Kapitel 19 - Der Weg zurück
[Nathanael]
Der Sommer endete heiß und stickig. Schon Wochen vor dem Ende der Ferien hatte Nathanael seinen Koffer gepackt und wartete nur auf den Tag, an dem er wieder zurück nach Hogwarts konnte. Sein Zimmer war leer und einsam. Die ganze Wohnung war leer und einsam und auch er fühlte sich genauso: irgendwie leer und seltsam einsam.
Während er auf seinem Bett saß und hinaus auf die graue Häuserwand starrte, die er von seinem Fenster aus sehen konnte, wünschte er sich kaum etwas mehr, als bei seinen Freunden zu sein, in Hogwarts. Er wusste, dass sie sich am Anfang des Sommers getroffen hatten, dass sie gemeinsam zur Quidditch-Weltmeisterschaft gegangen waren und dass er ebenso gut hätte mitgehen können. Aber nein, er hatte es nicht gekonnt. Am Anfang des Sommers hatte er gar nichts gekonnt. Er hatte nur im Bett gelegen, an die Decke gestarrt, von der sich die Tapete löste, und gehofft, dass sein Vater ihn in Ruhe lassen würde.
Sein Vater hatte so getan, als wäre nichts gewesen, als wäre alles so wie immer. Er war zur Arbeit gegangen, er hatte mit Nathanael geschimpft, war am Abend vor dem Fernseher eingeschlafen. Aber es war nichts wie immer. Nicht einmal ein kleines bisschen. Und es würde auch nie wieder so sein. Es tat weh, das zu wissen. Es tat so weh, dass Nathanael nichts lieber wollte, als mit jemandem darüber reden, und gleichzeitig wollte er kein Wort sagen. Nur einmal hatte er in diesem Sommer ihr Viertel verlassen und war in die Charing Cross Road zum Tropfenden Kessel gelangt. Er war früh am Morgen dort hingegangen, um so wenige Leute wie möglich zu treffen. Dann hatte er in der Winkelgasse einige Zeit in den günstigeren Second-Hand-Läden verbracht und seine Sachen fürs neue Schuljahr zusammengesucht. Das wenige Geld, das er von seiner Mutter hatte, hatte ihn dabei gerettet. Es war nicht viel, aber es reichte, um sich mit dem Nötigsten einzudecken.
Außer an diesem Tag war Nathanael nicht mehr unter Hexen und Zauberern gewesen, seit er sein erstes Schuljahr abgeschlossen hatte. Er freute sich genauso darauf, wieder nach Hogwarts zu gehen, wie er sich davor fürchtete. Er hatte Angst, dass ihm jemand etwas anmerken würde. Dass er nicht so tun könnte, als wäre alles normal. Als wäre alles gut. Denn das war es verdammt nochmal nicht.
Schneller, als er es bemerken konnte, schlug seine Faust plötzlich gegen die Wand am Kopfende seines Bettes. Die Haut an den Knöcheln platzte auf, doch als Nathanael seine Finger ansah, tat es nicht weh. Nur in ihm drin, in ihm drin tat alles weh.
Sein Vater konnte sich nicht entscheiden. Am einen Tag wollte er, dass Nathanael nie wieder nach Hogwarts ging. Am nächsten Tag wollte er ihn am besten jetzt sofort und für immer dorthin schicken. Und das wäre Nathanael nur recht gewesen. Er hatte den ganzen Sommer über mit Hausaufgaben und Büchern versucht, sich abzulenken. Hatte ellenlange Aufsätze für die Schule geschrieben und Zauberformeln auswendig gelernt, die er natürlich nicht benutzen durfte. Nicht in den Ferien, nicht hier, wo die Gefahr bestand, dass irgendein Muggel es mitbekommen könnte. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, nicht doch ein kleines bisschen zu zaubern. Manchmal so viel, dass es sich anfühlte, als würde er etwas in sich drin zerquetschen, wie die Käfer, die er im Zaubertrankunterricht mit dem Mörser zerstieß. Aber jetzt waren die Ferien vorbei, jetzt, endlich, würde alles wieder ein bisschen besser werden.
Am Morgen des ersten Septembers machte er sich schon früh allein auf den Weg von ihrer heruntergekommenen Londoner Wohnung zum Bahnhof King's Cross. Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, musste er schlucken und er spürte, wie es in seinen Augen brannte.
Er lief fast drei Stunden. Der große Schrankkoffer war schwer und schlug ihm beim Hinterherziehen gegen die Beine, und zwischendurch hatte er Angst, er würde es nicht rechtzeitig zum Zug schaffen. Als er die Themse überquerte, überlegte er kurz, ein paar seiner schwersten Schulbücher hineinzuwerfen. Zudem war er hungrig und müde und wünschte sich nichts sehnlicher, als allein in seinem Schlafsaal in Slytherin zu sein, ein paar Reste vom Festessen ganz für sich allein habend, mit niemandem, der ihn störte oder etwas von ihm wollte.
Als er endlich das große Gebäude des Bahnhofes vor sich auftauchen sah, hätte er vor Erleichterung fast geweint. Es war erst halb elf, und er wusste, dass er genug Zeit hatte, um zum Gleis neundreiviertel zu gelangen. Er wuchtete seinen Koffer auf einen der Gepäckwagen und schob diesen in Richtung der Gleise neun und zehn. Dabei entdeckte er nur eine einzige andere Zaubererfamilie, die er zwar nicht kannte, doch da sie lange Umhänge trugen und eine leuchtendrote Katze dabeihatten, ging er davon aus, dass sie ebenfalls zum Hogwarts-Express wollten.
»Beeil dich, Lina!«, rief die Mutter ihrer Tochter zu, während diese stehengeblieben war, um ihre Schnürsenkel neu zu binden. »Je schneller wir auf dem Bahnsteig sind, desto besser!«
Doch Lina, ein blondes Mädchen, das verdächtig danach aussah, als würde es zum ersten Mal nach Hogwarts fahren, beschäftigte sich in aller Ruhe weiter mit ihren Schuhen, sodass Nathanael seinen Gepäckwagen an ihnen vorbeischob. Mit klopfendem Herzen ging er auf die Absperrung zwischen Gleis neun und zehn zu, schob seinen Wagen so ruhig wie möglich in Richtung des Fahrkartenschalters und – einen Augenblick später fand er sich auf dem Bahnsteig neundreiviertel wieder. Er atmete tief durch. Endlich. Endlich würde er wieder zurückfahren.
Der Hogwarts-Express, eine scharlachrote Dampflock, stand schon abfahrbereit auf den Gleisen. Der Rauch, den sie ausstieß, legte sich als dichter Nebel über den Bahnsteig und Nathanael war froh darum, dass er darin verschwinden konnte. Er hielt sich nicht lange am Gleis auf, stattdessen wuchtete er seinen Koffer in den Zug und suchte sich ein leeres Abteil. Nur wenige Abteile waren um diese Zeit schon besetzt. Hauptsächlich waren es ältere Schüler, die mit ihren Freunden schwatzten oder in ihren Schulbüchern lasen.
Nathanael seufzte, als er sich auf den Sitz am Fenster eines freien Abteils fallen ließ und schloss für einen Augenblick die Augen, einfach nur froh, endlich auf dem Weg nach Hogwarts zu sein.
Es war Zoe, die er von seinen Freunden als erstes traf. Sie schob sich mit ihrem riesigen Koffer und dem Käfig mit ihrer Schleiereule Quincy ins Abteil hinein und er sprang auf, um ihr zu helfen, das Gepäck zu verstauen.
»Schön, dich zu sehen«, sagte Zoe, nachdem sie sich auf den Sitz ihm gegenüber fallen gelassen hatte. Sie musterten einander.
»Deine Haare sind kurz«, stellte Nathanael fest und sie nickte.
»Deine sind dafür ganz schön lang geworden.«
Das stimmte. Er hatte sich die ganzen Sommerferien über die Haare nicht schneiden lassen und nun waren sie fast genauso lang wie Zoes.
»Du siehst müde aus«, meinte sie schließlich und Nathanael versuchte, ihren ernsten Augen hinter der Brille auszuweichen, die ihn zu durchbohren schienen. Er hatte keine Ahnung, was er darauf sagen sollte, also sagte er: »Ja.« Er wusste, dass er blass und dünn geworden war, immerhin hatte er fast den ganzen Sommer im Haus verbracht und nur wenig gegessen. Aber das konnte er Zoe nicht sagen. Und erst recht konnte er ihr nicht sagen, warum.
Mit einem Mal musste er an ihre erste Begegnung im Zug zurückdenken, das war genau vor einem Jahr gewesen. Auch damals hatten sie einander gegenübergesessen und sich angeschwiegen, und es war ein seltsames, beinahe peinliches Schweigen gewesen. Zwei fremde Kinder auf einer Reise zu einer ebenso fremden Schule, mitten hinein ins Ungewisse. Heute war es ein anderes Schweigen, ein viel ernsteres, bedrückenderes. Nathanael ahnte, dass Zoe etwas dachte, das sie nicht aussprach.
Und deshalb war er dankbar, als sie schließlich anfing, von der Schule zu reden. Sie erzählte von ihrem Aufsatz in Astronomie, den sie über die Ferien geschrieben hatte und Nathanael berichtete von seinem.
Irgendwann kamen auch Ava und Fred in ihr Abteil gestolpert, ebenso große Koffer wie die anderen beiden im Schlepptau und einen quakenden Hugo in Avas Umhangtasche. Zoes Schleiereule Quincy, die sich mittlerweile damit abgefunden hatte, dass sie Avas Frosch nicht essen durfte, klackerte nur stolz mit dem Schnabel und legte ihren Kopf unter den Flügel, um ein Nickerchen zu halten.
Kaum hatte Ava ihren Koffer in die Ablage über ihren Köpfen gewuchtet, riss sie die Abteiltüren zu und verkündete atemlos: »Ich muss euch was erzählen.« Sie warf einen Blick zur Seite. »Also, Zoe und ich müssen euch was erzählen.«
»Geht es um die Drachensache?«, fragte Fred sofort aufgeregt. »Ich hab mir gedacht, dass du bestimmt mehr weißt! Und nachdem ihr bei der Weltmeisterschaft so schnell verschwunden seid...«
Richtig, die Quidditch-Weltmeisterschaft. Nathanael schluckte. Etwas in seiner Magengegend stach ihm in die Rippen, als er daran dachte, dass seine Freunde im Sommer gemeinsam ein Abenteuer erlebt hatten, während er...
»Genau«, unterbrach Ava seine Gedanken. »Ich konnte im Brief nicht alles schreiben«, sie senkte verschwörerisch die Stimme, »es hätte ja sein können, dass er abgefangen wird. Und Nathanael weiß ja nun noch gar nicht Bescheid, also...« Ihre Augen huschten kurz zu ihm hinüber, dem ein immer größer werdender Kloß im Hals zu stecken schien. Dann holte sie tief Luft und begann zu erzählen.
Davon, wie eine Hauselfe namens Peeky plötzlich beim Finale der Quidditch-Weltmeisterschaft aufgetaucht und Mrs. St. James wegen einer dringenden beruflichen Angelegenheit mitgenommen hatte. Wie Zoe, Ava und ihre Brüder darüber spekuliert hatten, was passiert sein könnte. Wie Peeky die vier anschließend in aller Eile zurück zum Knieselquartier gebracht hatte und sie dort den ganzen restlichen Tag auf die Rückkehr von Mrs. St. James gewartet hatten.
Avas Mutter war erst spät in der Nacht erschienen, erschöpft und mit zerrissenem Umhang, unter dem etliche Kratzer und Brandwunden zu sehen waren. Mühsam war sie zum Regal an der Wand hinübergehumpelt, in dem die Familie ihre Heiltränke, -kräuter und -salben aufbewahrte. Und während sie damit begann, ihre Wunden vorsichtig mit Diptam- und Murtlap-Essenz zu beträufeln, berichtete sie: »Es war ein Drache«, erklärte sie und schob ihren Umhangsaum hoch, um die Knie zu erreichen. »Ein walisischer Grünling, der sein Unwesen in Leicester getrieben hat.«
»Ein Drache?«, wiederholte Alfred überrascht. »Nur gut, dass es kein schwarzer Hebride war oder eine andere Art. Die Grünlinge sind ja immerhin noch friedlicher als die anderen Arten.«
»Nun, dieser hier war ganz und gar nicht friedlich«, meinte Mrs. St. James und verzog das Gesicht, als sie etwas Diptam auf eine besonders große Brandwunde an ihrer Wade träufelte. Die Wunde begann leise zu zischen und zu dampfen, dann spannte sich bereits frische, rosa Haut darüber. Archibald, der Crup, kam besorgt winselnd zu ihr hinüber und leckte fürsorglich über Mrs. St. James' Knie. »Es war ein ausgewachsenes Weibchen«, fuhr diese fort. »Und so wie sie aussah, steckt sie gerade mitten in der Brutzeit. Nichts bringt eine brütende Drachenmutter dazu, ihr Nest zu verlassen und eine Muggelstadt anzugreifen, es sei denn-«
Alfred schnappte nach Luft. »Es sei denn, sie glaubt, dass ihre Eier sich dort befinden!«
Mrs. St. James nickte knapp. »Wir haben keine Ahnung, wie das Gelege dorthin gelangen konnte, aber die Mutter ist jetzt erstmal betäubt und wird transportbereit gemacht. Die ganze Stadt wimmelt von Drachenwärtern und Ministeriumsmitarbeitern, Vergiss-Michs, Auroren, Heilern. Haben ja alle Muggel gesehen, was passiert ist, war ja helllichter Tag. Das wird eine Arbeit, das alles wieder geradezubiegen.« Sie seufzte und stand auf. Ihre Wunden waren nun wieder vollständig verheilt, die Haut an den betroffenen Stellen nur noch leicht gerötet. Mit einem Schwung ihres Zauberstabes wischte sie nun noch das Blut fort und reparierte ihren Umhang, dann sagte sie: »Ich muss jetzt auch wieder los, tut mir leid, Kinder. Aber wir haben kein Diptam mehr dort, ihr glaubt gar nicht, wie viele Muggel allein verletzt sind. Einige haben sie schon ins St. Mungos gebracht.« Sie steckte die Flasche mit der Tinktur in ihre Tasche. »Es tut mir wirklich leid, ich würde gern den Abend mit euch verbringen, auch mit dir, Zoe.« Sie lächelte dem Hausgast sanft zu. »Ich weiß nicht, ob ich da bin, wenn deine Eltern dich morgen abholen, aber ich hoffe, es hat dir nichtsdestotrotz bei uns gefallen und du bist jederzeit wieder herzlich Willkommen.« Und wenige Minuten später war Avas Mutter bereits wieder verschwunden.
Ganze eineinhalb Wochen hatte es gedauert, bis sämtliche Spuren des Drachenangriffs in Leicester beseitigt und alle beteiligten Muggel mit Vergessenszaubern belegt worden waren. Gestorben war zum Glück niemand, auch wenn einige Muggel mit starken Verbrennungen im St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und Verletzungen behandelt werden mussten, was die Schwierigkeiten der Gedächtnisänderungen noch einmal erhöhte.
Mrs. St. James war unterdessen gemeinsam mit einigen anderen Hexen und Zauberern dafür zuständig gewesen, das Drachenweibchen und ihr Gelege wieder sicher ins Drachenreservat in den Bergen von Wales zu transportieren. Dies erwies sich als besonders schwierige Aufgabe, war das Tier doch immer noch alles andere als positiv auf Menschen gestimmt.
In den folgenden Wochen machte sich Mrs. St. James jeden Tag mindestens einmal, oft sogar mehrmals auf zum Drachenreservat. Zum einen, um die Versorgung der Verletzungen zu überwachen – die Drachin war bei dem Aufruhr leider ebenfalls verletzt worden –, vor allem jedoch, um dafür zu sorgen, dass die Schutzbanne, die über dem Reservat lagen, ordnungsgemäß funktionierten. Glücklicherweise lag das Knieselquartier nur einen zwanzigminütigen Besenflug von den Preseli-Bergen entfernt, in denen sich das Reservat befand. Dies war unter anderem der Grund dafür, dass Mrs. St. James mit der Überwachung des Gebietes betraut worden war.
»Mum fliegt immer noch regelmäßig in die Berge, um alles zu kontrollieren«, erzählte Ava, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte. »Sie ist ein wenig besorgt, was passiert, sobald die Drachenjungen schlüpfen, doch bis jetzt hat es keinen weiteren Versuch gegeben, die Eier zu stehlen.«
»Aber es kann ihnen doch nicht um die Eier gegangen sein«, murmelte Fred, den Blick nachdenklich auf Avas Harlekinfrosch gerichtet. »wieso hätten sie die sonst in einer Muggelstadt verstecken sollen?«
Ava nickte zustimmend. »Nein, es ging ganz klar darum, Chaos zu stiften«, meinte sie bestimmt. »Die Frage ist nur, warum...« Ihre Stimme verlor sich und sie blickte gedankenverloren aus dem Fenster, wo nun, da der Zug London hinter sich gelassen hatte, eine eintönige Landschaft aus Feldern und Waldstücken vorbeizog.
Nathanael merkte nun wieder, wie furchtbar müde er war. Er hatte Avas und Zoes Erzählungen aufmerksam gelauscht, doch nun konnte er die Augen kaum mehr offenhalten. Er war so erschöpft, dass ihn nicht einmal die wilden Spekulationen der anderen zu dem Dracheneidiebstahl wachhalten konnten.
Und so schlief er nach einer Weile Zugfahrt mit der Stirn ans Fenster gelehnt ein.
Erst viele Stunden später wachte er wieder auf, überrascht darüber, wie lange und tief er geschlafen hatte. Draußen vor dem Zugfenster war es bereits dunkel und er stellte fest, dass seine Freunde inzwischen ihre Hogwartsumhänge angezogen hatten. Auch er merkte mit einem Mal, wie dringend er aus seinen Sachen herauswollte. Das Sweatshirt war vollgeschwitzt und klebrig, die Jeans im Sommer zu kurz geworden. Zoe und Ava gingen taktvollerweise noch einmal die Imbisshexe suchen, während er sich umzog und Nathanael war dankbar, dass auch Fred sich ihnen anschloss.
Als sie im Bahnhof Hogsmeade einfuhren, leuchtete bereits der zunehmende Halbmond hoch am Himmel. Sie hörten, wie Hagrid die neuen Erstklässler zu sich rief, um sie traditionsgemäß mit den Booten zur Schule zu fahren, doch die älteren Schüler machten sich auf den Weg zu den Kutschen, um zum Schloss zu gelangen. Erst, als Nathanael Rubeus Hagrids riesiges, bärtiges Gesicht über der Masse auftauchen sah, bemerkte er schmerzhaft, wie sehr er auch den Lehrer über die Ferien vermisst hatte. Hagrid entdeckte die vier Freunde und winkte ihnen fröhlich zu, und Nathanael schenkte ihm ein zaghaftes Winken zurück.
Als er die vor die Kutschen gespannten Thestrale sah, machte sein Herz einen freudigen Hüpfer. Im vergangenen Schuljahr hatte er Hagrid einige Male dabei helfen dürfen, sie zu versorgen und hatte Gefallen an den sanftmütigen Kreaturen gefunden. Er wusste, dass die meisten Leute sie nicht sehen konnten, und vermutlich war das auch besser so, schließlich boten sie zunächst nicht gerade einen freundlichen Eindruck mit ihren skelettartigen Körpern, über die sich eine ledrigschwarze Haut spannte. Aber Nathanael hatte gelernt, dass sie sehr liebevolle und gutmütige Wesen waren und oft genug hatte er in ihrer Gesellschaft eine Art Ruhe empfunden, die er nur schwer beschreiben konnte. Ehe er jetzt in eine der Kutschen stieg, berührte er den sie ziehenden Thestral sanft und unauffällig an der Flanke. Der Thestral wandte den Kopf und gab so etwas wie ein leichtes Nicken von sich. Auch er schien Nathanael wiederzuerkennen.
Auf der Fahrt hoch zum Schloss begann es zu regnen. Feiner Sprühnebel schoss gegen ihre Gesichter wie Eisnadeln und die Kinder begannen zu zittern. Sie waren froh, als sie endlich in die warme Eingangshalle von Hogwarts traten und schüttelten sich das Wasser aus den Haaren wie Hunde. Avas Frosch Hugo hingegen schien beinahe enttäuscht darüber, wieder im Trockenen zu sein. Er gab ein grummelndes Quaken von sich und zog den Kopf, den er in den Regen gehalten hatte, wieder in Avas Tasche zurück.
Beim Betreten der Großen Halle schließlich mussten sich die vier Freunde wieder trennen, um zu ihren jeweiligen Haustischen zu gelangen. Als Nathanael auf den Slytherintisch zuging, hielt er Ausschau nach Lyra, doch er konnte ihren blonden Haarschopf nirgendwo entdecken. Stattdessen ließ er sich schließlich neben Everett Tripe auf die Bank sinken und fragte ihn leise: »Hast du Lyra gesehen?«
»Nein«, erwiderte der schlaksige Junge, der im Sommer bestimmt noch einen Kopf in die Höhe geschossen war. »Ich hab mich auch schon gewundert, aber im Zug konnte ich sie auch nirgendwo entdecken.«
Chloé Kama, die auf Everetts anderer Seite saß, beugte sich zu ihnen herüber. »Sie war nicht im Zug«, erklärte sie flüsternd. »Ich hab sie überall gesucht.«
»Merkwürdig«, meinte Everett und in Nathanaels Gehirn ratterte es. Was war passiert? War Lyra möglicherweise etwas geschehen? Hatte sie den Zug verpasst? Oder hatte sie vielleicht einen Unfall gehabt? Was, wenn sie sogar...? – nein, daran wollte er nicht einmal denken!
»Habt ihr im Sommer etwas von ihr gehört?«, fragte er und schämte sich plötzlich, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Andererseits hätte er schließlich auch gar keine Möglichkeit gehabt, selbst, wenn er gewollt hätte.
»Ich hab am Anfang der Ferien noch mit ihr geschrieben«, erzählte Chloé, »aber dann nicht mehr.«
»Und da hat sie nichts davon gesagt, dass sie umzieht oder die Schule wechseln will oder so?«, fragte Everett.
Nathanaels Herz fiel schmerzhaft ein Stück herab.
Aber Chloé schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht.«
In diesem Augenblick ging die große Tür am Ende der Halle auf und Professor Flitwick kam mit einer Schar Erstklässler herein.
Nathanael runzelte die Stirn. »Mit uns hat doch letztes Jahr Professor Longbottom die Auswahlzeremonie gemacht. Wieso macht es jetzt Flitwick?«
»Er ist halt der stellvertretende Schulleiter.« Everett zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte er letztes Jahr einfach keine Zeit oder so.«
Die Erstklässler gingen in einer langen Reihe den Mittelgang entlang und Nathanael fühlte sich unweigerlich daran erinnert, wie er selbst vor einem Jahr nervös und gleichzeitig voller Vorfreude hinter den anderen hergegangen war, die bald seine besten Freunde werden sollten. Er bemerkte das kleine blonde Mädchen, an dem er bereits am Bahnhof King's Cross vorbeigelaufen war, inmitten der Kinder und musste lächeln. Anscheinend hatte er mit seiner Vermutung richtig gelegen, dass sie zum ersten Mal nach Hogwarts gefahren war.
Und während Professor Flitwick den vierbeinigen Stuhl aufstellte und den alten, zerschlissenen Hut darauf ablegte, der gleich die neuen Erstklässler in ihre Häuser einteilen sollte, fiel Nathanael plötzlich wieder der Aberglaube ein, von dem Ava ihnen im letzten Jahr erzählt hatte: Ihrem Bruder Adam zufolge sei es häufig so, dass das Haus, in welches der zuerst aufgerufene Schüler kam, den Hauspokal gewänne, während das Haus, in das der letzte kam, den Quidditchpokal bekäme. Im letzten Jahr war Elinor Adams als erste Erstklässlerin ausgewählt und dem Haus Ravenclaw zugeteilt worden. Die letzte Schülerin war Adrienne Zabini gewesen, die zu ihnen nach Slytherin gekommen war. Und tatsächlich hatte Ravenclaw im letzten Jahr den Hauspokal gewonnen, während Slytherin den Quidditchpokal erkämpft hatte. Bei dem Gedanken daran, dass Ava tatsächlich recht gehabt hatte, musste er ein wenig grinsen. Nun war er besonders gespannt, wohin die neuen Erstklässler sortiert werden würden.
Der Hut auf dem hölzernen Stuhl hatte inzwischen begonnen, sich zu bewegen und stimmte nun mit lauter Stimme sein Lied zum Jahresbeginn an. Nathanael hörte jedoch nur mit halbem Ohr zu. Er war viel zu beschäftigt damit, zu überlegen, welcher Erstklässler wohl in welches Haus kommen könnte und dachte gleichzeitig immer wieder an Lyra und daran, wo sie wohl war.
Als der Hut sein Lied mit einem durchdringenden Abschlusston beendet hatte, rollte Professor Flitwick die Pergamentrolle in seiner Hand auseinander. Als erste Schülerin rief er: »Asbury, Willow« auf und während das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren und den mandelförmigen Augen nach vorn trat überlegte Nathanael, an wen sie ihn erinnerte. Sie kam ihm seltsam bekannt vor, aber natürlich konnte er sie noch nicht getroffen haben. Hatte er sie vielleicht im Zug gesehen?
Nach etwa eineinhalb Minuten öffnete der Sprechende Hut weit den zum Mund gewordenen Riss nahe der Krempe und rief laut: »SLYTHERIN!«
Nathanael applaudierte wie alle anderen Slytherins, als Willow den Hut vom Kopf nahm und zu ihnen hinüberlief. Ein Stöhnen kam vom Nebentisch und Nathanael sah überrascht hinüber zu den Hufflepuffs. Und da fiel ihm plötzlich ein, woher ihm das Mädchen so bekannt vorkam: Das musste die Schwester von Scott Asbury sein, dem Hüter der Hufflepuffquidditchmannschaft – sie sahen einander furchtbar ähnlich. Scott jedoch schien überhaupt nicht glücklich darüber zu sein, dass seine kleine Schwester in Slytherin gelandet war. Zwar lächelte er ihr zu und reckte einen Daumen nach oben, doch sein Grinsen wirkte eher schief. Irgendwie versetzte das Nathanael einen kleinen Stich. Er wusste, dass Slytherin bei den anderen Häusern nicht gerade beliebt, ja sogar dafür bekannt war, eher zwielichtige Gestalten zu beherbergen. Er bemühte sich, Willow nun ein echtes, freudiges Lächeln zu schenken, um ihr zu zeigen, dass dies Haus gar nicht so schlimm war, doch es gelang ihm nicht recht. Immerhin, so dachte er ein wenig bitter, immerhin hatten sie Avas Aberglaube zufolge nun gute Chancen auf den Hauspokal.
Der Sprechende Hut steckte zwei weitere Schüler nach Ravenclaw, zwei nach Slytherin und schließlich mit »Eagleton, Lucas«, den ersten Erstklässler nach Gryffindor. Als Flitwick anschließend »Fulton, Lina« aufrief, stolperte das kleine blonde Mädchen nach vorn, das Nathanael am Bahnhof gesehen hatte. Sie war vor Aufregung blassgrün im Gesicht und Nathanael fürchtete für einen Augenblick, sie würde sich auf den Sprechenden Hut übergeben, statt ihn aufzusetzen. Mit zitternden Händen gelang es ihr schließlich doch, den Hut auf ihren Kopf zu drücken, der nur wenige Augenblicke später laut: »GRYFFINDOR!« verkündete.
Nathanael klatschte höflich Beifall und fragte sich plötzlich, wann wohl der oder die erste Hufflepuff ausgewählt werden würde.
Auch die Hufflepuffs am Nebentisch schienen diese Frage eifrig zu diskutieren: Er sah, dass Ava in ein Gespräch mit ihrer Mitschülerin Leenie Panabaker vertieft war, während Faye Bennett neben ihnen aufgeregt den Hals reckte, um besser sehen zu können.
Schließlich wurde mit »Lewis, Sherman« endlich ein erster Hufflepuffschüler ausgewählt, direkt nach einem winzigen Jungen mit wild vom Kopf abstehenden Haaren, der nach Gryffindor gekommen war.
Der Hufflepufftisch johlte, als Sherman auf sie zueilte und Nathanael konnte deutlich Avas Stimme erkennen, die den Jungen in ihrem Haus willkommen hieß.
Einige Schüler später wurde mit »Young, Riley« schließlich der letzte Erstklässler nach vorn gerufen. Nathanael hoffte ein wenig auf einen weiteren Slytherin, denn vielleicht war es ja möglich, dass sie in diesem Jahr beide Meisterschaften gewannen, doch der Sprechende Hut schickte Riley nach Hufflepuff, und somit war die Zeremonie beendet.
Nun ja, dachte Nathanael, während er sich eifrig an dem wie aus dem Nichts erschienenen Buffet bediente, es war eben nur ein Aberglaube. Aber vielleicht hieße das ja, dass Ava mit ihrer Mannschaft den Quidditchpokal gewinnen würde und das war ihr auf jeden Fall zu gönnen.
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