Liebe stirbt nie
Was tat ich hier eigentlich? Zwischen lärmenden und grölenden Zuschauern eigequetscht, starrte ich den riesigen roten Samtvorhang an, der so typisch für Theater war. Weshalb war ich Ramons Aufforderung gefolgt? Was hatte mich verleitet herzukommen, was hielt mich hier? Vermisste ich ihn etwa? Sehnte ich mich nach dem attraktiven jungen Mann mit seinen schwarzen, wild abstehenden Haaren, durch die man so perfekt wuscheln konnte und dem Lächeln, bei dem mein Herz jedes Mal für einen kurzen Moment aussetzte? Wieso fing mein Herz an zu klopfen, wenn ich daran dachte, dass ich ihn gleich sehen würde?
Ich wollte aufstehen, dem Ganzen hier ein Ende setzten, doch als eine kindliche Stimme neben mir rief „Mama, es fängt an!", konnte ich nicht anders und sah gebannt zu, wie der schwere Vorhang zur Seite glitt. Die mir nur allzu bekannte Anfangsszene von „Phantom der Oper" wurde beleuchtet und ehe ich mich versah, war ich auch schon vollkommen in das Geschehen auf der Bühne eingetaucht. Die Bilder zogen an mir vorbei, ich schwelgte in Begeisterung, fieberte mit und war überaus fasziniert von der schauspielerischen Leistung des Phantoms. Und, obwohl ich das Stück nun schon zum 4. Mal ansah, zuckte ich doch zusammen, als der Kronleuchter mit einem lauten Klirren am Boden zerschellte. Ohne es zu merken, hatte mich das Musical komplett in Bann gezogen und Ramon war vergessen.
Tosender Beifall brach aus, der mit lauten Pfiffen und „Zugabe" Rufen untermalt wurde, als die Scheinwerfer erloschen. Ich stimmte begeistert mit ein und stand sogar auf, als das Licht wieder anging und die Schauspieler sich der Reihe nach verbeugten. Meine Wangen glühten auf, in diesem Moment war ich seit langem wieder glücklich und das breite Grinsen, das meine Lippen umspielte, war in dieser Woche zum ersten Mal echt und kam tief aus dem Herzen.
Viel zu schnell schloss sich der Vorhang und leerten sich die Sitze um mich herum. Langsam zog ich mir meine Jacke über, mein Blick war dabei die ganze Zeit auf die Bühne gerichtet. Wie gerne hätte ich gewusst, wer sich unter der Maske des Phantoms verborgen hatte. Merkwürdigerweise hatte ich mich richtig zu ihm hingezogen gefühlt, obwohl ich nicht mal sein Gesicht gesehen hatte. Ich griff nach meiner Tasche, schlängelte mich an den Sitzen vorbei und lief schließlich die Treppe zum Hauptausgang herunter. Hinter mir wurde Gemurmel laut, jemand fragte nach einem Autogramm, ein anderer nach einem Foto. Zu gern hätte ich mich umgedreht, um zu sehen, wer da war, doch etwas in mir trieb mich zum Weitergehen an.
Bemüht den Trubel in der Eingangshalle zu ignorieren, passierte ich den Ausgang des Opernhauses und ging geradewegs auf die Unterführung der U-Bahn zu, als jemand meinen Namen rief. Bei dem Klang der Stimme schlug mein Herz Saltos und meine Arme wurden von Schauern geplagt. Meine Schritte beschleunigten sich automatisch, denn in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich nur den starken Drang hatte von hier wegzukommen, weil die Angst, ihm zu begegnen, die schon seit Jahren tief in mir verwurzelt war, heute wieder aufgeflammt ist. Ja, ich hatte Angst davor, ihn anzusehen. Zu erkennen, dass er sich überhaupt nicht verändert hatte. Immer noch so gut aussah. Dass die alten Gefühle wieder hochkommen.
Immer und immer schneller lief ich auf das blaue Schild zu, welches meine Rettung zu sein schien. Aber war es eigentlich richtig, immer vor allem wegzulaufen? Seine Gefühle zu unterdrücken, nur um die Wahrheit zu verleugnen? Im Grunde war es doch sowieso schon zu spät. Tief in mir drinnen hatte ich es die ganze Zeit gewusst. Ich hatte die ganze Zeit gewusst, warum Ramon mir seit der Trennung nicht aus dem Kopf gegangen war, warum ich die vielen Bilder von ihm nicht von meiner Pinnwand im Hausgang entfernt hatte, warum ich jeden halbwegs attraktiven Mann mit ihm verglichen hatte.
Und trotzdem kämpfte mein letzter Rest Stolz dagegen an, versuchte mich daran zu erinnern, was Ramon mir angetan hatte, wie er mich verlassen hatte. Doch es war zwecklos. Es war schon zwecklos geworden, als ich seinen Brief gelesen und die Einladung zu diesem Abend angenommen hatte. Ich konnte nicht länger vor meiner Vergangenheit davon laufen und meine Gefühle leugnen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sich dem ganzen zu stellen und entweder glücklich oder enttäuscht zu werden.
Ich wurde langsamer, keuchte stark. Unter einer Laterne, deren sanft goldener Schein mich unheimlich beruhigte, kam ich schließlich zum Stehen. Die Schritte hinter mir verharrten ebenfalls, etwas weiter hinten. Ein Kloß bildete sich unaufhaltsam in meinem Hals, meine Augenlider schlossen sich für einen kurzen Moment. Dann drehte ich mich um. Sein Anblick war so vertraut und doch ganz fremd. Mein Atem passte sich der Geschwindigkeit meines klopfenden Herzens an, als ich ihn von oben bis unten betrachtete. Seine Haare, die pechschwarzen Haare, waren ungewöhnlich kurz geschnitten und ordentlich gekämmt. Seine südländischen Gesichtszüge jedoch hatten sich überhaupt nicht verändert. Die dunklen Augen blitzten wie eh und je zwischen den dichten Wimpern hervor und die anmutig geschwungenen Lippen verzauberten mich mit dem unsicheren Lächeln von früher. Seine Bartstoppeln wiederum waren kaum auszumachen, so kurz hatte er sie rasiert. Verlegen bemerkte ich, dass er immer noch sein Kostüm vom Auftritt anhatte. Die Sekunden verstrichen, in denen wir uns gegenseitig musterten und sich keiner die ungewohnte Stille brechen traute.
Irgendwann holte er tief Luft und brachte mit seiner unheimlich anziehenden Stimme „Du siehst gut aus." Heraus. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er es ernst gemeint hatte. Auf einmal ziemlich verunsichert, strich ich mir eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht und murmelte „Du aber auch." Er grinste belustigt und kam einen Schritt näher. „Ach was, in dem Aufzug komme ich mir vor, wie aus dem Mittelalter." „Steht dir aber." Es war fast wie früher. Wir benahmen uns wie gute Freunde, die sich lange nicht mehr gesehen hatten, was auch gar nicht so falsch war. Nur, wir waren mehr als nur „Freunde" gewesen.
„Sam. Samantha, ich..." Er brach ab, was ich nicht wirklich bemerkte. Viel mehr hallte in meinem Kopf seine Stimme nach, wie er meinen vollen Namen aussprach. Niemand, wirklich niemand hatte ihn je so schön betont. Ramons Hand näherte sich meiner, mein Herz machte einen Überschlag, mein Kopf setzte aus. Als sich unsere Fingerspitzen berührten, glitt ein Blitz durch meinen Körper, ein elektrischer Schlag, der meine letzten Fasern sich nach Ramon sehnen ließ. Ich drohte zu zerreißen. All die Zweifel ließ ich frei, sie stoben davon und hinterließen eine ungebändigte Sehnsucht nach dem Mann, dem mein Herz gehörte. Wir blickte uns an, lange.
Seine Hand hob sich und strich über meine Wange. Mir stockte der Atem. Er zog mich ein Stück zu sich, hielt meine Hand. In seinem Blick erkannte ich so viel auf einmal. Ein Sturm der Gefühle. Sehnsucht, Hoffnung, Liebe, Unsicherheit, Angst. Mein Blick wanderte zu seinen Lippen. Zu diesen wunderschönen, vollen Lippen, die so weich und geschmeidig waren. Wie sehr hatte ich ihn vermisst. Ramon war ein Teil von mir, selbst dann, als er nicht mehr da war. Er war immer präsent gewesen, hatte sich immer irgendwie in meine Gedanken geschlichen, ob ich wollte oder nicht. Drei Jahre lang hatte ich ihn nicht vergessem können, drei Jahre lang hatte ich mich seltsam leer und unerfüllt gefühlt.
Und nun, in diesem Moment, schien sich diese Leere zu füllen, etwas in mir drinnen erwachte erneut zum Leben und schrie nur so nach Ramon. Ich wollte ihn berühren, ihn spüren, durch die Haare fahren, seine Hand halten, ihm den Rücken streichen, ihn küssen. Alles gleichzeitig.
Ich wollte ihn für immer halten, nie wieder loslassen. Nie wieder verlieren. Er war mein größter Schatz, den ich behüten wollte.
Das wurde mir klar, während wir uns gegenüber standen. Ramon füllte die Lücke in meinem Herzen und die zwischen uns. Er überbrückte den Abstand und legte seine wunderschönen, vollen Lippen auf meine.
Liebe stirbt nie.
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Diese Kurzgeschichte habe ich vor zirka einem Jahr angefangen, aber nie vollendet. Heute Abend habe ich mir ein Herz genommen, ihr ein Ende gegeben und sie zudem hier veröffnetlicht. Ich hoffe, es ist nicht zu kitschig, sondern noch im Bereich des Erträglichen, und es hat euch gefallen. Danke fürs Lesen,
Lisa
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