsraum und Dominique meinte, du warst auch nicht im Gryffindorturm!«
»Ich hab geschlafen«, erwiderte Fred dann genervt und stöhnte. »Und wo Zoe war, kann ich dir nicht sagen. Du bist mit ihr in einem Haus, nicht ich.«
Doch Molly gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. Fred fürchtete sogar, sie könnte ihnen eines Tages folgen, wenn sie die Große Halle verließen, und so vereinbarten die vier, immer getrennt voneinander in den Geheimgang zu kommen.
Wenn Fred ehrlich war, tat seine Cousine ihm allerdings ein wenig leid. Mit ihrer altklugen Art hatte sie sich in ihrer Jahrgangsstufe nur wenige Freunde gemacht und die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Weasleys, die bisher Hogwarts besucht hatten, in Ravenclaw gelandet war, hatte ihr auch in der Familie eine gewisse Rolle als Außenseiterin verliehen. Freds Vater hatte ihm geschrieben, dass er, wäre Molly seine Tochter, sie sofort enterbt hätte und dass Fred froh sein könne, in Gryffindor gelandet zu sein. Und obwohl Fred wusste, – oder zumindest stark hoffte – dass dies ein Scherz war, so versetzte es ihm doch einen kleinen Stich.
Er hatte seinen Eltern immer noch nicht erzählt, dass seine besten Freunde allesamt in anderen Häusern waren. Vor allem fürchtete er sich vor ihrer Reaktion, wenn er ihnen erzählen würde, dass ausgerechnet ein Slytherin zu ihnen gehörte. Er wusste, dass er es ihnen irgendwann würde sagen müssen, und doch genoss er die kleine Freiheit, die er hinter den dicken Schlossmauern hatte. Sicher, er liebte seine Eltern, dennoch war er dankbar, dass sie ihn hier in Hogwarts nicht auf Tritt und Schritt beobachten und behüten konnten. Er wusste, dass sie es nicht böse meinten, wusste auch, dass sein Vater ihm vermutlich stolz auf die Schulter klopfen würde, wenn er hörte, dass Fred gleich in seiner ersten Woche einen Geheimgang entdeckt hatte. Und doch hatte er es ihnen nicht erzählt. Warum, konnte er selbst nicht so genau sagen. Vielleicht, weil er nicht wollte, dass sie alles wussten, was er tat. Weil er all diese Geheimnisse – zumindest für eine Weile – für sich behalten wollte. Er war nun immerhin elf Jahre alt und seiner Meinung nach mehr als erwachsen genug, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Mittlerweile neigte sich auch der Oktober dem Ende zu, und nicht nur Halloween, sondern auch Avas Geburtstag stand bevor. So nahmen sich die vier am Montagabend ein paar Sandwiches und einen Krug voll Kürbissaft aus der Großen Halle mit und schlichen hoch in den zweiten Stock, wo sie hinter dem Wandbehang verschwanden, auf dem der große Troll erbarmungslos nach dem mickrigen Zauberer auf seinem Pferd schlug. Dort verbrachten sie einen herrlichen Abend mit dem Spielen von Zauberschnippschnapp und Koboldstein, wobei Fred gleich mehrfach eine Ladung des stinkenden Safts der Koboldsteine direkt ins Gesicht bekam.
Als etwa eine Woche später schließlich Halloween vor der Tür stand, waren insbesondere die Erstklässler sehr aufgeregt, schließlich war es für sie das erste Halloweenfest in der Schule. Viele von ihnen hatten bereits von ihren Eltern oder größeren Geschwistern einiges darüber gehört und fragten sich gespannt, was von diesen Erzählungen stimmte. Auch Fred war neugierig, ob es wirklich tanzende Skelette und Geister geben würde, die ihre abgetrennten Köpfe durch die Halle rollten.
Am Abend schließlich, als er gemeinsam mit seinen Klassenkameraden den Gryffindorturm hinabstieg, um zum Fest zu gelangen, schien sein ganzer Körper vor Vorfreude zu kribbeln. Überall im Schloss standen Kürbisse, die zu Laternen geschnitzt worden waren, einige von ihnen so groß, dass mehrere Schüler darin Platz gehabt hätten. Die Rüstungen im ganzen Schloss waren mit echten Spinnweben überzogen und ließen schaurig ihre Gelenke quietschen, wenn die Schüler an ihnen vorbeigingen und in der Großen Halle schwirrten hunderte echte Fledermäuse unter der Decke wie riesige, schwarze Wolken. Vorn am Lehrertisch stand eine große, zum Leben erweckte Vogelscheuche, die unter begeistertem Beifall der Schüler auf einem ihrer starren Beine tanzte und dabei ihren Kopf, der aus einem dicken Kürbis bestand, Runde um Runde um ihren Hals kreisen ließ.
Fred entdeckte Ava am Tisch der Hufflepuffs, die zwischen ihrem Bruder Alfred und ihrer Klassenkameradin Leenie Panabaker saß. Er winkte ihr zu und sie winkte zurück, ein strahlendes Lachen auf dem Gesicht, während sie sich einen kandierten Apfel vom Tisch nahm, der so tiefrot war, dass er beinahe unecht wirkte.
Der Fast Kopflose Nick, Gryffindors allzeit hilfsbereiter Hausgeist, schwebte über dem Tisch und erzählte mit lauter Stimme, am heutigen Tag sei sein fünfhunderteinundzwanzigster Todestag, woraufhin eine sehr detaillierte Beschreibung von seiner missglückten Köpfung folgte. Fred fand die Geschichte amüsant, aber Casey Monaghan und Robyn Brightmore, zwei der Mädchen aus seinem Jahrgang, die ihm schräg gegenübersaßen, verzogen angewidert das Gesicht, als Nick seinen Kopf in die Hand nahm und ihn zur Seite zog. Nun konnten sie sehen, dass es nur noch ein paar dünne Hautfetzen gab, die dafür sorgten, dass der Kopf nicht gänzlich von seinem Hals herunterfiel. Nick jedoch schien das sehr zu bedauern.
»Aber für Sir Patrick Delaney-Podmore sind fünfundvierzig Schläge mit einer Axt natürlich nicht genug«, empörte er sich mit beleidigter Miene. »Die Jagd der Kopflosen gibt sich anscheinend nur mit Geistern ab, deren Hälse vollkommen durchtrennt sind, aber ich kann Ihnen versichern, dass mein Tod wirklich sehr, sehr schmerzhaft war und das sollte meine Meinung nach Grund genug sein, der Gesellschaft beitreten zu dürfen.« Er rümpfte die Nase und ließ seinen Kopf zurück an seinen ursprünglichen Platz fallen.
Fred grinste. In diesem Moment sah er aus dem Augenwinkel, wie ein blonder Haarschopf am anderen Ende der Großen Halle hinaus in den Eingangsbereich glitt. Er kannte seinen Freund mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass die geduckte Körperhaltung der schmalen Gestalt zu niemand anderem als Nathanael gehören konnte.
»Ich komm gleich wieder«, murmelte er Darren zu, der neben ihm saß, und eilte hinüber zum großen Tor.
In der Eingangshalle angekommen sah er gerade noch, wie Nathanael hinter der marmornen Treppe um eine Ecke verschwand, er schien etwas in den Händen zu tragen, doch Fred konnte nicht erkennen, was es war.
»Nathanael!«, rief er und begann zu rennen, um ihn einzuholen.
Der Junge sah auf. Er hatte sich knapp neben der Treppe hinter einer Rüstung auf den Boden gekniet und das Etwas, das er in der Hand gehalten hatte, vor sich auf den Steinen abgelegt. Sein Gesicht war gerötet und die blonden Locken klebten ihm auf der erhitzten Stirn, in seinen dunklen Augen lag ein Ausdruck, den Fred nicht deuten konnte. Etwas wie – Besorgnis?
»Was ist los?«, fragte Fred alarmiert und trat näher.
Nun, da er sich hinunterbeugte, konnte er sehen, was dort auf dem kalten Steinboden lag: Es war eine kleine, zusammengesunkene Fledermaus. Das dünne Fell an ihrer Brust war nass und verklebt und ihre Flügel standen in einem merkwürdigen Winkel von ihrem Körper ab.
»Es war Travers«, erklärte Nathanael mit bebender Stimme. »Er hat die Feldermäuse erschreckt, indem er mit seinem Zauberstab Funken auf sie gesprüht hat. Als er gemerkt hat, dass mich das stört, hat er eine von ihnen gepackt und in seinen Kürbissaft getaucht. Sie wäre beinahe ertrunken!« Mit einem seiner schmalen, bleichen Finger tippte er vorsichtig auf die Brust des Tieres, die sich, wie Fred jetzt sehen konnte, ganz leicht hob und senkte. »Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll!« Nathanaels Stimme war so voller Sorge und Verzweiflung, wie Fred sie noch nie gehört hatte. »Sie ist verletzt. Sieh dir nur mal ihre Flügel an.«
Fred überlegte nicht lange. »Wir bringen sie zu Hagrid«, sagte er kurzentschlossen und richtete sich auf.
»Hagrid?«, fragte Nathanael irritiert. »Den Professor für Pflege magischer Geschöpfe? Aber wir kennen den doch überhaupt nicht.«
»Ich schon«, erklärte Fred. »Er ist ein Freund der Familie.«
Nathanael machte große Augen. »Das hast du nie erzählt.«
Fred zuckte mit den Schultern. »War ja bisher auch nicht wichtig.«
»Okay.« Immer noch ein wenig verwundert, aber fest entschlossen nahm Nathanael die Fledermaus sanft in seine Hände und stand auf. »Wo müssen wir hin?«
»Wenn er nicht in der Großen Halle ist, müsste er in seiner Hütte sein.«
»Hast du ihn beim Fest gesehen?«
Fred dachte nach. »Am Anfang war er kurz da, aber dann ist er irgendwann gegangen.«
»Also ist er in seiner Hütte?«
»Ich vermute es«, erwiderte Fred achselzuckend.
Gemeinsam machten sich die beiden Jungen auf den Weg. Draußen war es schon dunkel und nur eine sehr schmale Mondsichel beleuchtete die Ländereien vor dem Schloss. Vorsichtig liefen die beiden über den erdigen Pfad hinunter zu der kleinen Hütte, die inmitten von Kürbisbeeten und schlammigen Pfützen am Rande des Verbotenen Waldes stand. Ein paar Mal rutschten ihre Füße auf dem matschigen Untergrund weg und jedes Mal riss Nathanael ängstlich die Hände hoch, um die kleine Fledermaus vor einem unsanften Sturz zu bewahren.
In der Hütte brannte Licht und ein dünner Schwaden Rauch stieg aus dem Kamin empor. Fred stieg die hölzernen Stufen zum Eingang hinauf und klopfte laut gegen die Tür, während Nathanael unsicher vor der kleinen Treppe stehenblieb. Von drinnen war ein tiefes, donnergrollendes Bellen zu hören, dann ein Scharren, ein Ächzen und ein paar schwere Fußstapfen. Eine Sekunde später wurde die Tür aufgezogen.
Hagrids von wildem, grauschwarzem Haar umwuchertes Gesicht tauchte vor ihnen auf, das erst genervt und dann freudig überrascht blickte, als er Fred erkannte.
»Freddie!«, rief überschwänglich. »Schön dich zu sehen! Ich dachte schon, du wärst eins von den Kindern, die sich einen Spaß erlauben. An meiner Tür klopfen und weglaufen, du weißt schon«, knurrte er. »Davon hatte ich heute schon ein paar. Muss an Halloween liegen. Na ja.« Er seufzte. »Komm ruhig rein, komm rein. Is' aber nich' aufgeräumt. Hab mich ehrlich gesagt schon gefragt, wann du mich mal besuchen kommst. Deine Cousinen hab ich dies Schuljahr schon ein paar Mal gesehen und – oh!« Erst jetzt hatte er Nathanael bemerkt, der etwa einen Meter hinter Fred stand, kaum noch vom Lichtschein getroffen, der aus der Hütte fiel. »Du hast jemanden mitgebracht?« Hagrid musterte Nathanael, wobei sein Blick an dem grün-silbernen Slytherinabzeichen auf seinem Umhang hängen blieb. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich ein wenig.
»Wir brauchen deine Hilfe, Hagrid«, sagte Fred schnell und der Lehrer wandte sich wieder ihm zu. »Wir haben eine verletzte Fledermaus und ich dachte... kannst du sie dir mal anschauen?«
»Nun, ähm...« Hagrid räusperte sich. Wieder huschte sein Blick zu Nathanael, dann zuckte er die Schultern. »Na gut, kommt rein.«
Er trat zu Seite, sodass die beiden in seine Hütte kommen konnten.
Fang, Hagrids riesiger, schwarzer Saurüde jaulte auf, als er Fred erkannte, und hastete mit großen Sprüngen auf ihn zu, um ihn sabbernd und schwanzwedelnd zu begrüßen. Nathanael schloss erschrocken die Hände über der Fledermaus und streckte die Arme nach oben, damit der Hund sie nicht erreichen konnte. Beiläufig tätschelte Fred Fang den Kopf, an dessen Schnauze sich das einst dunkle Fell bereits grau verfärbt hatte, während die drei zu dem großen Tisch traten, der inmitten der Hütte stand. Behutsam legte Nathanael das kleine Tier auf der Tischplatte ab und trat ein Stück zurück, sodass Hagrid es sich genauer ansehen konnte.
Er runzelte die Stirn. »Was is'n mit dem armen Ding passiert?«, fragte er, während er besorgt das von Kürbissaft verklebte Fell und die grotesk verdrehten Flügel untersuchte.
»Travers«, presste Nathanael zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Wut in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Er hat versucht, sie zu ertränken.«
Hagrid warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, dann beugte er sich hinunter zu der Fledermaus, die flach und hastig atmete, die kleinen Augen vor Panik weit aufgerissen. »Sieht so aus, als hätt' er ihr dabei die Flügel gebrochen«, knurrte er mit unverhohlener Abneigung in der Stimme.
Nathanael nickte. »Können Sie sie wieder gesund machen?«, fragte er besorgt.
Hagrid beugte sich noch ein Stück tiefer hinunter, hob einen seiner großen Finger und tippte sachte gegen die kleine Pfote der Fledermaus. Sie fiepte leise. Während er sich wieder aufrichtete, nickte er. »Ich denk schon.« Er wandte sich vom Tisch ab, drängte sich an Fang vorbei, der aufgeregt hechelte und Sabberfäden auf den Boden tropfen ließ, und ging hinüber zu einer Ecke der Hütte, in der einige Äste und Reisigzweige in großen Körben lagerten.
Erst jetzt nahm Fred zum ersten Mal seine Umgebung wahr. Hagrids Zuhause bestand aus einem einzigen Raum, dieser jedoch war so groß, dass nicht nur Hagrids massige Gestalt, sondern auch eine Handvoll Möbel hineinpassten, die seiner Größe entsprachen. In der Ecke stand ein riesiges, mit einer Flickendecke bedecktes Bett, daneben eine Kommode von der Größe eines Kleinwagens. Ein großer Kessel hing über dem prasselnden Kaminfeuer und ein Stück abseits stand ein alter, speckiger Sessel, der so groß war, dass Fred bezweifelte, er würde mit den Füßen den Boden berühren können, säße er darin. Über dem großen Tisch und auch überall sonst in der Hütte hingen allerlei Dinge an Haken von der Decke: große Fleischstücke, zusammengebundene Kräuter und ein paar Bündel kräftiger, silbern schimmernder Haare, aus dem Hagrid nun ein paar herauszupfte. Fred glaubte, neben den geblümten Vorhängen einen halben Fasan baumeln zu sehen, doch ehe er genauer hinsehen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit wieder zum Tisch gelenkt, an den Hagrid nun mit seinem Werkzeug herantrat. Mit kleinen und so sanften Bewegungen, wie Fred sie seinen riesigen Händen gar nicht zugetraut hätte, löste Hagrid die kleinen Flügel der Fledermaus aus ihrer Verschränkung. Das Tier fiepte und zappelte ein wenig, blieb dann jedoch liegen, als Hagrid seinen kleinen Finger vorsichtig auf seiner Brust platzierte. Mit ein paar schnurrdünnen Zweigen und den silbrigen Haaren band er an jeden Flügel der Fledermaus eine Schiene, die dafür sorgten, dass das Tier die Flügel nun gestreckt und gerade hielt. Als er fertig war, nahm er eins seiner tischtuchgroßen Taschentücher und säuberte mit einer winzigen Ecke davon vorsichtig das verklebte Fell. Die Fledermaus, die scheinbar inzwischen verstanden hatte, dass Hagrid ihr nur helfen wollte, blieb ruhig sitzen und wartete, bis er fertig war. Zwar atmete sie immer noch schnell, versuchte aber nicht mehr, zu flüchten.
»So«, sagte Hagrid nach einer Weile und ließ von dem Tier ab. »Ich behalt sie erstmal in meiner Hütte, bis ihre Flügel verheilt sind. Die wird schon wieder.« Er wandte sich Fred zu. »Gut, dass du sie hergebracht hast.« Jetzt wanderte sein Blick weiter zu Nathanael. »Und du! Hast dir mit deinen Freunden ein Spaß erlaubt, hm? Unschuldige Tiere zu quälen, was habt ihr euch dabei gedacht?!« Hagrids Stimme klang so hart, wie Fred sie noch nie von ihm gehört hatte. Die beiden Jungen zuckten unwillkürlich zusammen und Nathanael duckte sich erschrocken unter Hagrids Worten.
»Nein!«, rief Fred schockiert. »Nathanael hat die Fledermaus gerettet!« Nathanael nickte vorsichtig und Fred wandte sich mit einem Mal neugierig an ihn. »Wie hast du das überhaupt gemacht?«, fragte er verwundert. »Travers hat sie dir doch bestimmt nicht einfach so überlassen.«
Nathanaels Blick fixierte einen Punkt auf dem Fußboden. »Ich hab ihm eine Gabel in den Arm gestochen«, murmelte er leise, beinahe so, als schämte er sich. Aber Fred musste lachen.
»Siehst du!«, sagte er, an Hagrid gewandt. »Er hat nichts zu tun mit diesen Idioten! Er ist mein Freund!«
Hagrid runzelte die Stirn. »Aber...« Sein Blick wanderte über den schmalen Körper des Jungen und blieb wieder an dem Slytherin-Abzeichen hängen. »Aber was hast du denn mit einem Slytherin zu schaffen, Fred?« In seinen Augen lag Verwunderung und Besorgnis.
»Wir sind Freunde«, erklärte Fred noch einmal und drückte den Rücken durch, um so selbstbewusst auszusehen, wie möglich. Dabei fürchtete er sich insgeheim vor der nächsten Frage, die unweigerlich folgen würde.
»Weiß dein Dad davon?«
»Ja«, log Fred brüsk, schrumpfte dann aber unter dem zweifelnden Blick Hagrids zusammen. »Ich wollte es ihm jedenfalls bald sagen«, murmelte er leise und starrte auf den Boden. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Nathanael zu ihm hinüberstarrte, und die Hitze stieg ihm ins Gesicht.
»Hm.« Hagrid schien es für einen Moment die Sprache verschlagen zu haben und diesen Moment nutzte Fred, um wieder Mut zu schöpfen.
»Er ist wirklich in Ordnung, Hagrid«, sagte er nachdrücklich und versuchte dabei, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Er kann doch nichts dafür, dass er ein Slytherin ist.«
Hagrid räusperte sich. »Nun... ähm... ich schätze... ja.« Wieder räusperte er sich, immer noch unsicher, was er von der Situation halten sollte. »Sind ein paar üble Typen in deinem Haus, Nathanael«, erklärte er schließlich. »Du sagst das hier war Travers, hm?« Er nickte zu der Fledermaus hinunter, die sich nun, so weit es mit den geschienten Flügeln ging, erschöpft auf dem Tisch zusammengerollt hatte. »Von dem solltet ihr euch wirklich fernhalten. Sein Bruder geht mir schon seit zwei Jahren auf die Nerven. Läuft ständig im Verbotenen Wald herum, verschreckt die Tiere. Neulich hat er einen Stein nach meinem Hippogreif geworfen. Hätt' echt übel für ihn enden können, wenn er nicht so schnell laufen könnte.« Bei dieser Vorstellung lachte Hagrid bitter auf. »Nun, ähm...« Er sah auf seine Uhr und räusperte sich wieder. »Ist schon spät, ihr solltet langsam wieder hoch zur Schule gehen. Komm gerne mal wieder vorbei, Freddie. Und... ähm...« Er warf einen Blick auf Nathanael, schien aber nicht so recht zu wissen, was er sagen sollte. »Ja«, murmelte er schließlich und hob die Hand zu einem unbeholfenen Gruß.
Und während er sanft nach der kleinen Fledermaus griff, um sie an seine Gardinenstange zu hängen, glitten Fred und Nathanael durch die Hüttentür wieder hinaus in die Dunkelheit.
Schweigend stapften die beiden den unebenen Pfad hinauf zum Schloss. Fred wusste genau, was in seinem Freund vorging, und doch wollte er alles, nur nicht darüber reden. Er fürchtete sich vor der Frage, die gleich kommen würde, er hatte Angst, dass Nathanael ihn fragen würde, warum er seinem Vater nicht erzählt hatte, dass er mit ihm befreundet war.
Aber Nathanael fragte nicht. Und aus irgendeinem Grund war das für Fred fast noch schlimmer, als darüber zu reden.
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