48 ☾ SIE

Endlich. Er braucht Ruhe. Endlich hat er losgelassen. Ein wenig Schlaf tut ihm gut. Ganz gewiss. Kurz vor der Dämmerung wollten wir losgehen, dann kann ich ihn immer noch wecken. Er hat so viel für mich getan. Das ist ihm wahrscheinlich nicht einmal bewusst. Mir bedeutet es unheimlich viel. Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist, mich so schnell wie möglich zu erinnern, doch es kommt nicht zu mir. Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll zu suchen. Der Gipfel. Ist er irgendwo hier oder in meinem Zuhause? Dieser majestätisch wirkende Koloss scheint ein Schlüssel zu irgendetwas zu sein, aber ich komme einfach nicht darauf zu was. Das macht mich noch wahnsinnig.

Der Gipfel, das fließende Wasser unter dem Mondlicht, die Sterne ... und selbstredend Papis Worte. Es ist Zeit. Zeit wofür? Hierher zu kommen, von meinem Zuhause wegzugehen? Aber warum? Wollte er mich loswerden? Nein. Oder doch? Seine Stimme klang nicht abweisend, nicht schroff, nicht kühl ... Es muss einen Grund geben. Sind alle diese wunderbaren Gebilde der Natur an einem Ort oder manche hier und andere dort?

Wäre doch lieber mein Gedächtnis statt der Sprache wieder gekommen! Das ... Scharf sauge ich Luft ein. Schnell blicke ich zu Frederik und horche auf. Er hat nichts davon mitbekommen, allerdings habe ich es hoffentlich lediglich gedacht. Wie gemein von mir. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür.

Es lässt mir alles nur keine Ruhe. Mein Gefühl pocht darauf, es herauszubekommen, dass es von immenser Bedeutung ist. Und ich ... weiß es einfach nicht. Wieder steigen mir Tränen in die Augen. Meine Augenlider fest aufeinanderpressend, sage ich mir, dass es jetzt mal reicht. Das bringt mir auch nichts.

Sei nicht zu streng mit dir und gebe dir Zeit, erreichen mich wieder einmal weisen Worte von Papi. Unmittelbar muss ich schmunzeln. Denn wenn ich es gerade nicht gewesen wäre – streng zu mir –, hätte ich mich nicht an seine Worte erinnert. Allerdings weiß ich, was er mir sagen möchte. Jetzt ist sowieso keine Zeit mehr. Ich war so lange in meinen Gedanken und den Bildern versunken, dass tatsächlich schon die Zeit zum Aufbrechen gekommen ist.

»Frederik?« Ich tippe ihn ganz vorsichtig an. Er murmelt etwas, was ich nicht verstehen kann. Daraufhin stupse ich ihn nur ein wenig doller an.

»Ja. Ich bin wach. Ist alles in Ordnung?« Hektisch setzt er sich auf und schaut sich um.

»Alles in Ordnung. Es ist Zeit.«

Erst jetzt guckt er zum Himmel und dann wieder zu mir. Nun wirkt er noch irritierter. Kann er es nicht glauben, dass er geschlafen hat? »Frederik, ist doch gut, dass du dich ausgeruht hast«, sage ich ihm ehrlich gemeint, wobei ich mir ein Grinsen nicht verkneifen kann.

»Sieht ganz so aus«, erwidert er mit hochgezogener Augenbraue.

»Ich muss nur grinsen, weil du selbst so erstaunt bist.«

Entweder glaubt er es oder er lässt es einfach so stehen. Auf jeden Fall packen wir das wenige Hab von uns zusammen und setzen unsere müden Körper in Bewegung. Wir müssen quer durch den Wald. Ich hätte jetzt gar nicht gewusst, wo es lang geht, wie mir gerade auffällt. Er hatte mich hierher gebracht, als ich nicht bei Bewusstsein war. Und dieser Wald ... ist irgendwie überall gleich. Nirgends scheinen noch genug Bäume zu wachsen oder zu viele werden abgeholzt. Es wirkt wie ein traurig vernachlässigter Fleck auf diesem Grund. In Stille folge ich Frederik, der mich durch dieses Gehölz führt und alle paar Meter stehen bleibt. Entweder weil Fritzi ihre Ohren spitzt oder weil er sich selbst vergewissern möchte.

Ich bin froh, als wir das Haus von Waltraud und Wilma schon erkennen können und würde am liebsten direkt loslaufen, doch Frederik hält mich am Arm fest und schüttelt bedacht mit dem Kopf. Er flüstert mir zu, dass wir auch die letzten Meter vorsichtig sein sollten. In einer tiefen Ecke meines Verstandes weiß ich, dass er recht hat, aber meine Euphorie, die durch diesen Anblick in mich hineinströmte, sowie meine sämtliche Erschöpfung möchten einfach nur endlich erst einmal ankommen. Und mein Körper sowie auch mein Geist wissen, dass dieser Platz vor uns ein guter Ort ist. 

Nachdem wir auch diese letzte Hürde bewältigt und uns zum Hintereingang geschlichen haben, müssen wir hoffen. Hoffen und beten, dass die beiden noch anwesend sind und insbesondere, dass sie alleine sind.

Nervös und mit schwitzigen Händen stehen wir vor der Tür. Mit den Fingern und bloßen Lippenbewegungen zählen wir bis drei. Ein kurzes Zögern überkommt mich. Doch dann drücke ich die Klinke runter. 

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