Kapitel 11 - Winterwärme


[Nathanael]


Mit dem Dezember kam auch der erste Schnee nach Hogwarts. Eines Morgens wachten sie auf und fanden das gesamte Schloss in eine dicke, weiße Decke gehüllt. Innerhalb von wenigen Tagen türmte sich der Schnee einen halben Meter hoch, und wenn sie hinunter zu den Gewächshäusern wollten, mussten sie zehn Minuten früher losgehen, um trotz des Weges pünktlich zum Unterricht zu kommen. Glücklicherweise war Professor Longbottom recht nachsichtig und verzieh ihnen, wenn sie mit nassen Umhangsäumen und bibbernden Lippen ein paar Minuten später durch die gläsernen Türen hasteten, weil Professor Burkley ihnen unbedingt noch eine Hausaufgabe hatte geben wollen.

Als die Ferien nahten, erkundigte sich Professor Clark bei ihnen, wer von den Slytherins über Weihnachten in Hogwarts bleiben würde. Nathanael war einer der wenigen, die sich auf ihrer Liste eintragen ließen.

Am ersten Ferientag schließlich machte sich der größte Teil der Schüler mit Sack und Pack auf den Weg, um den Zug zurück nach Hause zu nehmen. Auch Fred, Zoe und Ava fuhren über Weihnachten zu ihren Familien und schienen ganz überrascht, dass er nicht mit ihnen zum Bahnhof kommen würde.

»Hättest du was gesagt, dann hättest du bestimmt auch mit zu uns kommen können!«, meinte Ava eifrig.

Er wusste, dass sie sich freute, mit ihren Brüdern gemeinsam zu ihrer Mutter zu fahren und dass sie ganz aufgeregt war, die etlichen Tierwesen wiederzusehen, die in ihrem Haus wohnten. Anscheinend hatte ihre Mutter, die im Zaubereiministerium in der Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe arbeitete, ihr Zuhause zu einer Art Auffangstation für ausgemusterte und seltsame Tiere gemacht. Jedenfalls hatte es sich in seinen Ohren so angehört. Und auch, wenn die Vorstellung, all diese Tiere kennenzulernen unheimlich verlockend für ihn klang, so war er sich doch sicher, dass er sich nicht in die Familie hineindrängen wollte. Es wäre ihm unangenehm gewesen, einfach mit einem seiner Freunde mitzufahren, in einem fremden Wohnzimmer vor einem fremden Christbaum zu sitzen und ein Weihnachtsessen zu essen, das nicht für ihn bestimmt war.

Er fing einen Blick von Zoe auf, den er nicht so recht deuten konnte. Sie freute sich schon seit Wochen darauf, ihre Eltern und ihren kleinen Bruder wiederzusehen. Außerdem sprach sie immer davon, wie gern sie ihre Muggelfreundin aus der Grundschule wiedertreffen würde, die glaubte, Zoe würde ein besonders strenges Internat besuchen, in dem Telefonate verboten waren.

Fred hingegen schien beinahe ein wenig neidisch auf Nathanael zu sein. »Mann, hätte ich das gewusst, wäre ich auch hiergeblieben«, meinte er und fügte hinzu: »Wir feiern Weihnachten immer bei unserer Großmutter und sie zwingt uns jedes Jahr, ein Radiokonzert von Celestina Warbeck zu hören.« Er verdrehte die Augen. »Weihnachten in Hogwarts ist bestimmt viel cooler.«

Nathanael hatte keine Ahnung, was er darauf sagen sollte. Er wusste, dass Fred ihm nicht anbieten konnte, mit zu seiner Familie zu kommen, dass diese nicht einmal ahnte, dass er mit einem Slytherin befreundet war. Und doch tauchte für wenige Sekunden das Bild von ihm selbst inmitten einer riesigen, rothaarigen Weasleyfamilie auf und dieses Bild legte sich als seltsamer Kloß in seinen Hals. Schnell schluckte er ihn hinunter und zuckte mit den Schultern, dann murmelte er einen Abschiedsgruß, als seine Freunde zusammen mit den anderen Schülern durch das große Eichenportal aus dem Schloss hinaustraten.

Kurz sah er ihnen nach und stellte sich vor, wie er selbst mit ihnen die Schule verlassen und zum Bahnhof laufen würde, wie er Weihnachten mit seiner Familie in ihrer kleinen, Londoner Wohnung verbrächte. Einen Augenblick lang wurde es warm in seiner Brust, als er an das Gesicht seiner Mutter dachte. Und doch, da war er sich sehr sicher, doch war er froh, nicht zu ihnen zu fahren. Hier war er richtig. Hier war jetzt sein Zuhause. Hier gab es nur ihn. Ihn und seine Freunde und die endlosen Möglichkeiten, die seine Ausbildung an dieser Schule bot.

Eine Weile noch stand er ein wenig verloren in der großen Eingangshalle und wusste nicht so recht, was er nun tun sollte. Ohne den Großteil der Schüler lag Hogwarts plötzlich so seltsam still und leer da. Nathanael kam es beinahe so vor, als wirke das Schloss ohne die Massen an Menschentrauben noch viel größer, als es ohnehin schon war. Als neben der marmornen Treppe eine Rüstung leise ein Weihnachtslied zu singen begann, nahm er dies als Anlass, um sich in seinen Gemeinschaftsraum zu flüchten.

Immerhin, so dachte er seufzend, immerhin würde er diesen nun fast für sich allein haben. Er wusste nicht, ob einer von den anderen Slytherins in Hogwarts geblieben war, aber Travers und Selwyn und auch die anderen Jungen aus seinem Schlafsaal waren mit den meisten Schülern abgereist. Das war ihm nur recht. Gerade im letzten Monat schien die Feindseligkeit ihm gegenüber noch einmal zugenommen zu haben. Beinahe wirkte es, als hätte das letzte Quidditchspiel und Nathanaels offene Unterstützung für Hufflepuff ihren Unmut ihm gegenüber noch angefacht. Immer wieder waren sie im Schlafsaal, beim Essen und im Unterricht aneinandergeraten, ihre Worte waren lauter und ihre Blicke gehässiger geworden.

Doch beim Gedanken daran, dass er den Schlafsaal nun zwei herrliche Wochen für sich allein haben würde, wurde ihm ganz leicht ums Herz. Niemand würde ihm morgens auf dem Weg ins Bad ein Bein stellen, seine Schuhe verstecken oder in der Nacht seinen Umhang so nah vor den Ofen hängen, dass ein Loch hineinschmorte. Er musste keine Angst haben, dass sie seine Bücher durcheinanderwarfen, wenn er nicht da war, oder Tinte über seine Schulaufgaben kippten. Bei der Vorstellung davon, wie schön es sein würde, morgens im Halbschlaf einfach in Ruhe im Bett liegen zu bleiben und noch ein wenig vor sich hinzudösen, musste er grinsen.

»Belladonnaessenz«, sagte er mit leicht bebender Vorfreude in der Stimme zur Mauer, die sich auf das Passwort hin nun auftat und den Weg in den Gemeinschaftsraum der Slytherins freigab.

Lächelnd trat er in den langgezogenen Raum, dessen rohe Steinwände von grünlichen Kugellampen erhellt wurden. Im hinteren Teil des Raumes brannte ein prasselndes Kaminfeuer und daneben stand, wie Nathanael nun zum ersten Mal bemerkte, ein großer Weihnachtsbaum, der über und über mit grünen und silbernen Kugeln, kleinen Sternen und funkelndem Lametta geschmückt war. Sein Lächeln wurde größer. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt einen so liebevoll geschmückten Christbaum gesehen hatte. Vorsichtig trat er näher, um die kleinen Figuren zu betrachten, die zwischen den grünen Zweigen hingen, und entdeckte winzige Wichtel, Nachbildungen von Besen und Quidditchbällen und – ihm schauderte es ein wenig – Schrumpfköpfe.

Der Gemeinschaftsraum war komplett leer. Durch die riesigen Fenster schimmerte der grünliche See, der dem ganzen Raum die Atmosphäre eines schaurigen Schiffswracks verlieh. Ein Grindeloh trieb vor einer der Scheiben vorbei und bleckte seine scharfen Zähne. Nathanael seufzte zufrieden und ließ sich in einen der hohen schwarzen Lehnstühle vor dem Kamin sinken.


Den ganzen Tag verbrachte er dort vor den wärmenden Flammen, wanderte von einem Sessel zum nächsten und probierte aus, welcher am gemütlichsten war, legte die Füße hoch, las in seinen Büchern und beobachtete den Riesenkraken, der ab und an vor den Fenstern des Gemeinschaftsraumes vorbeitrieb. Am Abend stahl er ein paar Brotscheiben aus der Großen Halle und röstete sie lächelnd am Kaminfeuer. Zum ersten Mal fühlte er sich hier unten in den Kerkern wirklich wohl.

Später am Abend kam ein älterer Slytherin in den Gemeinschaftsraum; ein großer, drahtiger Junge aus der siebten Klasse, den Nathanael nur vom Sehen kannte. Instinktiv duckte der Junge sich, doch der ältere Schüler würdigte den Erstklässler keines Blickes und schlurfte desinteressiert hinüber zu den Schlafsälen.


Am nächsten Morgen ging Nathanael spät zum Frühstück. Fast zwei Stunden lang lag er einfach nur im Bett, genoss die Stille des Schlafsaals und das sanfte Gewicht seiner Daunendecke auf der Brust, ehe er sich langsam aufrichtete und die dunkelgrünen Vorhänge seines Himmelbettes beiseiteschob.

Es war merkwürdig, den Raum so verlassen zu sehen. Die anderen vier großen Betten waren von den Hauselfen ordentlich gemacht worden und auch sonst war der Schlafsaal ungewöhnlich aufgeräumt. Vor einem der großen Fenster konnte Nathanael gerade noch einen riesigen, mit dicken Saugnäpfen bedeckten Krakenarm vorbeiziehen sehen. Das Tageslicht, durchs Wasser grünlich verfärbt, fiel sanft wabernd ins Zimmer.

Er seufzte, streckte sich und stand auf. Einen Moment noch stand er reglos im Zimmer, ehe er seine Kleidung zusammensuchte und sich anzog.


Auf dem Weg zum Frühstück gab es dann doch noch eine Überraschung: Gerade, als Nathanael in die weitläufige Eingangshalle trat, flatterte ihm ein plumpes, zerzaustes Etwas entgegen. Es stieß hart gegen seine Schulter und ließ sich dann flügelschlagend und taumelnd auf dem Boden vor seinen Füßen nieder. Dann quakte es. Vollkommen perplex starrte Nathanael das Wesen an. Es sah aus wie eine groteske Mischung aus Eule und Ente: An seinen kurzen, geschuppten Beinen befanden sich platte Schwimmfüße, am Uhu-ähnlichen Kopf saßen große, orangegelbe Augen und zwei buschige Federohren, doch der breite, mattgelbe Schnabel war der einer Ente.

Bei dem merkwürdigen Anblick musste Nathanael unwillkürlich lachen, doch das Tier schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Stattdessen hielt es ihm ungeduldig sein kurzes Bein hin, an dem ein zusammengerollter Brief und ein faustgroßes, in Packpapier eingeschlagenes Päckchen befestigt waren. Überrascht bemerkte Nathanael, dass jemand seinen Namen darauf geschrieben hatte. Hastig band er beides ab, das Tier schüttelte sich kurz, quakte und flog dann ebenso plump davon, wie es gekommen war.

Einen Augenblick noch sah Nathanael dem Wesen ungläubig nach, das durch eines der hohen, offenen Giebelfenster verschwand, dann erinnerte er sich wieder an den Brief in seiner Hand. Neugierig strich er das Pergament auseinander und erkannte sofort die runde, ausladende Handschrift von Ava. Ein Lächeln schob sich auf sein Gesicht, während er zu lesen begann.


Hey Nathanael,

ich schicke dir frohe Weihnachtsgrüße! Ich bin mir nicht sicher, wann der Brief bei dir ankommt, weil Eerie nicht immer der zuverlässigste Postzusteller ist, aber falls Weihnachten schon vorbei ist, hoffe ich, du hattest schöne Tage. Sollte es noch in der Zukunft liegen, hoffe ich, du wirst schöne Tage haben. Das Päckchen darfst du dann natürlich noch nicht auspacken, sondern musst bis zum Weihnachtsmorgen damit warten. (Aber bitte erwarte nichts Großes!) Ist Weihnachten in Hogwarts schön? Meine Mum sagt, du darfst nächstes Jahr gern mit uns feiern, falls du dann auch nicht nach Hause kannst. (Dann musst du aber mit unseren 2390842345 Tierwesen leben und nicht alle davon riechen nach Blumenwiese) Ich hoffe, du fühlst dich nicht allzu einsam ohne uns. Ich freue mich jedenfalls, wenn wir uns nach Weihnachten wiedersehen.

Ich wünsche dir frohe Feiertage und komm gut ins neue Jahr!

Bis ganz bald

Deine Freundin Ava


Immer noch lächelnd ließ Nathanael den Brief sinken. Er befühlte das braune Päckchen, doch es war zu unförmig, als dass er hätte erkennen können, worum es sich handelte. Das war sein Geschenk. Seins ganz allein. Sorgsam verstaute er Brief und Päckchen in seiner Umhangtasche, dann dachte er noch eine Weile über das seltsame Federtier nach, das wohl Eerie heißen musste, ehe er zum Frühstück ging.


Die Große Halle war, wie auch der Gemeinschaftsraum, fast gänzlich leer. Die meisten der wenigen Schüler, die über die Weihnachtsferien in Hogwarts geblieben waren, schienen bereits gefrühstückt zu haben, und nur am Ravenclawtisch saßen noch zwei ältere Mädchen, die leise miteinander schwatzend ihren Haferbrei löffelten. Oben am Lehrertisch konnte Nathanael den alten Professor Slughorn ausmachen, der eindringlich mit Professor Hagrid sprach, während er ein paar leere Glasflaschen schüttelte. Ansonsten war auch von den Lehrern niemand mehr anwesend.

Mit einem Seufzen ließ er sich auf einem Platz am Slytherintisch nieder, zog einen Krug Kürbissaft zu sich heran und schenkte sich einen Becher voll ein.

Am anderen Ende der Großen Halle sah Hagrid, der Professor Slughorn nur mit halbem Ohr zuhörte, auf. Slughorn versuchte ihn salbungsvoll davon zu überzeugen, ihm ein wenig Acromantula-Gift zu besorgen, schließlich sei Hagrid doch mit der Population der Riesenspinnen, die im Verbotenen Wald hauste, bekannt und könnte sie bestimmt überreden, etwas von ihrem Gift abzugeben. Hagrid hatte ihm schon oft erklärt, dass er nach dem Tod ihres Anführers Aragog, den er selbst großgezogen hatte, nicht mehr in die Nähe der Sippe kam, ohne um sein Leben fürchten zu müssen; aber Slughorn schien das nicht hören zu wollen. Mindestens einmal im Monat bat er Hagrid, doch noch einmal sein Glück zu versuchen.

Während er also ein wenig genervt nickte, schweifte sein Blick über die Tische in der Halle und blieb am Slytherintisch hängen. Dort saß der schmächtige, blonde Junge, der an Halloween gemeinsam mit Fred in seine Hütte gekommen war. Nathanael, wenn er sich recht erinnerte. Der Junge gab ein leicht trauriges Bild ab, wie er da mit gesenktem Kopf an einem Toastbrot kaute und Löcher in die blank polierte Tischplatte starrte.

Nathanael arbeitete gerade in Gedanken an seinem Zauberkunstaufsatz, als er hinter sich ein Räuspern hörte. Überrascht fuhr er herum und sah den riesenhaften Professor Hagrid vor sich stehen. Das dunkle Haar stand borstig in alle Richtungen ab und in seinem Bart klebte noch ein Stück Rührei vom Frühstück. Er lächelte. »Hallo Nathanael«, sagte er mit seiner rauen Stimme.

»Hallo«, erwiderte der Junge unsicher und sah den Professor nervös an. Die Erinnerung an ihr letztes Zusammentreffen und Hagrids Abneigung ihm gegenüber war noch allzu lebhaft.

Hagrid schien zu ahnen, was in ihm vorging, und er versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. »Na«, sagte er freundlich. »Bleibst über Weihnachten in Hogwarts, hm?«

»Hm, ja«, machte Nathanael und schob nervös seinen Becher Kürbissaft vor sich hin und her.

Hagrid räusperte sich. »Hast du jetzt was vor?«, fragte er, fuhr dann jedoch fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Ich hab letzte Woche einen Wurf Nifflerjunge gekriegt. Wenn du magst, kannste mit runter zu meiner Hütte kommen und ich zeig sie dir.«

Nathanael sah den Professor einen Moment lang völlig perplex an.

Hagrids Lächeln erlosch. »M-magst du keine Tierwesen?«, fragte er hastig. »Ich dachte nur... weil du doch die Fledermaus...« Er räusperte sich. »Also, du musst natürlich auch nicht!«

Ein Blick in das Gesicht des Riesen verriet Nathanael, dass er es scheinbar wirklich nur nett gemeint hatte. »Äh – doch!«, erwiderte er eilig. »Ich würde gern die Niffler sehen.« Er stand auf. »Was sind das für Tiere?«

Hagrid begann wieder zu lächeln. »Oh, du wirst sie mögen!«, rief er, während die beiden die Große Halle verließen. »Drollige kleine Viecher. Klauen alles was glänzt, nehmen einem für ein paar Sickel die ganze Bude auseinander. Aber sind richtig nützlich, falls du mal auf Schatzsuche gehen willst.« Er lachte.

Sie verließen das Schloss und folgten dem sanft abfallenden Hügel hinunter zum Rand des Verbotenen Waldes. Hagrid stapfte mühelos durch den dichten Schnee, doch Nathanael reichte er bis zu den Knien und er musste sich beeilen, um dem riesigen Mann folgen zu können.

Er hatte gedacht, sie würden in die kleine Holzhütte gehen, doch der Professor ging an der Eingangstür vorbei und steuerte geradewegs auf eine glatte Fläche hinter seinem Gemüsebeet zu. Hier war der Schnee bereits heruntergetreten und ein wenig vom erdigen Untergrund sichtbar.

Nathanael sah sich um, ob er die Niffler irgendwo entdecken konnte. Nun wusste er freilich nicht, wonach er Ausschau halten sollte, denn von Nifflern hatte er noch nie gehört, geschweige denn einen von ihnen gesehen. Doch Hagrid schien genau zu wissen, wo er hinwollte. Er stoppte vor einem fast kreisrunden Loch, das nahe einem kleinen Baum in die Erde gebuddelt war. Es war in etwa so groß wie die goldenen Servierteller in der Großen Halle und jemand – entweder die Niffler selbst oder der Professor – hatte den meisten Schnee in der Nähe zur Seite geschaufelt.

Hagrid begann nun, in den vielen Taschen seines Fellmantels zu kramen, bis er etwas hervorzog, das aussah wie farblose Karotten.

»Petersilienwurzeln«, erklärte Hagrid und lächelte nun. »Die lieben sie.« Knackend brach er die Wurzeln in kleine Stücke und warf sie nacheinander auf den Boden, während er mit der Zunge schnalzte.

Einen Augenblick lang standen sie nur da und warteten, Hagrid lockte die Tiere und Nathanael beobachtete gespannt das kreisrunde Loch, von dem er sich nun sicher war, dass es der Eingang eines unterirdischen Baus sein musste. Schließlich geschah etwas: Eine kleine, helle Schnauze schob sich aus dem dunklen Loch hervor, wurde länger und immer länger, schnupperte zitternd und wackelte dabei mit den großen Nasenlöchern. Und dann, mit einem großen Satz sprang das ganze Tier aus dem Bau heraus, krabbelte flink über den Boden und packte ein Stück Petersilienwurzel, das knuspernd in seinem Maul verschwand. Der Niffler war etwa so groß wie ein Wildkaninchen, hatte dichtes, schwarzes Fell, große schaufelartige Pfoten und eine schnabelähnliche Schnauze. Für Nathanael sah er ein wenig so aus wie eine Mischung aus Schnabeltier und Maulwurf und während er fraß, behielten seine wachen, kleinen Augen die Umgebung genau im Blick.

Nathanael wagte kaum zu atmen, aus Angst, das Tier zu verscheuchen. Doch weniger Augenblicke später stellte sich heraus, dass seine Vorsicht umsonst war. Wie aus dem Nichts kroch plötzlich ein ganzer Haufen an Nifflern aus dem Bau hervor, doch diese waren kleiner als der erste, das Fell flaumig zart, die Augen größer, die platten Pfoten wirkten noch riesiger im Vergleich zu den kleinen Körpern. Es waren die Babyniffler.

Während Nathanael noch überlegte, wie man sie wohl nannte, (Welpen, Ferkel, Kitze?), begannen die Jungen plötzlich, alles andere als schüchtern, auf ihn und Hagrid zuzustürmen. Sie krallten sich an ihren Hosenbeinen fest, zogen sich die Umhänge empor und kletterten auf ihre Schultern. Dabei keckerten sie wie Eichhörnchen und mit genau der gleichen Leichtigkeit zogen sie sich auf ihre Köpfe, gruben ihre Nasen in Hagrids Bart und spielten Fangen auf Nathanaels Schultern, ehe einer von ihnen den leicht glänzenden Slytherinaufnäher auf seiner Brust entdeckte. Mit seinen scharfen Krallen versuchte er, die Nähte zu lösen, doch Hagrid nahm den Niffler sanft zwischen seine Finger und setzte ihn auf dem Boden ab, wo er sofort wieder begann, an Nathanaels Umhang emporzuklettern.

Nun war auch der erwachsene Niffler, bei dem es sich um die Mutter handeln musste, auf sie zugeeilt. Sie kletterte an Hagrids dickem Maulwurfsfellmantel herauf und verschwand kurz darauf in einer seiner Taschen, wo man einiges Klirren und Kratzen hören konnte. Hagrid lachte und zog sie heraus.

»Ich sag ja, nehmen einem alles auseinander.«

Nathanael konnte nicht anders, er musste grinsen. Vorsichtig hob er eine Hand und kraulte den Niffler, der sich gerade wieder an seinem Slytherinabzeichen zu schaffen machte, am Kopf. Er hatte einen kleinen, weißen Fleck am Hals, der ein wenig wie England aussah.


Als Nathanael den Gemeinschaftsraum betrat, musste er immer noch lächeln. In der Hand hielt er das Slytherinabzeichen, das der kleine Niffler ihm schließlich doch vom Umhang gerissen hatte. Ein paar lose Fäden hingen aus der Stickerei. Hoffentlich würde sich jemand finden, um ihm zu zeigen, wie er es wieder befestigen konnte. Er war sich sicher, dass Professor Flitwick einen Reparaturzauber im Zauberkunstunterricht erwähnt hatte.

Der Junge seufzte, schob den Aufnäher in seine Tasche und ließ sich mit Schwung auf eines der Sofas am Kamin sinken.

»Hey.«

Erschrocken fuhr er hoch. Er war in Gedanken immer noch so mit den Nifflern beschäftigt gewesen, dass er das Mädchen auf der anderen Seite des Gemeinschaftsraumes nicht bemerkt hatte. Jetzt sprang er hastig wieder vom Sofa auf und erkannte Lyra Morrison, ein Mädchen mit hoher Stirn und hellblonden Haaren aus seinem Jahrgang. Sie saß an einem der Tische, an dem manche der Schüler ihre Hausaufgaben erledigten und las in einem dicken Buch. Auf ihrem Schoß schnurrte eine cremefarbene Katze mit langem Fell. Nathanael war so überrascht sie zu sehen, dass er nicht mehr als ein: »Hi« hervorbrachte.

Sie grinste. Offenbar gefiel es ihr, ihn erschreckt zu haben.

Außerhalb des Unterrichts hatte Nathanael bisher kaum mit ihr zu tun gehabt. Da er dafür sorgte, möglichst wenig Zeit bei den Slytherins zu verbringen, hatte er bisher nur mit den Jungen aus seinem Schlafsaal engeren Kontakt gehabt, und auch dies eher unfreiwillig. Nun fiel es ihm schwer, Lyra einzuschätzen. Was sollte ihr Gesichtsausdruck ihm sagen? Würde sie sich gleich über ihn lustig machen? Ihn triezen, wie die anderen es taten?

Er räusperte sich. »Ich hatte keine Ahnung, dass du auch über Weihnachten hier bist«, erklärte er hastig und wusste im nächsten Moment schon nicht mehr, warum er das gesagt hatte. Dies war ebenso gut auch sein Gemeinschaftsraum und wenn es sie störte, mit ihm in einem Zimmer zu sein, konnte sie genauso gut gehen.

Doch sie zuckte nur mit den Schultern. »Meine Mum muss arbeiten«, erklärte sie, »deshalb bin ich hiergeblieben. Aber ich find's nicht so schlimm. Eigentlich ist das Schloss sogar ganz schön, wenn nicht so viele Leute da sind.«

Nathanael nickte vorsichtig. Sie schien ihm anzumerken, dass er immer noch in Habachtstellung war, angespannt von Kopf bis Fuß, unsicher über die ganze Situation. Nun sah sie noch einmal in das Buch, um sich die Seitenzahl zu merken, klappte es dann zu und stand auf, wobei die Katze empört maunzend zu Boden sprang.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie und deutete auf den Sessel, der schräg neben ihm stand.

»Ähh...«, machte er irritiert. »Ja.«

Unsicher beobachtete er, wie sie durch den Gemeinschaftsraum auf ihn zuschritt und sich mit einem Satz auf den gepolsterten Sessel fallen ließ. Sie legte ihre Füße über die Armlehne und starrte ihn an. Scheinbar erwartete sie, dass er sich wieder setzte.

Unsicher ließ er sich zurück auf das Sofa sinken und musterte sie. Lyras Katze war ebenso zu ihnen hinübergetappt und sprang nun wieder auf den Schoß ihrer Besitzerin. Nathanael bemerkte, dass es eine sehr schöne Katze war. Sie hatte strahlend blaue Augen und das glänzende Fell war so hell, dass es beinahe weiß wirkte. Nur der Schwanz und ein kleiner Bereich über den Augen und Wangen war dunkel verfärbt, als trüge die Katze eine Maske. Auf ihrer Nase war ein kleiner, graubrauner Fleck.

»Das ist Lumos«, erklärte Lyra und streichelte der Katze den Kopf, woraufhin diese sofort wieder zu schnurren begann.

Nathanael musste grinsen. Ihm gefiel es, dass Lyra ihre Katze nach einem Zauberspruch benannt hatte.

»Ich glaube, er genießt es auch, dass hier jetzt nicht mehr so viele andere Katzen sind.« Sie grinste. »Hast du ein Haustier?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du hättest die Fledermaus behalten können, die du vor Blair gerettet hast.« Wieder grinste sie und er wusste nicht, wie er das deuten sollte.

Er schluckte. »Das hast du mitbekommen?« Sein Mund wurde trocken.

»Es war jetzt nicht wirklich unauffällig«, erklärte sie achselzuckend. »Abgesehen davon werde ich nie seinen Gesichtsausdruck vergessen, als du ihm diese Gabel in den Arm gestochen hast.« Diesmal grinste sie nicht nur, sondern lachte schallend auf, was Nathanael noch mehr verunsicherte. Sie hatte ein raues, kratzendes Lachen, das gar nicht zu ihrer zierlichen Erscheinung passte. Aber es war ansteckend: Nun schlich sich auch auf sein Gesicht ein leichtes Lächeln.

Er versuchte sich zu erinnern, ob er Lyra je mit Travers zusammen gesehen hatte. Mochte sie ihn? Waren sie befreundet? Doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, die beiden je wirklich zusammen gesehen zu haben. Lyra war meistens mit den anderen Mädchen aus Slytherin unterwegs, oder mit Everett Tripe, dem einzigen Jungen aus Nathanaels Schlafsaal, der ihn meistens eher ignorierte.

Lyra schien seine Unsicherheit bemerkt zu haben. »Ich fand's lustig«, erklärte sie nachdrücklich. »Blair hat manchmal wirklich eine große Klappe und das mit der Fledermaus ging echt zu weit. Er hatte es verdient.«

Nathanael nickte vorsichtig.


Und so kam es, dass Nathanael zum ersten Mal, seit er in Hogwarts war, mit einem anderen Slytherin im Gemeinschaftsraum saß und sich ganz normal unterhielt. Es gab keine Sticheleien, keine Spitzen gegen ihn. Lyra und er sprachen über den Unterricht, die Lehrer und den Verwandlungsaufsatz, den sie über die Ferien schreiben sollten. Er wusste, dass sie eine gute Schülerin war, und über den Lernstoff zu reden machte Spaß.

Sie lachten, als vor dem dunklen Fenster, das unter den See führte, ein Grindeloh einen anderen jagte und auch, als Lyras Kater Lumos aufsprang und sich an der Jagd beteiligen wollte.

Später am Abend lächelte er immer noch, während er in seinen Schlafsaal ging. Als er seinen Umhang zusammenlegen und in der großen Holztruhe am Fußende des Bettes verstauen wollte, fiel ihm jedoch die kleine Beule in der Seitentasche auf. Erst dachte er an einen der kleinen Niffler, dann jedoch fiel ihm das Geschenk wieder ein, das Ava ihm geschickt hatte.

Er setzte sich auf die Bettkante und wog das Päckchen in seinen Händen. Es war weder leicht noch besonders schwer und er fragte sich, was es sein konnte. Eigentlich, so dachte er bei sich, eigentlich konnte er es genauso gut jetzt schon aufmachen. Immerhin, es gehörte jetzt ihm, und Ava wäre ihm bestimmt nicht böse, wenn sie davon wüsste.

Vorsichtig löste er die dünne Schnur, die das Paket zusammenhielt und faltete das Packpapier sorgsam auseinander. Zum Vorschein kam eine kleine, aus dunklem Holz geschnitzte Figur. Es war eindeutig, dass Ava das Stück selbst gemacht hatte. Es war recht grob und nicht besonders gut geworden, sodass Nathanael eine Weile brauchte, um zu erkennen, dass es sich um eine Fledermaus handelte. In dem Moment, als er sie sacht mit der Fingerspitze berührte, begann sie jedoch plötzlich, sich zu bewegen. Sie schüttelte die hölzernen Flügel, drehte den Kopf und erhob sich fast ebenso plump wie der Enten-Uhu Eerie in die Luft. Ein bisschen Sägespäne landete auf Nathanaels Bettdecke, während die Fledermaus mit ruckartigen Flügelschlägen weiter in die Höhe stieg und ihre Kreise im Zimmer drehte. Fasziniert beobachtete Nathanael, wie sie die verwaisten Betten seiner Mitbewohner umkreiste und schließlich in der Mitte des Raumes Runde um Runde flog, wie ein seltsam klobiges Insekt. Er fand, dass es wunderschön aussah. Verrückt, unförmig, aber wunderschön. Und es war sein Geschenk, nur seins. Während er dem fremdartigen Flugobjekt zusah, wurde es merkwürdig warm in seiner Brust. Warm und drückend, wie eine große, heiße Kartoffel.

Und wie er so dasaß, das knittrige braune Packpapier immer noch in der Hand, wurde ihm plötzlich bewusst, dass dieser Tag der wohl beste Geburtstag seines Lebens gewesen war. 

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