Kapitel 75

Nur ein leises Klicken der Tür kündigte Ambers Rückkehr an, da sie sich immer ausgesprochen beherrscht verhielt. Bei ihr gab es kein Türen knallen, kein Explodieren von Emotionen, weder überbordende Fröhlichkeit noch Ärger, der sich lautstark Bahn brach. Sie war darin so anders als Ginny, dass sich Harry nun fragte, wie ihm die Lebendigkeit des jüngsten Weasley-Sprosses nicht hatte fehlen können.

Doch Amber war zu einem Zeitpunkt in sein Leben getreten, an dem ihm anscheinend genau diese Zurückhaltung und ruhige Anteilnahme gut getan hatte. Auch wenn sie beide viel über die Verletzungen, die ihnen ihre ersten Lebensjahre bereitet hatten, gesprochen hatten, war Amber praktisch nie vertrauensvoll genug gewesen, ihm zu zeigen, wie es wirklich in ihr drin aussah. Inzwischen war klar, warum...

Und nun musste er ihr entgegen treten und so tun, als wüsste er von nichts, durfte dieser Hexe, die Gedanken lesen konnte, nicht den kleinsten Anlass geben, misstrauisch zu werden. Harry lehnte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen an der Wand und spürte, wie der Druck auf seine Brust wuchs. Aber er war es den anderen schuldig. Er konnte einfach nicht zulassen, dass sich weitere seiner Freunde für ihn in Gefahr brachten!

„Harry?"

Ambers von unten heraufdringende Stimme ließ nichts Ungewöhnliches erkennen. Sie klang ausgeglichen wie jeden Abend, mit nur einer geringen Spur Müdigkeit, und die Schritte auf dem Holzfußboden verrieten ihm, dass sie in die Küche ging, um sich ihren Kaffee zuzubereiten. Harry spürte den Zauberstab, den er heute in seine Hosentasche gesteckt hatte; verborgen von einem Pullover, der angesichts der aktuell milden Temperaturen fast ein wenig zu warm war. Nach einem Moment des Verharrens stieß er sich schließlich entschlossen von der Wand ab. Es hatte keinen Sinn, ein Aufeinandertreffen hinauszuzögern, das nicht zu umgehen war.

Das Feuer im Kamin brannte und spendete ein warmes Licht bis hinüber zur Sitzecke. Der Rest des Raumes lag mittlerweile im Dämmerlicht, so wie es Amber gerne hatte, aber auch Harry war das heute absolut recht. Für das, was er erfahren wollte, bedurfte es keiner Augen, sondern lediglich aufmerksamer Ohren.

„Hallo Harry."

Still und lautlos, wie eine Schlange, fuhr es Harry durch den Kopf, war Amber herein geglitten, und mit der geübten Bewegung eines tausendfach erprobten Rituals berührte sie flüchtig seine Lippen. Er tat sein Möglichstes, nicht zurückzuzucken und ihre Hand an seiner Hüfte zu ignorieren.

„Hallo Schatz, wie war dein Tag?", begrüßte er sie zurückhaltend, eingedenk der Tatsache, dass sie heute Morgen im Streit auseinandergegangen waren.

Der Satz klang falsch in seinen Ohren, aber vielleicht lag es auch nur an seinen bis zum Zerreißen gespannten Nerven, die ihm etwas vorgaukelten, was gar nicht da war. Amber zumindest gab kein Zeichen von Irritation von sich, sie nahm einen Schluck Kaffee und erwiderte wegwerfend:

„Nicht der Rede wert. Die üblichen Personen ohne besondere Entwicklung. Aber du..." sie warf ihm einen Blick zu, der allein schon ihm verriet, dass sie an das Thema von heute Morgen anknüpfen würde, „Erzähl, was hat Richards zu dem Vorschlag gesagt? Hat sie ihn Pennington gezeigt?"

Hatte Amber vergessen, dass seiner quasi erzwungenen Zustimmung mehrere Gegenargumente vorausgegangen waren? Oder ging sie davon aus, dass er seine Vorbehalte nach ihrer Intervention völlig vergessen hatte? Wie sollte er sich verhalten, um sie keinen Verdacht schöpfen zu lassen?

Mit einer Stimmung, die an Lässigkeit nicht mehr zu überbieten war, erwiderte Harry, während ihm das Herz so verräterisch laut pochte, dass er meinte, selbst Amber müsste es hören:

„Ich konnte mit ihr noch nicht darüber reden, sie hat direkt nach ihrer Besprechung das Büro verlassen."

Er ließ sich auf das Sofa fallen, das durch den Schwung leicht unter ihm nachgab, während er spürte, wie ihm angesichts seiner Lüge der Schweiß den Rücken runter rann. Amber schwieg für ein paar Sekunden und sah ihn mit einem forschenden Blick an, den Harry offen erwiderte. Das flackernde Licht warf Schatten auf Ambers Gesicht und verlieh ihren delikaten Zügen dadurch etwas Unheimliches, wenngleich Harry nicht ausschließen konnte, dass es lediglich seine Anspannung war, die ihm dergleichen wahrnehmen ließ.

„Sie ist seit heute Vormittag fortgewesen?"

Die an sich harmlose Frage wurde von einem leicht zweifelnden Tonfall begleitet und angesichts Ambers unverwandtem Blick ahnte Harry, dass sie versuchte herauszufinden, was hinter seinen Worten steckte.

„So ist es. Warum fragst du?"

Obwohl seine Kehle die Trockenheit einer Wüste angenommen hatte, hielt er ihrem Blick stand, um sich nicht mit einem Abwenden des Kopfes zu verraten.

„Keine Ahnung." Amber zuckte zwar nachlässig mit den Schultern, aber ihre Augen starrten ihn ungemein wachsam an. „Vielleicht, weil du etwas nervös wirkst..."

„Ist das ein Wunder, nach dem Streit heute Morgen?", gab Harry ruhig zurück und zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe schon verstanden, dass du das eilig umgesetzt sehen willst. Aber es wird eben warten müssen, bis Richards zurück ist."

Konzentriert wie er war, nahm Harry zum ersten Mal eine dezente Berührung an seinem Geist wahr. Es war, als würden leicht flatternde Flügel ihn berühren. Gewaltsam verdrängte er den Gedanken, dass ihm Voldemorts Tochter gegenüber stand. Einer impulsiven Eingebung folgend rief er sich Ginnys Gesicht vor Augen, umrahmt von den langen glatten Haaren, mit den im Sommer deutlicher werdenden Sommersprossen und den braun schimmernden Augen, die umso mehr leuchteten, wenn sie mit Hingabe und Begeisterung von ihren Erlebnissen berichtete.

Einen Moment später war die fremde Präsenz in seinem Kopf verschwunden und er erlaubte sich, den Ärger zu spüren, der ihn angesichts Ambers unerlaubten mentalen Eindringens durchfuhr. Er hasste es, dieses Gefühl, seine Gedanken jemand anderem ausliefern zu müssen!

Amber ließ sich nichts davon anmerken, was sie erkannt haben musste. Sie stellte den Kaffeebecher ab, ließ sich ihm gegenüber in den Sessel fallen und starrte Harry nachdenklich an, fragte anschließend mit leichtem Misstrauen in der Stimme:

„So nervös, dass dir ein Glas kaputtgegangen ist?"

Sie schlug die Beine übereinander und Harry sah, dass sie sich bereits ihrer hochhackigen Schuhe entledigt hatte. Unter dem seidigen Schimmer ihrer durchscheinenden Strumpfhose gewahrte er ihre golden manikürten Zehennägel, doch dieser Anblick hatte seinen Reiz für ihn verloren. Amber lächelte schließlich und versuchte sich an einem Scherz: „So furchteinflößend bin ich doch gar nicht."

Harry hatte Mühe, nicht zusammenzuzucken und hob pflichtschuldig die Mundwinkel.

„Ist mir aus der Hand gerutscht", antwortete er beherrscht und – wie er selbst feststellte – ohne die Leichtigkeit, die er normalerweise an den Tag gelegt hätte.

„Wie überaus ungewöhnlich von dir...", begann Amber leise, untermalt von einem forschenden Blick, „...dass du keinen Reparaturzauber angewandt hast..."

Erneut spürte Harry das leichte Flattern hinter seiner Stirn und wiederum fokussierte er seine Gedanken auf Ginny. Er vermisste sie, vermisste das ausgelassene Lachen, das sie ihm so oft geschenkt hatte, ihr lebensfrohes Wesen, die Berührungen ihrer Finger auf seiner Haut...

Ambers Lippen hatten sich in einen dünnen Strich verwandelt und machten jetzt unverkennbar deutlich, dass sein Ablenkungsmanöver erfolgreich gewesen war.

„Jetzt mach keine große Sache daraus", erwiderte Harry und war froh, einen Weg gefunden zu haben, seine Wut nun nachvollziehbar zum Vorschein kommen zu lassen. „Dann tu..."

Amber gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt.

„Brauchst du nicht, habe ich bereits repariert."

Sie schlüpfte aus ihrer taillierten Jacke, zog ihren Zauberstab daraus hervor und zauberte das Kleidungsstück dann zur Garderobe, wo es sich in perfekter Weise über einen Bügel hängte. Beiläufig strich Amber mit der linken Hand über ihren Zauberstab und sah anschließend erneut zu Harry hinüber. Sie verbarg ihr Missfallen inzwischen wieder, doch der Blick ihrer Augen hatte etwas Eisiges, obwohl Harry jetzt nichts mehr von ihrem mentalen Eindringen zu spüren bekam.

„Du verheimlichst mir doch etwas, Harry."

Für ein paar Sekunden starrte Amber ihn schweigend an, um ihm die Gelegenheit zu geben, ihre Aussage zu kommentieren.

„Quatsch, warum sollte ich", erwiderte Harry schließlich betont lässig.

Er legte seine Arme auf die Rückenlehne des Sofas und versuchte sich einen Anschein von Lockerheit zu geben, den er gar nicht besaß. Er hatte keine Ahnung, wie Amber auf seine impulsive Idee, an Ginny zu denken, reagieren würde.

„Ich merke, wenn du lügst, Harry!", konstatierte Amber plötzlich, gar nicht mal zornig, wie er erwartet hätte, sondern stattdessen mit einer ruhigen Finalität, als hätte er etwas bestätigt, was sie sich schon lange gedacht hatte.

Mit einer unerwarteten Bewegung stand sie auf, ließ ihren Zauberstab auf das Polster fallen und setzte sich mit einer Geschmeidigkeit, die nicht um Erlaubnis fragte, auf seinen Schoß. Überrumpelt ließ Harry zu, dass sie sein Gesicht in ihre Hände nahm.

„Reiche ich deinen Ansprüchen etwa nicht mehr?", gurrte sie, und presste ihre Lippen, halb zärtlich, halb fordernd auf die seinen, während sich ihre schlanke Gestalt in unverkennbarer Absicht an ihn drängte. Bevor er sich beherrschen konnte, zuckte Harry zurück. Durch das, was er über Amber erfahren hatte, war ihm nun jede Zärtlichkeit zuwider geworden.

Einen kurzen Moment lang erkannte Harry Fassungslosigkeit auf dem Gesicht seiner Freundin, das sich jedoch kurz darauf in ein spöttisches Grinsen wandelte, als sie sich ohne Hast erhob und einen Schritt zurück trat.

„So ist das also...", versetzte sie langsam in einer Stimme, die nicht den geringsten Zweifel daran ließ, dass sie hinter Harrys Bemühen geblickt hatte, sein Wissen vor ihr zu verbergen. Obgleich das Lächeln nicht von ihrem Gesicht wich, schienen ihm ihre Augen, deren Starren von keinem Blinzeln unterbrochen wurde, unheilvoll zu drohen.

„Du bist also meinem kleinen Geheimnis auf die Spur gekommen."

Unwillkürlich überlief Harry ein Frösteln und seine Hand fuhr rasch in die Hosentasche, um das Aufnahmegerät zu aktivieren und Ambers mögliche Enthüllungen festzuhalten. Es waren jene kostbaren Sekunden, die ihm fehlten, um seinen Zauberstab zu zücken. Ehe er es sich versah, flog dieser bereits ein paar Meter durch die Luft, ohne dass er Amber ein einziges Wort hatte aussprechen hören.

Denn obwohl sie noch immer vor ihm stand und sich keinen Meter bewegt hatte, bemerkte Harry verdrossen, dass Amber ihren eigenen Zauberstab längst wieder in ihren Händen hielt. Bevor er Gelegenheit fand, auf die akute Bedrohung zu reagieren, vernahm er nun deutlich Ambers nächste Worte:

„Immobilus!"

Erschüttert stellte Harry fest, dass er weder im Stande war, sich zu bewegen noch seine Stimme zu gebrauchen. Lediglich sein Verstand kämpfte gegen die unsichtbaren Beschränkungen an, weigerte sich zu akzeptieren, was so offenkundig war: Amber stand ihrem Vater in nichts nach und er befand sich nun völlig in ihrer Gewalt.

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