Kapitel 4 - Der Sprechende Hut
[Ava]
Kaum hatte der Hut sein Lied beendet, brach ein Beifallssturm in der Halle los. Erst, nachdem dieser verebbt war und das letzte Klatschen von den steinernen Wänden widerhallte, trat Professor Longbottom vor. In seinen Händen hielt er eine lange Pergamentrolle, die er nun mit ernster Miene auseinanderstrich.
»Ich rufe euch gleich alle nacheinander auf, dann nehmt ihr auf dem Stuhl Platz und setzt den Hut auf, damit dieser euer Haus verkünden kann«, erklärte er.
»Hoffentlich hat hier keiner Läuse«, flüsterte Fred, der hinter Ava stand, und sie musste kichern.
Da rief der Professor mit »Adams, Elinor«, die erste Schülerin auf. Ein Mädchen mit langen braunen Haaren trat vor und setzte sich unsicher auf den Stuhl, bevor sie sich mit zitternden Händen den Hut auf ihren Kopf drückte. Der Hut war so groß, dass er ihr sofort über die Augen rutschte. Es dauerte eine Weile – eine Weile vollkommener Stille – ehe der Hut laut: »RAVENCLAW!«, verkündete.
Elinor sprang auf und hastete mit hochrotem Kopf zum Ravenclaw-Tisch hinüber, wo sie mit tosendem Beifall empfangen wurde.
Ava beugte sich zu den anderen und flüsterte: »Mein Bruder Adam hat erzählt, es sei so eine Art Aberglaube, dass immer dasjenige Haus gewinnt, in welches der erste Erstklässler kam. Das Haus, in das der Letzte kam, gewinnt den Quiddichpokal. Ist zwar eine dumme Regel, aber er meint, es stimmt meistens.«
Aber Zoe machte nur: »Shht!« und legte den Finger an die Lippen. Ava aber war viel zu nervös, um der Auswahlzeremonie zuzuhören. Stattdessen sah sie sich in der großen Halle um und versuchte, ihre Brüder zu entdecken. Nach einer Weile schließlich erkannte sie Alfred am Hufflepuff- und Adam am Gryffindortisch. Sie winkte ihnen zu und grinste. Alfred schien sie nicht bemerkt zu haben, aber Adam zwinkerte ihr zu und winkte zurück. Sie lächelte und fragte sich für einen Moment, ob sie wohl heute Abend mit einem ihrer Brüder zusammen im Gemeinschaftsraum sitzen würde.
Doch da wurde sie bereits aus ihren Gedanken gerissen, als Zoes Name aufgerufen wurde. Hastig wandte sie ihren Blick wieder nach vorn, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihre Freundin zaghaft zum Stuhl ging und sich den Hut auf den Kopf setzte. Eine ganze Weile saß sie unruhig auf der Stuhlkante, ehe der Hut schließlich laut: »RAVENCLAW!« brüllte. Zoe stand auf und ging auf wackeligen Beinen hinüber zum Ravenclawtisch, während Ava ihr beide Daumen entgegenreckte. Sie sah zu, wie ihre Freundin sich neben Elinor setzte und von den älteren Ravenclaw-Schülern begrüßt wurde. Sie schien sich wirklich zu freuen. Als sie einen Blick zurück nach vorne warf, schenkte sie Ava ein breites Lächeln. Ava ließ ihren Blick weiter über die Haustische und schließlich über die Geister schweifen und beobachtete, wie ein großer, dicker Geist, der verdächtig wie ein Mönch aussah, sich leise mit einem Geist mit Halskrause unterhielt. Als sie sich wieder nach vorne drehte, wurde gerade Yorick Selwyn nach Slytherin gesteckt. Mit einem Schrecken bemerkte sie, dass die Liste nun schon beim Buchstaben S angekommen war. Gleich war sie an der Reihe!
Und so kam es auch – nachdem der Sprechende Hut einen großen, blonden Jungen namens Jeremiah Smith nach Hufflepuff gesteckt hatte, rief Professor Longbottom laut: »St. James, Ava!«
Ava war überrascht, dass ihre Beine sie überhaupt bis zum Stuhl trugen, so wackelig fühlten sie sich an. Ehe sie sich den Hut auf den Kopf setzte, warf sie einen Blick zu ihren Brüdern und ihren neuen Freunden, die sie alle erwartungsvoll ansahen, dann wurde es dunkel, weil der Hut über ihre Augen herabsank.
Etwa eine Sekunde lang geschah überhaupt nichts. Dann ertönte eine leise, piepsige Stimme, direkt an ihrem Ohr: »Hmmm«, machte es. »Da steckt viel Potenzial in dir. Einiges an Begabung und der Wunsch, diese zu zeigen. Sehr viel Fleiß, oh ja, sehr viel Fleiß und Tatendrang. Und das Herz am rechten Fleck. Eine wahre Freundin... nun, wo stecke ich dich hin?« Vor Avas innerem Auge tauchte das Bild von Zoe auf, die sich an den Ravenclawtisch gesetzt hatte, das ihres Bruders Adam, der ihr inmitten der scharlachroten Gryffindormenge zugelächelt hatte und das ihres ältesten Bruders Alfred inmitten seiner Freunde aus Hufflepuff. Alle drei hatten so glücklich ausgesehen, so zufrieden in dem Haus, in dem sie waren. Plötzlich dachte sie, es wäre ihr ganz egal, in welches Haus sie käme, solange sie Freunde dort finden würde. Und im selben Augenblick, als sie dies dachte, rief der Hut sein letztes Wort laut durch die Halle, sodass es alle hören konnten: »HUFFLEPUFF!«
Die große Halle applaudierte. Ava nahm den Hut mit bebenden Händen von ihrem Kopf und lief, so schnell sie ihre Beine tragen konnten, hinüber zum Tisch, der nun ihr Haustisch sein würde. Hände streckten sich ihr entgegen, schüttelten die ihren, klopften ihr auf die Schulter. Alfred umarmte seine kleine Schwester herzlich und rückte zur Seite, um ihr auf der Bank neben ihm Platz zu machen. Ava strahlte. Von ihrer Magengegend her breitete sich ein warmes Gefühl aus, das ihr ganz deutlich zeigte, dass der Hut die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Voller Neugier wartete sie darauf, dass die anderen Erstklässler ausgewählt wurden. Sie sah zu, wie Blair Travers nach Slytherin und Samara Urquhart nach Ravenclaw gesteckt wurde. Schließlich wurde: »Valbona, Nathanael!« aufgerufen, und der blonde Junge tappte unsicher nach vorn. Ava konnte sehen, wie seine Beine zitterten, auch wenn er sich bemühte, aufrecht zu gehen.
Der Hut brauchte einige Zeit, um sich bei Nathanael zu entscheiden. Ava kreuzte die Finger im Schoß und sah gebannt zu, wie der Teil von Nathanaels Gesicht, der unter der Hutkrempe hervorlugte, immer blasser wurde. Schließlich jedoch rief der Hut laut: »SLYTHERIN!« durch die Halle. Nathanael sprang auf, das Gesicht mit einem Mal errötet vor Aufregung und lief an den restlichen Erstklässlern vorbei zum Slytherintisch, dessen Schüler ihn freudig begrüßten. Ava warf ihm quer durch die Halle ein Lächeln zu, das er erwiderte.
Es waren nun nicht mehr viele Kinder übrig, die auf ihre Auswahl warteten. Mit »Weasley, Dominique« wurde die erste der Weasleys aufgerufen, ein Mädchen mit einem hübschen Gesicht und silbrig blondem Haar, das im Kerzenschrein rötlich schimmerte. So aufrecht wie kaum ein anderer Erstklässler stolzierte sie zum Stuhl und setzte sich den Sprechenden Hut auf, der kurz darauf laut: »GRYFFINDOR!« ertönen ließ. Dominique nahm sich den Hut wieder vom Kopf, warf ihr langes Haar zurück und trabte hinüber zum Tisch der Gryffindors, der ihr einstimmig zujubelte. Als nächstes wurde Fred aufgerufen. Ava konnte sehen, wie aufgeregt er war, auch wenn er versuchte, es ebenso wie seine Cousine zu verstecken. Kaum war der Hut über seine Augen gerutscht, herrschte wieder eine gespannte Stille in der Halle. Doch nach einigen Momenten wurde auch bei Fred laut »GRYFFINDOR!« verkündet und der Junge rannte freudestrahlend hinüber zu seinem Haus. Auch wenn Ava sich ehrlich für ihn freute, dass er in das Haus gekommen war, das er sich gewünscht hatte, so war sie doch ein wenig wehmütig. Das war es nun also. Keiner von den vieren war auch nur mit einem der anderen ins gleiche Haus gekommen. Niemand würde mit dem anderen den Schlafsaal oder Gemeinschaftsraum teilen und zum Essen würden sie nicht an einem Tisch sitzen. In diesem Augenblick hoffte Ava nichts so sehr, als dass sie ihr Versprechen halten würden, trotzdem Freunde zu bleiben. Auch, wenn sie die anderen drei erst am Morgen desselben Tages kennengelernt hatte, wollte sie sie nicht aus ihrem Leben streichen. Und sie nahm sich fest vor, alles zu tun, damit dies nicht geschehen würde.
Freds andere Cousine, Molly, wurde schließlich eine Ravenclaw und gehörte damit zu dem kleinen Teil der Familie, der laut Fred nicht in Gryffindor gelandet war. Ava fand, dass sie fast ein wenig enttäuscht aussah und beinahe tat sie ihr leid.
Als letzte Erstklässlerin wurde schließlich Adrienne Zabini als Slytherin eingeteilt und Ava war ein bisschen verstimmt und hoffte sehr, dass der Aberglaube, von dem ihr Bruder ihr erzählt hatte, dieses Jahr nicht zutreffen würde. Wie schön wäre es, wenn Hufflepuff am Ende des Schuljahres zumindest einen Pokal gewinnen würde!
Nachdem auch Adrienne sich an ihrem Tisch niedergelassen und Professor Longbottom den Stuhl inklusive Hut fortgeräumt hatte, tauchte mit einem Mal auf allen Haustischen ein riesiges Buffet an Köstlichkeiten auf: Es gab alle erdenklichen Sorten von Aufläufen, Pasteten, Braten, verschiedene Soßen, Gemüsesorten und andere Gerichte, die Ava noch nie gesehen hatte. Nach dem Hauptgang kam der Nachtisch und mit ihm unendliche viele Sorten von Pudding, Eis, Kuchen und Gebäck.
Als alle Schüler schließlich satt, zufrieden und schläfrig auf ihren Bänken saßen, erhob sich die Schulleiterin, Professor McGonagall und gebot mit ausgestreckten Armen um Ruhe. Sie war eine große, streng aussehende Hexe, die ihr graues Haar zu einem straffen Knoten zurückgebunden hatte. Darauf thronte ein schottengemusterter Spitzhut, dessen grüne Farbe zu ihrem schweren Umhang passte. In einer Rede, der Ava gar nicht mehr richtig folgen konnte, benannte sie Regeln und Termine, von denen Ava hoffte, sie auch noch woanders aufschnappen zu können.
Nach dem Singen der Schulhymne schließlich wurde das Festessen für beendet erklärt. Zwei Schüler aus Hufflepuff, ein Mädchen und ein Junge, erhoben sich nun und verkündeten mit gewichtiger Stimme, die Erstklässler mögen ihnen bitte in den Schlafsaal folgen. Ava sah die silberne Plakette mit dem großen V auf ihren Umhängen schimmern, wie auch ihr Bruder Alfred eine hatte. Doch Alfred war nun bereits in der sechsten Klasse, und das Herumführen der Erstklässler schienen die jüngeren Vertrauensschüler zu übernehmen.
Gemeinsam mit den anderen folgte Ava den beiden aus der Großen Halle hinaus in die Eingangshalle. Der Fette Mönch, ihr überaus freundlicher Hausgeist, begleitete sie.
Ava entdeckte Fred in der Menge der neuen Gryffindors und winkte ihm zu. Er winkte zurück. Die Ravenclaws und Gryffindors stiegen nun die große Marmortreppe hinauf nach oben, während die Hufflepuffs gemeinsam mit den Slytherins nach unten gingen. Ava versuchte, Nathanael unter ihnen auszumachen und entdeckte ihn schließlich hinter einem großen, dunkelhäutigen Mädchen mit langem Haar. Auch ihm winkte sie zu, doch er schien sie nicht zu bemerken.
Charlotte, die ebenfalls neu in Hufflepuff war und nun neben Ava hertrottete, rätselte laut: »Wo unser Gemeinschaftsraum wohl ist?«, sodass auch Ava nun von ihren Gedanken abgelenkt wurde. Alfred hatte ihr nur erzählt, dass der Raum sehr schön und gemütlich war, mehr wusste sie nicht.
In diesem Moment bogen die Hufflepuffs in einen Korridor ab und trennten sich somit von den Slytherins. Eine Weile liefen sie diesen Gang hinab, ehe sie sich rechts einem Winkel zuwandten. Einige große Fässer waren bis zur Decke an der Wand entlang gestapelt.
»Passt gut auf«, sagte die Vertrauensschülerin. Sie holte ihren Zauberstab hervor und ging auf das zweite Fass von unten in der Mitte der Reihe zu. »Ihr müsst im Rhythmus von Helga Hufflepuff dagegen klopfen«, erklärte sie. »Aber Vorsicht – Wenn der Rhythmus nicht stimmt oder ihr gegen den falschen Fassdeckel klopft, werdet ihr mit Essig übergossen.«
Charlotte gluckste.
Die Vertrauensschülerin klopfte nun im genannten Rhythmus gegen das Fass und der Deckel sprang auf. Nacheinander krochen die Kinder nun in den sich dahinter befindlichen, erdigen Gang, der zunächst steil nach oben führte und dann in einem runden Raum endete. Der Raum hatte eine niedrige Decke und oben an den Wänden befanden sich kleine kreisrunde Fenster, durch die das Mondlicht fiel und das wogende Gras und die Löwenzähne davor beleuchtete. Viele Gegenstände aus poliertem Kupfer befanden sich in dem Raum, ebenso wie einige Pflanzen, von denen selbst Ava als jemandem, der in einem Zaubererhaushalt aufgewachsen war, manche unbekannt vorkamen. Sie hingen von der Decke, kletterten die Steinwände hinauf und standen auf den Fenstersimsen oder niedrigen Couchtischen. Es gab dick gepolsterte Sofas und Sessel, die gelb und schwarz bezogen waren.
Ein paar Schüler waren bereits vom Essen zurückgekehrt und räkelten sich in den Sesseln vor dem Kamin, lasen Bücher, unterhielten sich oder spielten Spiele. Der Kaminsims war mit geschnitzten Dachsen verziert und darunter hing ein großes Portrait von Helga Hufflepuff, die Ava von den Schokofroschkarten wiedererkannte. Sie lächelte freundlich auf ihre Schüler hinunter und prostete ihnen mit einem goldenen Trinkkelch zu. »Neue Hufflepuffs!«, rief sie freudig lächelnd zu ihnen hinunter. »Wie schön! Willkommen!«
»Nun«, begann der Vertrauensschüler, nachdem er ihr ein Lächeln geschenkt hatte, und wandte sich wieder den Erstklässlern zu. »Durch diese Türen gelangt ihr zu euren Schlafsälen.« Er zeigte hinüber zu den runden Holztüren an der Wand des Raumes, die aussahen wie riesige Fassdeckel. »Die Schlafsäle der Jungen befinden sich auf der linken Seite, die der Mädchen auf der rechten. Ich rate euch, bald schlafen zu gehen, damit ihr für euren ersten Schultag ausgeschlafen seid. Ich wünsche euch eine gute Nacht.«
Gemeinsam mit Charlotte und den anderen beiden Erstklässlerinnen Leenie und Faye machte sich Ava auf den Weg in den Schlafsaal. Dort standen große, gemütliche Himmelbetten, auf denen weiche Patchworkdecken ausgebreitet waren und an deren Fußenden kupferne Bettflaschen hingen. Ihre Koffer waren vermutlich von Hauselfen ins Schloss gebracht worden und standen nun mitten im Zimmer. Eines der Mädchen hatte wohl eine Eule, denn ein Käfig mit einem großen, stolzen Uhu stand neben ihrem Gepäck. Der Vogel döste träge auf seiner Stange, schreckte aber auf, als die vier hineintraten.
»Wo wollt ihr schlafen?«, fragte Faye und sah die anderen an.
»Mir egal«, gähnte Charlotte. »Hauptsache irgendwo. Ich bin hundemüde.«
»Ich auch«, nickte Ava und ging dann, weil keiner etwas tat, hinüber zu dem Bett, das am weitesten hinten im Raum, an einem der kleinen Fenster stand. Sie schob ihren Koffer dorthin, holte ihren Schlafanzug heraus und zog sich rasch um. Sanft fischte sie Hugo aus der Tasche ihres Umhangs, der ein seliges Quaken ertönen ließ und auf ihren Nachttisch hopste.
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