Kapitel 6
"Bald ist die Hälfte der Stunde vergangen und unser Lehrer ist noch nicht einmal aufgetaucht!" Gelangweilt ließ Philipp den Kopf auf den Tisch sinken.
Wir waren schon vor einer halben Stunde ins Klassenzimmer für Zaubereigeschichte gekommen. Fred und George hatten uns ja gewarnt, dass der Unterricht langweilig werden würde, aber ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Professor Binns erst Unterricht halten musste, damit uns langweilig wurde. Offensichtlich hatte ich mich getäuscht.
Als Fred mich von der Seite anstupste, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich drehte mich zu ihm und er zeigte nach vorne. Ich sah zur Tafel, gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie Professor Binns durch die Wand ins Zimmer schwebte. Bis jetzt hatte ich noch nicht allzu viel von den Geistern in Hogwarts gesehen und ich musste zugeben, dass ich mir nicht so recht hatte vorstellen können, wie ein Geist unterrichten konnte, obwohl ich alle Bücher gelesen hatte.
Aber da stand er, vor dem Lehrerpult, und begann, ohne Einleitung oder sonst etwas, mit einer Stimme zu sprechen, die vermuten ließ, dass er seinen Unterricht bereits auswendig konnte. Er machte es einem unmöglich, auch nur länger als eine Minute zuzuhören. Meine Augen wurden gegen meinen Willen schwerer und als ich mich umsah, merkte ich, dass die ganzen Gryffindors bereits abgeschaltet hatten und schliefen. Alicia Spinnet war die einzige, die mitschrieb. Und Ebru natürlich, die bereits ihr zweites Blatt vor sich hatte. Selbst sie sahen aus, als müssten sie sich unendlich konzentrieren um zuhören zu können.
Das nächste was ich mitbekam war, dass mich erneut jemand anstupste. Ich hob den Kopf und musste erst einmal meine Erinnerungen sortieren, um herauszufinden, wo ich war. Oh. Richtig.
Johanna sah mich genauso verschlafen an, wie ich mich fühlte.
"Komm schon, die Stunde ist aus."
Mit halb geschlossenen Augen hob ich meine Tasche hoch und stand auf. Draußen vor dem Klassenzimmer warteten wir auf die anderen, die etwas länger brauchten, um aufzuwachen. Die Gryffindors beobachteten uns mitfühlend.
"Es ist leichter, wenn man sich gleich mit etwas anderem beschäftigt", riet uns Katie. "Wenn ihr einschlaft, seid ihr danach nur unendlich müde."
Wir nickten, dankbar für den Tipp, während Alicia sie strafend ansah. "Ermutige sie nicht auch noch. Ich werde auf gar keinen Fall schon wieder für die ganze Klasse mitschreiben." Die beiden gingen mit den anderen Gryffindors los, während Fred und George bei uns blieben.
"Müssen wir uns Sorgen machen?", fragte Fred seinen Bruder.
"Ach was, du weißt doch, dass sie das jedes Jahr sagt", antwortete George. Beide grinsten.
"Wie überredet ihr sie denn, euch die Notizen doch zu geben?", fragte Carina neugierig.
"Wir erinnern sie daran, dass sie sonst nächstes Jahr alleine im Unterricht sitzt!"
"Wir gehen ihr zwar auf die Nerven, aber sie würde uns trotzdem vermissen!", verkündete George strahlend.
Immer noch müde machten wir uns auf den Weg zum Gryffindorturm. Die Schulsachen verstauten wir in den Schlafsälen und trafen uns dann im Gemeinschaftsraum.
"Was wollen wir heute machen?", fragte Fred. Als niemand antwortete, sah er sich kurz um und musste lachen. Gut die Hälfte von uns lag kreuz und quer über den Sesseln oder lehnte sich mit halb geschlossenen Augen irgendwo an.
"Ich hab eine Idee", sagten die Zwillinge gleichzeitig. Sie sahen sich an und grinsten. "Folgt uns!"
"Müde!", argumentierte Johanna, die sich auf dem Teppich eingerollt hatte. Diesmal war es an George, zu lachen. Er ging zu ihr, hob sie hoch und trug sie zurück zu seinem Bruder, bis sie sich beschwerte und beschloss, doch lieber selbst laufen zu wollen.
Nicht besonders motiviert folgten wir Fred und George, die uns erneut auf das Schlossgelände führten. Hoffentlich hatten sie nicht vor, uns in den See zu werfen, um uns wieder aufzuwecken. Vorsichtshalber hielt ich mich eher am Ende der Gruppe.
Aber wir liefen gar nicht in Richtung des Sees. Erst auf der Hälfte des Wegs wurde mir klar, dass die Zwillinge zum Quidditchstadion wollten. Neugierig holte ich wieder auf, bis ich vorne bei Fred und George lief.
"Was habt ihr vor?", fragte ich mit Blick auf das riesige Stadion. Fred lächelte.
"Etwas, das euch bestimmt wieder wach werden lässt."
Ein bisschen nervös, aber auch gespannt fragte ich mich, was sie vorhatten.
Als wir beim Stadion angekommen waren, lief George kurz vor, um zu schauen, ob gerade eine Mannschaft trainerte.
"Am zweiten Tag nach Schulbeginn?", fragte Jenni skeptisch. "Ist eher unwahrscheinlich, oder?"
"Wart's ab", war Freds einziger Kommentar. Kurz darauf kam George schon wieder zurück, mit dem breitesten Grinsen im Gesicht, das ich bisher bei ihm gesehen hatte.
"Flint" war alles, was er sagte. Die beiden gaben sich ein High-Five und drehten sich zu uns um.
"Kommt, wir gehen die Besen holen."
"Aber ich dachte, die Slytherins-" Fred zwinkerte mir zu und zog mich mit sich, die anderen folgten uns, vermutlich genauso verwirrt, wie ich mich gerade fühlte.
Wir hielten vor einem großen Schuppen, in dem vermutlich die Schulbesen untergebracht waren. George trat vor, öffnete die Tür und wir traten ein.
Meine Befürchtung, hier viele Spinnen anzutreffen, stellte sich als unberechtigt heraus. Obwohl hier nicht allzu oft Schüler herzukommen schienen, war weit und breit keine einzige Spinnwebe zu sehen.
"Das hier ist eine Schule für Zauberei, schon vergessen?", erinnerte George mich belustigt, nachdem ich meine Gedanken ausgesprochen hatte. "Wenn Filch sich auch noch um Spinnweben und so was kümmern müsste, würde er irgendwann explodieren."
Die Zwillinge seufzten kurz wehmütig und ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie sie in der ersten oder zweiten Klasse versuchten, in irgendwelchen Ecken des Schlosses Spinnweben zu platzieren, um den Hausmeister zu ärgern.
Fred klatschte in die Hände und wir drehten uns zu ihm um. "So", sagte er, "jetzt nimmt sich jeder einen Besen- bitte versucht, welche zu finden, bei denen der Schweif noch halbwegs in Ordnung ist- und kommt wieder raus."
Ich schnappte mir irgendeinen Besen, der noch nicht allzu ramponiert aussah und folgte den Zwillingen nach draußen, die bereits ihre in der Hand hielten.
"Bringt auch ein paar Schläger mit!", rief George in den Schuppen hinein.
"Was, wir sollen beim ersten mal auf einem Besen gleich Quidditch spielen?" Ich zog eine Augenbraue hoch. Die beiden grinsten mich an.
"Das ist nur für eure Sicherheit, ehrlich."
Ich schnaubte skeptisch. Als George gesagt hatte, dass die Slytherins heute trainierten, hatten sie nicht unbedingt ausgesehen, als würde das ihren Plänen in die Quere kommen. Aber wenn wir sowieso hier draußen das Fliegen lernten, was hatte das dann mit Flint und den Schlägern zu tun?
Als alle ihre Besen hatten, ging es los. Die Zwillinge zeigten uns, wie wir uns am besten festhalten konnten. George stieß sich vom Boden ab und flog ein paar Runden um uns herum, während Fred uns erklärte, wie man richtig lenkte.
"Ich an eurer Stelle wäre vorsichtig, diese Schulbesen sind manchmal etwas bockig", meinte George, nachdem er wieder gelandet war. "Wir sollten es zuerst in kleinen Gruppen versuchen. Keine Sorge, wenn etwas passiert, sind Fred und ich sofort bei euch."
Ein bisschen nervös klammerte ich mich an den Besenstiel und wollte gerade losfliegen, als George auf uns zugerannt kam. Er drückte der ersten Gruppe, Johanna, Lena, Marina und mir jeweils einen Schläger in die Hand. Wir starrten ihn kollektiv verwirrt an, eine Erklärung blieb er uns allerdings schuldig, sondern bedeutete uns nur, endlich loszufliegen.
Ich verdrehte die Augen und versuchte, so gut es ging, den Besenstiel zu umklammern und gleichzeitig den Schläger nicht fallenzulassen.
"Ich wollte euch nur daran erinnern, dass ich Höhenangst habe", murmelte Johanna wenig begeistert.
"Du musst ja nicht fliegen, wenn du nicht willst." Lena sah sie besorgt an, aber Johanna grinste leicht.
"Bist du verrückt? Ich lass mir das doch nicht entgehen!"
Marina schüttelte leicht den Kopf. Sie setzte sich auf den Besen, stieß sich ab und flog. Die anderen klatschten.
"Wow, gleich beim ersten Versuch!", rief Fred. Sie war noch nicht so weit oben, dass man ihr Grinsen hätte übersehen können.
Etwas ermutigt stieß ich mich ebenfalls vom Boden ab. Ich hatte vermutlich halb erwartet, einfach wieder auf den Boden zu fallen, daher war ich etwas überrascht, als ich sofort flog.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Ich flog noch nicht einmal besonders schnell, aber der Wind sauste mir um die Ohren und ich konnte meine Augen nicht vom Boden abwenden, der immer kleiner wurde. Als ich in Marinas Nähe kam, flog ich einen (vorsichtshalber weiten) Bogen, wie George es uns gezeigt hatte, und bremste neben ihr ab.
"Wahnsinn, oder?", fragte sie. Es war unschwer erkennbar, dass sie vollkommen begeistert war. Sie hatte ein breites Grinsen im Gesicht und ihre Augen strahlten. Ich konnte nur nicken. Wir beobachteten, wie Johanna, die vermutlich erst abwarten wollte, ob wir nicht doch abstürzten, und Lena, die nicht alleine losfliegen wollte, auf uns zugeflogen kamen.
Während wir auf sie warteten, sah ich, dass auf einmal beide die Augen aufrissen und mit den Schlägern, die andere Hand fest am Besenstiel, hinter uns zeigten und etwas riefen. Sie waren noch zu weit weg, um sie zu verstehen, aber ich drehte mich vorsichtshalber um. Und erstarrte.
Eine kleine, braune Kugel war zwischen den Zuschauerrängen des Quidditchstadions hervorgeflogen und schoss mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auf uns zu.
"Geh da weg!", rief Marina, die sofort aus dem Weg geflogen war. Ich war zuerst wie versteinert, dann fiel mir allerdings ein, was ich über Klatscher wusste: die Treiber hetzten sie zwar auf das gegnerische Team, aber sie selbst waren so verzaubert, dass sie auf die Spieler zielten.
Alles andere als zuversichtlich rief ich mir meine vergangenen Erfahrungen mit Ballsportarten ins Gedächtnis und betete, dass ich diesmal mehr Glück hatte. Viel mehr Zeit hatte ich gar nicht. Den Klatscher nur noch ein paar Meter entfernt, hob ich den Schläger und holte aus.
Das Auftreffen des Balls spürte ich am ganzen Körper, vor Schmerz ließ ich den Schläger sofort fallen. Ich klammerte mich sofort wieder an den Besen und sah dem Klatscher nach. Der flog, auf unbeirrbarer Bahn, zurück ins Stadion. Ich war weit genug oben um zu erkennen, dass einer der Spieler uns beobachtete und dann zu den anderen zurückflog, den Klatscher vollkommen ignorierend. Der traf in genau diesem Moment ein anderes Mannschaftsmitglied, das prompt vom Besen fiel. Mehr bekam ich nicht mit, da Fred und George und einige der anderen inzwischen bei uns angekommen waren.
"Was war das denn?", fragte Jenni geschockt.
"Ich vermute mal, einer der hinreißenden Slytherins konnte nicht widerstehen", entgegnete Fred. "Das war ein exzellenter Schlag, Nina."
"Da denken die anders." Carina zeigte nach unten ins Stadion, aus dem ein paar grüne Gestalten hervorgeschossen kamen, eindeutig in unsere Richtung. Ich schlich (sofern man auf einem Besen eben schleichen konnte) vorsichtshalber hinter die Zwillinge, die mit unlesbarer Miene auf die Slytherins warteten.
"Ihr seid erledigt, Weasleys!", behauptete Draco, sobald sie bei uns angekommen waren. "Wenn Bletchley ernsthaft verletzt ist-"
"Es war nicht unsere Schuld, dass einer eurer Treiber einen Klatscher auf uns geschossen hat!", unterbrach ihn George. "Du willst mir doch nicht erzählen, dass das ein Versehen war?"
Er starrte Flint und Pucey an, die beide ihre Schläger noch in der Hand hielten. Flint grinste. Er versuchte nicht einmal, es zu leugnen.
"Wieso versucht ihr überhaupt, ihnen das Fliegen beizubringen?" Er beobachtete Mira, die versuchte, ihren Besen davon abzuhalten, sich selbstständig zu machen. Deswegen waren die Schulbesen also nicht so beliebt. "Scheint nicht allzu erfolgreich zu sein. Aber was kann man auch erwarten, wenn ihr-"
"Du weichst der Frage aus", unterbrach ich ihn. "Du leugnest nicht einmal, dass du das mit Absicht gemacht hast."
"Wieso denn ich?", fragte Flint gespielt überrascht. "Dir ist bewusst, dass es beim Quidditch zwei Treiber gibt, oder? Warte, du bist neu hier. Vielleicht solltest du dir die Regeln einmal von jemandem erklären lassen, bevor du über Dinge redest, von denen du keine Ahnung hast."
"Vielleicht solltest du sie dir stattdessen noch einmal durchlesen", entgegnete Fred unbeirrt. "Pucey ist nämlich der Einzige in eurem Haufen, der fair spielt. Ich bezweifle, dass er es war."
Pucey selbst verdrehte nur die Augen und stieß Flint in die Seite.
"Komm schon Marcus, die halten uns nur vom Training ab."
Nach ein paar letzten Drohungen flogen die Slytherins geschlossen zurück ins Stadion. Wir hätten uns vermutlich freuen sollen, dass sie weg waren. Stattdessen starrten wir die Zwillinge an.
"Habt ihr mit so etwas gerechnet?", wollte Mira wissen.
"Hey, ich hätte mir den Hals brechen können!", fügte ich hinzu. Fred grinste und warf seinen Schläger nach George. Der zuckte nicht einmal, als der Schläger nur Zentimeter vor seiner Stirn auf eine unsichtbare Barriere traf und abprallte. Ohne Anstrengung fing Fred ihn wieder auf.
"Wir haben die Besen verzaubert. Der Klatscher hätte dich überhaupt nicht getroffen, denkt ihr ernsthaft, wir würden mit so etwas nicht rechnen?"
"Aber mein Herz!", rief ich zugegebenermaßen etwas melodramatisch, während ich die Hand auf besagtes legte. "Habt ihr eine Ahnung, was für einen Schock ich bekommen habe?"
"Hast trotzdem gut reagiert", war das einzige, das George dazu zu sagen hatte. "Wenn wir nicht schon die Treiber Gryffindors wären, hätte ich dich Angelina glatt vorgeschlagen."
"Vergiss es", entgegnete ich und schüttelte den Kopf. "Ich will nie wieder eins von diesen Dingern sehen."
"Das heißt, du willst uns bei unseren Quidditch - Spielen nicht anfeuern?" Fred schüttelte den Kopf. "Jetzt bin ich aber enttäuscht."
Wir folgten den beiden zurück nach unten, während ich sie in Gedanken mit einigen erlesenen Schimpfwörtern bedachte. Als wir die Besen wieder im Schuppen verstaut hatten und uns noch ein wenig über die Slytherins aufregten, räusperte sich jemand hinter uns. Ich, im Moment verständlicherweise etwas schreckhaft, zuckte zusammen und fuhr herum.
"Wie ich höre, sind Sie beide dabei, unsere neuen Schüler zu echten Gryffindors zu machen." Wenn sie nicht so eine ernste Miene gezogen hätte, hätte man fast meinen können, sie wäre belustigt. Fred zuckte mit den Schultern.
"Man tut, was man kann."
Das ließ sie unkommentiert. Stattdessen sagte sie: "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne kurz mit unseren neuen Schülern unterhalten."
Die Zwillinge sahen kurz sich, und dann uns an. "Bis später im Gemeinschaftsraum", sagten beide gleichzeitig. Der Ausdruck in ihren Gesichtern sagte eher "Bis später bei eurer Beerdigung". Sehr beruhigend.
Professor McGonagall wartete, bis die beiden weit genug weg waren, dann trat sie beiseite und gab den Blick auf einen Mann im schwarzen Mantel frei, der uns ausdruckslos musterte.
"Darf ich Ihnen Professor Blake vorstellen." Der Mann nickte kurz zur Begrüßung.
Verwirrt sah ich Johanna an. Wir kannten die Lehrer in Hogwarts in- und auswendig, einen Professor Blake gab es hier definitiv nicht. Ich beobachtete ihn kurz. Sein Gesicht war wie versteinert, als versuchte er, jede Gefühlsregung zu unterdrücken. Der Blick in seinen Augen war das genaue Gegenteil.
Aber was mich so störte, waren weder seine Augen, noch sein Aussehen, und auch nicht die Tatsache, dass ich ihn nicht kannte. Was mich beunruhigte, war dieses Gefühl, als müsste ich ihn kennen.
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