51 ☾ ER
Gott bin ich froh, dass sich Waltraud eingemischt hat und die Wogen glätten konnte. Jeu setzt sich gerade wieder hin, lässt es aber nicht aus, mich böse anzufunkeln. Ich stattdessen lächle sie an. Daraufhin wendet sie sich ihrem Teller endlich zu und isst. Geht doch.
Dieses Übereilte passt allerdings nicht ins Bild der Jeu, die ich kennengelernt habe. Außer vielleicht zu Beginn, aber das waren noch ganz andere Umstände. Ich vermute etwas anderes dahinter. So wie sie in ihr Essen oder dabei vorbeigestarrt hat ...? Dieser Blick ins Leere. Erinnerungen? Ja, das glaube ich. Ihre Gesichtszüge verraten sie. Sie hat sich bestimmt an etwas äußerst Wichtiges erinnert, was ihr sichtlich keine Ruhe lässt. Sie stochert mehr im Essen herum, als es aufzunehmen. Dabei sollte sie wirklich etwas essen. Nicht, dass sie noch umklappt und ich sie tragen muss ... Ich meine, ich will natürlich, dass es ihr gut geht. Das ist nun wirklich die Hauptsache. Nur warum erzählt sie es mir oder uns nicht? Vertraut sie mir doch nicht? Ist es so schlimm? Was kann es nur sein?
Ich muss mir etwas einfallen lassen. Oder abwarten. Ich möchte ihr doch wirklich helfen. Andererseits kann ich es ihr nicht verübeln, dass ihr Vertrauen erschüttert wurde ... bei allem, was passiert ist.
Entgegen meiner Befürchtungen haben wir friedlich und harmonisch zu Ende essen können und Waldtraud hatte recht. Diesen Moment der Ruhe haben wir uns verdient und uns so gönnen können, bevor wir uns erneut auf den Weg machen und anscheinend weiß eine von uns ja auch, wohin es gehen wird. Mit eine meine ich eine ganz gewisse Person ... Ich würde es zu gern wissen. Nur hab ich Zweifel daran, dass es mich zum gewünschten Ergebnis bringen würde, wenn ich sie bedränge. Also in Geduld üben oder mir fällt noch etwas ein? Bis dahin abwarten und geduldig sein. Also bleibt mir so oder so nur geduldig bleiben ... Na prima. Das ist nicht meine Stärke.
Wir verabschieden uns von Waldtraud und Wilma und dieses Mal habe ich es wirklich im Gefühl, dass es das letzte Mal sein wird. Ihre Umarmung fällt länger und fester aus.
»Gebt auf euch Acht«, wünscht uns Waldtraud noch und ich vermute sogar eine klitzekleine Träne in ihrem einen Auge.
Sowohl Jeu als auch ich heben noch einmal die Hände und winken ihnen zu. Dann verschwinden wir in die Dunkelheit.
Mitten in der Nacht ist es und ich glaube diesen Ort in- und auswendig zu kennen und dennoch komme ich nicht drauf, wo wir hingehen. Jeu hat nach Erreichen des Hauptweges direkt die Führung übernommen. Nicht mit Worten, sondern indem sie bestimmt ein paar Schritte vorausgegangen ist. Manch einer würde sagen: „So sind sie, die Kinder". Doch ich vermute nach wie vor zurückgekehrte Erinnerungen dahinter, die sie nicht mit mir teilt. Allerdings darf ich weiterhin an ihrer Seite sein. Immerhin ...
Oh mensch, Blitzgedanke. Wieso kam ich da nicht schon eher drauf?! Wie doof. Sie hat ihre Sprache doch wieder und ich Idiot kann sie doch einfach fragen?! Bisher haben wir nur situationsbedingt gesprochen und sind nicht so ins Detail gegangen. Außer ... wenn wir uns in Rage geredet haben. Aber na ja. Bisher kam ich auf keinen Fall auf die Idee, sie einfach mal zu fragen. Automatisch klatsche ich mir gegen die Stirn und ziehe wohl die Aufmerksamkeit auf mich.
»Frederik?«
»Ja?«
»Fühlst du dich gut?«
»Klar. Habe gerade nur meine Temperatur überprüft.« Echt jetzt? Aus welcher Ecke meines Hirns kam das denn jetzt?
»Ist sie im Normbereich?« Meint sie das ernst?
»Denke schon«, wobei ich hoffe, dass meine Verwirrung nicht bei ihr ankommt.
Wir schweigen wieder. Ich würde sie zu gerne fragen, aber ich weiß einfach nicht, wie ich beginnen soll. Ich meine, soll ich sie einfach direkt fragen: ›Hey, und wo gehts denn nun zu deinem Zuhause lang? Wäre ja interessant für mich. Vielleicht sollte ich mir noch eine Badehose einpacken.‹ Wahrscheinlich wird sie ja auch ihre Gründe haben fürs Schweigen. Ist doch gar nicht so einfach.
»Danke übrigens«, beginnt sie nach einer Weile erneut ein Gespräch.
»Wofür?«, frage ich, obwohl ich natürlich weiß, was sie meint. Aber eigentlich bin ich ihr genauso dankbar.
»Du hilfst mir. Ich habe das nicht mehr erwartet nach den ersten Erfahrungen hier auf eurem Zuhause.«
»Das kann ich verstehen. Wirklich. Es muss dir schwerfallen, überhaupt noch jemanden hier zu vertrauen.«
»Dir glaube ich.«
»Danke. Und nicht nur dafür. Du hast mir ebenso geholfen.«
»Wobei denn?«
»Fia ... Darüber ...«
»Ist in Ordnung.«
Und wieder schweigen wir. Apfelkacke. Aber ich kann nicht. Nicht jetzt. Über Frida sprechen. Allein ... bei diesem Gedanken. Mein Magen zieht sich widerlich zusammen. Nein. Und Jeu ist so verständnisvoll und das für eine Vierzehnjährige. Einfach wow.
»Jeu.«
»Ja?«
»Tut mir leid, ich hatte eben aus Versehen schon wieder Fia gesagt.«
»Ach echt?« Sie beginnt zu lachen. »Dann habe ich mich wohl schon dran gewöhnt.«
Und erneut legt sich eine stille Hülle um uns. Mich macht das noch kirre. Wartet sie vielleicht einfach auf Fragen von mir? Warum nimmt sie mich weiterhin mit? Sie sagte, sie glaubt mir.
»Also wie heißt dein Zuhause?«, überkommt es mich auf einmal, während ich schnell meine Hand auf den Mund presse in der Hoffnung, dass ich es frühzeitig stoppen kann. Doch die Frage ist raus.
»Lun-Vale«, antwortet sie ohne zu Zögern.
»Lun?«
»Ja?«
»Lun von Lunzen?«
»Hä?« Sie blickt mich völlig irritiert an. Das sagt ihr wohl nichts und scheint falsch zu sein.
»Warst du schon mal jagen? So werden die Innereien des Tieres genannt.«
»Bäh. Nein.« Sie schüttelt sich. »Lun von Luna, vom Mond. Vale von Valere, von glücklich und gesund oder stark sein. Monde haben eine spezielle Wirkung auf uns, auf die Natur, auf alles. So wie wir unseren Stimmungen einen Einfluss des Äußeren beimessen. Auf Lun-Vale sehen wir es im Zusammenhang, versuchen im Einklang zu leben, aber auch nicht alles zu sehr von allem anderen abhängig zu machen.«
»Das klingt besser«, antworte ich begleitet von einem Lachen. »Kannst du mir noch mehr darüber erzählen?«
»Das ... würde eine zu lange Zeit in Anspruch nehmen. Die habe ich nicht.«
»Wieso denn? Warum musst du auf einmal so dringend zurück?«, stelle ich nun endlich auch diese mich brennende Frage.
»Ähm ... Also vorhin ... Als wir da am Tisch saßen, da ...«
»Hast du deine Erinnerungen wieder bekommen?«
»Ja. Genau. Warte. Du weißt es?«
»Du wirktest ziemlich verändert, dann deine plötzliche Aufbruchstimmung, na ja. Es machte den Anschein. Also ich habe es vermutet.«
»Ich muss so schnell wie möglich zurück. Ich weiß wieder, warum ich hierherkam und was mein Auftrag war.«
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