Kapitel 55

Aufgewühlt landete Ginny auf dem Hof des Fuchsbaus und öffnete mit einem gedankenverlorenen Alohomora die Haustür.

„Ginny, Liebes."

Ihre Mutter steckte den Kopf in den Flur, nicht das kleinste bisschen überrascht, ihre Tochter vorzufinden, deren Ankunft ihre Uhr ihr bereits angekündigt hatte.

„Isst du noch etwas mit, bevor du zum Spiel fliegst?"

Hastig verneinte Ginny und eilte fast getrieben die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, wo sie die Tür mit einem Ruck hinter sich zuwarf. Einst ihrem Bruder Percy gehörend hatte Ginny das Zimmer längst zu ihrem gemacht. Ein großes Plakat der Holyhead Harpies an der Wand kündete von ihrer nicht endenwollenden Begeisterung für Quidditch, für deren Ausübung Ginny zu ihrem Leidwesen im Moment einfach zu wenig Zeit fand.

Anders als zu Percys Zeiten leuchteten Teile der Zimmerwände in einem satten Moosgrün und die herumliegenden Kleidungsstücke machten deutlich, dass Ginny völlig andere Gene als ihr älterer Bruder mitbekommen hatte, der schon immer ein Ausbund an Ordnung und Organisation gewesen war. Doch im Moment stand ihr nicht der Sinn nach derlei grüblerischen Gedanken.

„Hermine, was bei Merlin tust du bloß?"

Ginny fluchte es laut, unfähig, die Unruhe, die in ihr brannte, zurückzuhalten. Raschen Schrittes ging sie zum Fenster und stützte sich auf das Sims. Von hier oben hatte sie einen schönen Blick auf ihren Hof und die ihn umgebenden Felder, die das erste Frühlingsgrün präsentierten. Aber selbst diese Aussicht vermochte sie nicht zu beruhigen.

Hermine war schon immer eigensinnig gewesen, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und meist berichtete sie erst dann von ihrem Vorhaben, wenn sie alle Schritte schon genau durchdacht hatte. Wie auch jetzt. Ginny hatte keine Ahnung gehabt, dass ihre Freundin einen Plan geschmiedet hatte, der Draco Malfoy beinhaltete. Es grauste sie bei dem Gedanken daran, dass Hermine eine Zusammenarbeit mit ihm auch nur in Erwägung zog! Nie würde sie vergessen, dass es Dracos Vater gewesen war, der ihr das grauenhafte Tom-Riddle-Tagebuch untergejubelt hatte, das sie beinahe das Leben gekostet hatte!

Unruhig ging Ginny in ihrem Zimmer auf und ab. Wie konnte Hermine das bloß tun? Es ehrte Hermine zwar, dass sie sich um die Sicherheit der Muggel sorgte, aber offenbar vergaß sie dabei, dass sie selbst in Gefahr geriet. Wirklich, ausgerechnet die Malfoys!

Und was war dran an diesem Gerede von einem Zauberspruch, der den Vergessenszauber aufheben konnte? Sie hatte noch nie davon gehört, nicht mal das allerkleinste Wispern in der Aurorenzentrale. Handelte es sich um eine neue schwarzmagische Hexerei?

Seufzend sank Ginny auf ihr Bett und ließ den Kopf in die Hände fallen. Sie war sich alles andere als sicher, ob ihre Weigerung, den unbrechbaren Schwur durchzuführen, Hermine davon abhalten würde, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Soweit sie wusste, kannte Hermine niemand anderen, der dazu imstande war, dergleichen zu tun. Doch was würde Hermine stattdessen machen? Sie war keine Hexe, die schnell aufgab...

Schuldbewusst fuhr es Ginny durch den Kopf, dass sie vielleicht lieber in Hermines Nähe hätte bleiben sollen, um sie davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen. Am besten, sie redete noch einmal mit ihr... Hoffentlich war es nicht zu spät. Mit diesem Gedanken erhob sich Ginny entschlossen, griff nach ihrem Quidditch-Schal und stand kurze Zeit später schon wieder im Hof, nachdem sie ihren Eltern einen knappen Abschiedsgruß entboten hatte.

Ohne zu zögern, drehte sie sich rasch um die eigene Achse und landete schließlich direkt vor dem Häuschen ihres Bruders in Caneborough. Auf ihr energisches Klopfen hin öffnete Ron die Tür, etwas atemlos und offenbar gerade damit beschäftigt, sich in seine Quidditch-Garderobe zu schmeißen. Seine Brust zierte bereits das leuchtend orangefarbene Sweatshirt mit den beiden schwarzen ineinandergreifen C's und in der Hand hielt er eine schwarze Sporthose, die er offenbar gerade anzuziehen gedacht hatte. Ginny verdrehte die Augen und richtete ihren Blick betont von ihm fort in Richtung Sofa, während sie hereintrat.

„Muss du so an die Tür gehen, Ron?"

„Ich hab mich halt beeilt", gab Ron völlig unbeeindruckt von ihrer Kritik zurück.

„Du bist peinlich, Bruderherz", schoss Ginny zurück und drehte sich erst um, als sie aus dem Rascheln der Kleidung vernommen hatte, dass Ron in seine Hose geschlüpft war. „Wenn nun jemand anders an der Tür gewesen wäre!"

„Wer zum Beispiel? Die Zaubereiministerin?", grinste Ron und stopfte sein rotes Haar unter die schwarze Mütze mit dem Chudley-Cannons-Emblem.

„Ernsthaft, die wird hier nicht ohne Voranmeldung auftauchen. Und eigentlich habe ich Harry erwartet."

Ginny zuckte zusammen. Sie hatte Harry in letzter Zeit erfolgreich aus ihren Gedanken verdrängt, was nur funktionierte, weil sie rigoros darauf achtete, ihm nicht irgendwo zu begegnen. In der Aufregung um Hermine war ihr jedoch entfallen, dass Ron und Harry für gewöhnlich gemeinsam zu den Spielen der Chudley Cannons gingen.

„Wann?", fragte sie beklommen und überraschenderweise war Ron heute sensibel genug, ihren Stimmungswechsel zu bemerken, denn er warf Ginny einen ungewöhnlich mitfühlenden Blick zu. Dabei bemerkte Ginny, dass Ron unter seiner äußeren Fröhlichkeit einen etwas mitgenommenen Eindruck machte.

„Jederzeit", erwiderte er und drehte sich angesichts ihrer forschenden Miene hastig weg. „Übrigens ohne Amber."

Ginny beschloss, diesen Hinweis zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was nun wichtig war und was gleichzeitig dafür sorgen würde, dass sie Harry nicht unter die Augen treten musste.

„Ich wollte sowieso zu Hermine", verkündete sie energisch und sah sich in der Stube um. „Wo ist sie?"

Ron murmelte etwas, das Ginny nicht verstand. Ohne den einfachen Weg eines Aufrufzaubers zu nehmen, widmete er sich nun intensiv der Suche nach seinem Lederarmband, das er immer als Glücksbringer mit zu den Spielen der Cannons trug, und kehrte seiner Schwester den Rücken zu.

„Ron?"

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Ginny und einen kurzen Moment hielt sie inne, bevor sie sich mit ein paar raschen Schritten Ron in den Weg stellte und ihn damit zwang, sie anzuschauen.

„Was ist los, Ron?!", wollte sie wissen und hatte für einen Augenblick das Risiko, auf Harry zu treffen, völlig vergessen.

„Nichts", erwiderte Ron knapp und wirkte dabei genau so überzeugend wie George, wenn sich dieser vergeblich um Lässigkeit bemühte, sobald die Rede auf seinen verstorbenen Zwillingsbruder kam.

„Wir hatten vorhin einen kleinen Streit, aber nicht der Rede wert", wurde Ron dann doch konkreter, mit einer Stimme, die Leichtigkeit vortäuschen sollte. Schnell wandte er sich ab und ließ seine Augen erneut durch die Raum streifen, um das gesuchte Lederarmband zu finden.

„Sie wollte noch etwas an die frische Luft. Schätze, sie hat vergessen, wann ich das Haus verlasse..."

Rons Stimme war immer leiser geworden und verstummte schließlich ganz. Ginny wurde augenblicklich klar, dass es der falsche Zeitpunkt war zu erzählen, wo und mit wem sie Hermine vorhin gesehen hatte. Es reichte, dass sie selbst sich Gedanken machte und es brachte nichts, Rons offensichtliche Stimmung noch weiter in den Keller zu befördern.

„Accio Lederarmband", gab Ron inzwischen von sich, offenbar entschlossen, keinen weiteren Einblick in sein Seelenleben zu gewähren, und nachdenklich beobachtete Ginny, wie eine Schublade aufflog und sich das gesuchte Teil in schwankendem Flug in Rons Hand begab. Er hängte es sich um den Hals und es war, als hätte er damit ein Signal gesetzt.

„Ich denke, ich gehe dann mal. Du willst ja auch gleich los."

Mit raschen Worten verabschiedete Ginny sich von ihrem Bruder und wünschte seinen Team noch viel Erfolg fürs Spiel. Sie hatte es nun eilig und war gerade im Begriff, die Haustür hinter sich zu schließen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Zu spät, seufzte sie im Stillen, und verwarf den Gedanken als ihrer unwürdig, so zu tun, als hätte sie Harry noch nicht bemerkt. Mit ausdrucksloser Miene drehte sie sich zu ihm um und trat die beiden Stufen hinunter.

Harry war gerade von seinem Besen gestiegen, der, noch von Harrys Hand gehalten, nun reglos neben ihm in der Luft schwebte. Im Gegensatz zu Ron hatte es Harry bei einem einzigen orangefarbenen Schal belassen, um seine Sympathie mit den Cannons auszudrücken. Sein schwarzes Haar war auf altbekannte Weise vom Wind verwuschelt und er hatte wieder die selbstsichere Ausstrahlung des Mannes, in den sich Ginny einst verliebt hatte.

„Ginny", rief er überrascht und langsam breitete sich ein warmes, erfreutes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Doch bevor es seiner herzlichen Art gelingen konnte, Ginnys mühsam aufrechterhaltene Barriere zum Einsturz zu bringen, hatte sie ihm bereits ein „Bin in Eile, sorry!" entgegengeworfen. Und ohne ein weiteres Wort drehte sich Ginny um ihre Achse und tauchte direkt vorm Anchor Inn in Oxford wieder auf.

Von einer kurzen Schwäche befallen lehnte sie sich an den Stamm eines Baumes vor dem Pub und atmete tief durch. Einen Moment lang betrachtete sie trübsinnig die schmutzig-grauen Fenster des Pubs, die weder Tageslicht hineinließen noch einen Blick in das Innere erlaubten. Dann schluckte Ginny die aufsteigende Traurigkeit hinunter und besann sich auf den im vorigen Monat getroffenen Entschluss, Harry aus ihren Gedanken zu verbannen. Und, bei Merlin, es gab jetzt eindeutig Wichtigeres zu tun.

Die Auseinandersetzung zwischen Hermine und Ron hatte Ginny nicht besonders überrascht, sie hatte schon länger in der Luft gelegen. Ginny konnte nur mutmaßen, was der Anlass gewesen war. Was sie jedoch ahnte, war, dass Hermines stures und leichtsinniges Beharren auf ihrem Plan darauf zurückzuführen war, dass sie Ron etwas beweisen wollte. Allein das war vermutlich der Grund dafür, dass Hermine nun jede Vorsicht in den Wind geworfen zu haben schien. Ginny seufzte und ihr war klar, dass es im Moment unmöglich sein würde, Hermine von ihrem Vorhaben abzubringen, selbst wenn sie wüsste, wo sich Hermine gerade aufhielt.

Allerdings war da immer noch Malfoy... Ginny war sich nicht sicher, ob die Angst, die sie um Hermine spürte, gerechtfertigt war oder einfach nur einem schlichten Vorurteil entsprang. Doch wenn sie schon nicht in der Lage war, Hermine zu stoppen, so konnte sie zumindest versuchen herauszufinden, wie gefährlich Draco tatsächlich war.

Es musste in der Tat einen guten Grund dafür geben, dass die Auroren Narcissa Malfoy nichts zum Tod ihrer Schwester mitgeteilt hatten. Der Tod von Bellatrix Lestrange war schon so lange her, dass die Auroren mittlerweile etwas herausgefunden haben mussten. Alle Erkenntnisse wurden in der Aurorenzentrale genauestens dokumentiert und archiviert, später vermutlich sogar myristiziert, und sie brauchte daher lediglich jemanden, der in der Lage wäre, ihr diesen Einblick zu gewähren... oder der ihr etwas über Narcissa und Draco Malfoy sagen konnte.

Langsam schritt Ginny auf die Aurorenzentrale zu und ging im Stillen die Möglichkeiten durch, die sich ihr boten. Andrew McPerson, ihr Ausbilder, befand sich gerade im Urlaub in Spanien und war daher nicht greifbar. Kingsley Shacklebolt, der Leiter der Aurorenzentrale, kannte sie von ihrem gemeinsamen Kampf gegen Voldemort. Ginny zweifelte zwar nicht daran, dass dieser bereit wäre, ihr die gewünschten Informationen zu geben, nahm aber trotzdem von diesem Gedanken Abstand. Shacklebolt würde wissen wollen, wofür sie diese Informationen brauchte...

Somit blieb lediglich Marc übrig. Es widerstrebte Ginny, ihren Ex-Freund darum zu bitten, ihr möglicherweise als geheim klassifizierte Erkenntnisse mitzuteilen, auch wenn sie im Guten auseinandergegangen waren. Womöglich würde er sich dann wieder Hoffnungen machen, was zu einer Komplikation führen würde, die sie nicht brauchen konnte.

Unschlüssig blieb sie vor den Stufen stehen, die direkt hinunter zu einem an einem Hang gelegenen kuppelartigen Gebäude führten, deren unterirdisch gelegene Räume das Herzstück der Zentrale bildeten.

Sollte sie oder sollte sie nicht...?

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