Kapitel 90

„Avada Kedavra!"

Der von Ginny ausgesprochene Todesfluch schien in Harrys Kopf widerzuhallen. Der grüne Blitz, der aus ihrem Zauberstab hervorschoss, tauchte die ganze Küche in strahlend helles Licht. Ambers Hand flog an ihre Brust in dem verzweifelten Versuch, den Fluch abzuwehren, der ihrem Leben ein Ende setzen würde. Und im Begreifen um das Unausweichliche öffneten sich ihre Lippen zu einem stummen, vergeblichen Versuch, sich mit einem Schildzauber zu schützen.

Dennoch war Amber keinen Schritt zur Seite gewichen und Ginnys Fluch traf sie daher mit voller Härte und riss sie von den Füßen. Einen Moment lang schien die Zeit für Harry still zu stehen. Ambers Körper wirbelte durch die Luft und beschrieb einen leichten Bogen, bevor er mit einem polternden Geräusch nicht weit von Harry entfernt wieder auf den Boden fiel. Ihr Kopf kippte zur Seite und der leere Blick ihrer Augen verlor sich in den paar Metern, die Harry von ihr entfernt stand.

Der Alptraum ist vorbei, dachte Harry und eine Woge von Erleichterung wusch über ihn hinweg. Langsam ließ er die angehaltene Luft aus seinen Lungen entweichen und senkte dann die Zauberstäbe, die er noch immer in seinen Händen hielt. Versuchsweise unternahm er einen vorsichtigen Schritt nach vorne und war erleichtert festzustellen, dass ihn nunmehr nichts mehr davon abhielt, zu Ginny hinüber zu eilen.

Die junge Hexe hielt ihren Zauberstab weiterhin auf die Stelle gerichtet, an der Amber zu Boden gegangen war, während ein verbissener und gleichzeitig benommener Ausdruck auf ihrem Gesicht lag. Harry ließ sich zu ihr auf den Boden sinken und schob Ginnys Arm sanft nach unten, so dass die Spitze ihres Zauberstabes nun auf den Boden deutete.

„Es ist vorbei, Gin", sagte er leise. „Wir haben es überstanden."

Dann steckte er seinen eigenen Zauberstab in den Bund seiner Jeans, legte Ambers Erlenholzstab vor ihnen auf den Boden und zog Ginny behutsam in seine Arme. Wortlos lehnte sie sich gegen seine Brust, doch die Anspannung in ihrem Körper war noch immer spürbar. Ihr sanft über den Rücken zu streichen war daher im Moment alles, was Harry tun konnte, bis ihr gepresster Atem allmählich ruhiger wurde.

In diesem Augenblick war das Poltern eiliger Schritte zu hören und nur einen Moment später stürmte Ron herein. Sein Blick flog zu Amber hinüber, die leblos auf dem Boden lag, Kinn und Mund halb von den dunkelbraunen Haaren bedeckt, die ihren Kopf umgaben wie eine wirre Girlande. Dann glitt sein Blick zu Harry und Ginny und mit einem lauten Ausruf stürzte er auf sie zu.

„Ginny! Harry! Seid ihr okay...?"

Ginny löste sich aus Harrys Armen und wandte den Kopf, während Ron jäh stoppte, als er Harrys ramponiertes Erscheinungsbild gewahrte.

„Merlin..."

„Ginny hat sich den Fuß verletzt", beeilte sich Harry zu sagen, um etwaigen mitleidigen Kommentaren, die er gerade nicht ertragen konnte, zuvorzukommen. Das Adrenalin, das noch kurz zuvor durch seine Adern geströmt war, war abgeflaut und er spürte nun ein unsägliches Brennen an seinen Handgelenken, wo das magische Seil tief in seine Haut geschnitten hatte. Gleichzeitig ließ sich sein angeschwollener Hals nicht mehr ignorieren, der ihm das Schlucken zu Qual machte. Mit der Hand rieb er von außen über seinen Kehlkopf, ohne dass es ihm gelang, das Engegefühl zu lindern.

Die Stellen, an denen Ambers Flüche ihn getroffen hatten, fühlten sich an wie eine offene Wunde. Kontinuierlich sandten sie Wellen des Schmerzes durch seinen Körper, obwohl von außen nichts weiter zu sehen war als der zerrissene Stoff von Pullover und Shirt. Aber zumindest war diese grauenhafte Schwäche verschwunden. Harry hoffte inständig, dass dies bedeutete, dass auch seine Zauberkraft nun vollständig zurückgekehrt war.

Ron hatte sich mit einem letzten kritischen Blick auf Harry nun Ginny zugewandt, die seine geäußerte Besorgnis mit emotionslosem Ton abwehrte:

„Nicht der Rede wert."

Sie deutete mit der freien Hand auf Amber und ergänzte dann matt: „Schau lieber nach, ob sie wirklich tot ist!"

„Mit Sicherheit, denn sonst hätte ich nicht problemlos in den Garten kommen können", entgegnete Ron. „Der Abwehrzauber funktionierte nicht mehr – zum Glück, sonst..."

Er unterbrach sich, als Hermine, den Zauberstab verteidigungsbereit erhoben, mit raschen Schritten die Küche betrat und einen erleichterten Schrei ausstieß:

„Harry! Ginny! Merlin sei Dank, ihr lebt!"

Im Nu war sie bei ihnen und zog als erstes Ginny in eine Umarmung, während Ron hastig ein paar Schritte zurückwich. „Ich hatte schon Angst, dass..."

Tränen glitzerten in Hermines Augen und sie brachte den Satz nicht zu Ende. Ginnys Schultern verloren etwas von der rigorosen Haltung und ihre Augen blinzelten ein paar Mal, als würde ihr erst in diesem Moment vollends bewusst, dass sie lebend davongekommen waren. Unvermittelt durchfuhr Harry ein Schaudern, denn es hätte leicht ganz anders ausgehen können. Er warf einen Blick zu Amber hinüber, an deren Seite jetzt Ron aufgetaucht war und nach ihrem Puls fühlte. Von irrationaler Furcht getroffen, riss er seinen Zauberstab hervor, um Ron wenn nötig Schutz zu geben. Doch dieser stellte gleich darauf grimmig fest:

„Toter geht es nicht."

In der plötzlichen Berührung seitens Hermine, die Harry so kräftig an sich zog, wie er es noch nie zuvor von ihr erlebt hatte, gingen Rons weiteren Worten unter.

„Wir hätten dich niemals alleine zurückgehen lassen sollen", hörte er Hermine aufschluchzen und aufgelöst schüttelte es ihren ganzen Körper. Harry drückte sie verlegen, bevor er sich schließlich behutsam aus ihrer Umarmung löste und leise murmelte:

„Ist ja alles gut gegangen." Und mit später Einsicht fügte er reuevoll hinzu: „Ich hätte auf euch hören sollen."

„Das hättest du", gab ihm Ginny sofort Recht und zu Harrys Erleichterung bahnte sich ein leichtes Lächeln seinen Weg in ihre Mundwinkel. „Aber das war eben typisch Harry."

Zu seiner Linken vernahm Harry ein halb entrüstetes, halb unterdrücktes Schnauben. Doch es waren Ginnys Augen, die ihn packten, ihm kurz zublinzelten und einen Augenblick lang wieder ihre Lebendigkeit zum Vorschein kommen ließ. Bevor sich Harry jedoch darüber freuen konnte, mischte sich erneut ein nachdenklicher Zug in Ginnys Miene, als sie ihren Zauberstab betrachtete und voller Ernüchterung feststellte:

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich so früh einen Todesfluch aussprechen würde. Eigentlich hatte ich gedacht, es nie tun zu müssen..." Sie seufzte. „Aber das kann als Aurorin ja nie ausgeschlossen werden."

Unbeschreibliche Dankbarkeit wallte in Harry auf, dass Ginny geschafft hatte, was ihm selbst nicht gelungen war. Denn Amber hatte Recht gehabt, er hätte es nicht über sich bringen können, sie zu töten.

Hermine drückte Ginny mitfühlend, und warf schließlich, als ihre Freundin nichts weiter ergänzte, einen Blick auf deren Knöchel, der inzwischen fast zur Größe einer kleinen Apfelsine angeschwollen war.

„Harry, hast du Tauruskraut?", wollte sie wissen und die Profanität ihrer Frage überraschte Harry einen Augenblick lang. Er nickte automatisch und begriff erst, als sie sich erhob, dass sie vorhatte, eine schmerzstillende Tinktur zuzubereiten. Dann spürte er Ginnys Blick auf sich ruhen, tief und verständnisvoll und im Bewusstsein dessen, was sie gerade gemeinsam überstanden hatten.

„Es war das einzig Richtige", sagte Harry leise und blickte in das so vertraute Gesicht, in dem Angst und Erschöpfung Spuren hinterlassen hatten.

„Ich weiß", gab Ginny zurück und seufzte. Doch offenbarte sich im Blick ihrer Augen so viel Entschlossenheit, dass Harry wusste, sie würde an ihrer Entscheidung nicht zerbrechen. Sie hatte diese innere Stärke, die wie ein kleines Licht in ihrem Inneren leuchtete. Ein Licht, das nie ausgehen würde, gleich was auch passierte. Wie von selbst fanden sich auf einmal ihre Hände und die Berührung war ein Versprechen für die Zukunft, ein Versprechen, dass sie noch einmal neu anfangen würden. Einen Moment lang gab es nur noch sie beide und Worte waren nicht nötig, um auszudrücken, was sie füreinander empfanden.

Der laute Knall einer zufallenden Tür ließ sie zusammenfahren und was Harry dann gewahrte, ließ sofort seinen Puls nach oben schnellen. Im Türrahmen zur Küche stand, mit vor der Brust verschränkten Armen, Draco, dessen Blick emotionslos Ambers reglose Gestalt betrachtete. Seine starre Haltung machte deutlich, dass er schon länger dort stand und in Harry explodierte etwas.

Mit einem Ruck sprang er auf und zückte seinen Zauberstab.

„Verschwinde sofort aus meinem Haus, Malfoy, bevor ich jegliche guten Manieren vergesse!"

Dracos Kopf zuckte hoch, aber seine Worte bargen keine Überraschung:

„Immer langsam, Potter." In mokanter Geste hob er leicht seine Hände, Handflächen auf Harry gerichtet, und grinste süffisant. „Ich habe dir nichts getan."

Zorn tränkte Harrys Urteilsvermögen und nur aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie Ron einen aggressiven Blick in die Richtung schickte, in der Harry Hermine vermutete. Doch er hatte keinen Gedanken dafür übrig, was das zu bedeuten haben konnte.

„In meinem Haus ist kein Platz für jemanden, der Voldemort zu dienen geschworen hat und damit das Erbe meiner Eltern besudelt!", fuhr er Draco an, der vollkommen ungerührt zurückgab:

„Da scheinst du mich wohl mit jemanden zu verwechseln, den du unter deinem Dach beherbergt hast, Potter. Ich habe mich nicht mehr mit dunkler Magie befasst, seitdem der Dunkle Lord tot ist."

Harry Griff um den Zauberstab wurde so fest, dass seine Knöchel hervortraten. Er hasste Malfoy dafür, dass dieser ihn an seinen eigenen kardinalen Fehler erinnerte. Nur die Befürchtung, dass seine magischen Fähigkeiten noch immer beeinträchtigt waren, hielt ihn davon ab, Draco auf der Stelle zu verfluchen. Stattdessen entgegnete er bissig:

„Das hat sich aber vorhin ganz anders angehört!"

Nur mit einem leichten Zucken der Mundwinkel gab Draco zu erkennen, dass er wusste, wovon Harry sprach. Seine Erwiderung kam dann ungemein spöttisch daher:

„Du musst nicht alles glauben, was du hörst, Potter."

Harry schloss einen Wimpernschlag lang die Augen und knirschte mit den Zähnen. Was, bei Merlins Bart, hatte Malfoy hier zu suchen? Nicht genug, dass er vorhin seine anbiedernden Worte hatte ertragen müssen, während er selbst außerstande gewesen war, sich zur Wehr zu setzen.

Zu seiner Überraschung rauschte Hermine an ihm vorbei und baute sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor Draco auf.

„Und du hältst jetzt am besten mal den Mund! Deine Unterstützung gibt dir nicht das Recht, ständig irgendwelchen Mist von dir zu geben!"

Hermines Gesicht war puterrot und ihre Augen starrten voller Zorn zu Draco hoch, der unerwartet ruhig blieb und Hermine auf eine Art und Weise musterte, die Harry nicht einordnen konnte. Dann sanken ihre Worte in sein Bewusstsein und unvermittelt runzelte er die Stirn, während Ron ein Geräusch von sich gab, das halb bitteres Lachen, halb ersticktes Keuchen war.

Den Blick, mit dem Ron daraufhin Hermine bedachte, war finster und verhehlte nicht, dass etwas Schwerwiegendes zwischen den beiden vorgefallen sein musste. Verwirrt drehte sich Harry zu Ginny um, die Draco und Hermine mit einem fast entsetzten Gesichtsausdruck anstarrte und offenbar etwas von dem begriffen hatte, was vor sich ging. Als Ginny Harrys Augen auf sich spürte, warf sie ihm einen leicht hilflosen Blick zu, bestätigte dann aber tonlos:

„Hermine hat Recht, Malfoy hat geholfen."

„Indem er Amber Unterstützung angeboten hat oder was?!", fuhr Harry auf und richtete seine Augen erneut auf Draco, der in unverkennbarer Belustigung die Lippen kräuselte. „Ihr habt ihn nicht reden gehört!"

„Ich bin dir zwar keine Rechenschaft schuldig, Potter, aber lass dir ausnahmsweise gesagt sein, dass der Zweck die Mittel heiligt", erwiderte Draco und machte keine Anstalten, die Heiterkeit, die er empfand, zu verbergen.

„Wer's glaubt...", schnaubte Harry, der sich noch zu gut an das Gefühl erinnern konnte, das ihn überkommen war, als er vorhin Dracos hassenswerte Worte vernommen hatte. „Du bist ja schließlich der Ausbund an Ehrlichkeit, nicht wahr? Wie viel Geld hat deine Familie springen lassen, um dich vor Aszkaban zu bewahren? Als wenn nun ausgerechnet du mir helfen würdest!"

„Harry...", setzte Hermine an, doch bevor sie ihren Satz fortsetzen konnte, wurde sie von Draco unterbrochen, dessen vorige Lässigkeit jetzt einer verärgerten Miene Platz gemacht hatte:

„Und nach diesen Worten wünschte ich, ich hätte es nicht getan!"

Er zückte seinen Zauberstab, machte aber gleichzeitig einen Schritt nach hinten. Sein Blick schweifte von Hermine über Ron zurück zu Harry, dem er schließlich aufgebracht zuzischte:

„Aber warum sollte ich auch von so einem bewunderten Helden wie dir Dankbarkeit erwarten. Der heilige Potter steht natürlich über solchen Dingen!"

Erneut schien sich Draco ein Stück nach hinten zu bewegen. Harry registrierte dessen Zurückweichen mit Genugtuung und ließ daher Dracos provokante Worte von sich abprallen.

„Harry!" Ginnys eindringliche Stimme drang durch die kurz entstandene, unangenehme Stille. „Es stimmt. Malfoy ist nach Caneborough gekommen und hat uns berichtet, dass du Hilfe benötigst."

Harry warf Ginny einen raschen, irritierten Blick zu, ohne jedoch Draco vollständig aus den Augen zu lassen. Gepresst fuhr die junge Hexe fort:

„Ohne seinen Hinweis wären wir nicht so schnell hier gewesen..."

Ginny musste nicht weiterreden, um deutlich zu machen, was sie meinte. Harry war sich bewusst, dass ohne Ginnys beherztes Eingreifen das Risiko groß gewesen wäre, dass Amber ihn in den Momenten der Bewusstlosigkeit entdeckt hätte. Und was Amber dann eingefallen wäre, wollte er sich lieber gar nicht erst ausmalen.

Einen Augenblick später schlug jedoch das Entsetzten über Harry zusammen. Er schloss seine Augen, spürte seinen Puls rasen und hatte gleichzeitig das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Was für eine Demütigung, es ausgerechnet Malfoy verdanken zu müssen, aus Ambers Fängen entkommen zu sein.

Seine Hand krallte sich um seinen Zauberstab, dann öffnete er die Augen wieder, sah den hellblonden Zauberer an, der ihm feixend gegenüberstand, und knirschte widerwillig hervor:

„Danke für deine Hilfe."

Dracos Grinsen wurde noch ein Stück breiter und er schien die Situation, in der sich Harry befand, ungemein auszukosten.

„Geht doch, Potter", würdigte er Harrys Worte und machte sich nicht die geringste Mühe, die Herablassung aus seinem Ton fernzuhalten. „Warum nicht gleich..."

Doch bevor er dazu kam, sich weiter abfällig zu äußern, versetzte ihm Hermine einen kräftigen Stoß in die Rippen. Weniger verärgert als mehr amüsiert schien Draco einen Moment inne zu halten und fuhr dann moderater, aber noch immer in bester Laune fort:

„Dann sind wir jetzt quitt nach dem Dämonsfeuer und dem Angriff des Todessers. Schönen Dank übrigens noch dafür."

„Immer wieder gerne", murmelte Harry sarkastisch und sah zu, wie sich Draco nun selbstbewusst Hermine zuwandte:

„Stell sicher, dass du meine Beteiligung an der Rettung von Harry Potter in deinem Artikel erwähnst. Ich gebe dir sogar ein Interview."

Er zwinkerte ihr zu und ergänzte dann resolut:

„Und bevor womöglich noch Auroren aufkreuzen, verschwinde ich lieber. Man sieht sich!"

Mit wirbelndem Umhang wandte er sich um und verschwand schnellen Schrittes aus der Küche.

„Warum muss ich es ausgerechnet diesem Mistkerl verdanken?", explodierte Harry, kaum dass Draco außer Sicht war. Ungeachtet der Tatsache, dass er Malfoy natürlich dankbar war, drehte er sich ungestüm zu Hermine um, die seiner Heftigkeit gefasst und entschlossen entgegen sah.

„Ich glaube, du bist uns eine Erklärung schuldig, Hermine."


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