Kapitel 5

Amber spürte die Präsenz einer ihr bislang unbekannten Person vor der Tür. Einer Person, die nicht von Verzweiflung getrieben und von Kummer überwältigt ihre Beratung suchte, sondern jemand, der Entschlossenheit ausstrahlte und eine gewisse Bösartigkeit, die nicht fern ihrer eigenen geheimen Gedanken war. Angst zu empfinden lag ihr jedoch fern, im Gegenteil, das Gefühl eines möglichen Duells beflügelte sie geradezu und mit einem wortlosen Zauberspruch, allein durch die Kraft der Gedanken hervorgebracht, sorgte sie dafür, dass die Haustür langsam aufschwang.

Der eigens hervorgerufene Lichtkegel offenbarte in der Dunkelheit des Abends eine Hexe mit einer langen Mähne an krausen Korkenzieherlocken, die ihr ungebändigt bis zur Brust hinab fielen, und dunklen Augen, die sie unglaublich intensiv anstarrten.

Anstatt etwas zu sagen, ließ die Fremde ihren Blick begierig, fast provokant, über Amber wandern, was diese verärgert mit einem Elektrisierungszauber konterte. Ihre Besucherin zuckte angesichts des kurzen, aber schmerzhaften elektrischen Schlages zusammen und ihre Augen verengten sich zusehends, als sie Amber nun ins Gesicht blickte. Kurz war es, als husche etwas wie Ehrfurcht über ihre Miene, doch sie wich trotz des alles andere als willkommen heißenden Fluchs keinen Schritt zurück.

„Kennen wir uns?", wollte Amber kühl wissen, und starrte die Hexe vor ihr mit ausdruckslosen Augen an, während sie in ihre Gedanken eindrang, so leicht, als führe sie mit dem Messer durch einen Laib Brot. Zuerst nahm sie nur deren Emotionen wahr, eine Mischung aus Aufregung, Neugier, Befriedigung – und Furcht, was Amber mit Genugtuung erfüllte. Das würde ihre Besucherin lehren, Distanz zu wahren. Auf das, was sie dann jedoch deren Gedanken entnahm, war Amber nicht gefasst und unwillkürlich geriert ihre Konzentration ins Wanken. Das konnte nicht sein!

Schock und Fassungslosigkeit bemächtigten sich ihrer und sekundenlang war sie voll und ganz damit beschäftigt, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu behalten.

„Ja, das tun wir", erwiderte die Hexe im gleichen Augenblick, mit einer Stimme, die beinahe herrisch zu nennen war, „Ich würde es begrüßen, wenn wir alles Weitere drinnen erörtern könnten."

Leicht benommen hieß Amber die fremde Hexe willkommen und ließ nach ihrem Eintreten die Tür so ruckartig zuschlagen, dass die Vibrationen im Haus nachhallten. Ihre Eltern waren tot, gestorben in ihrem vierten Lebensjahr bei einem nicht näher definierten Unglück in den Berggipfeln des Himalaya. Und dennoch stand jetzt hier eine Frau vor ihr, die überzeugt davon war, ihre Mutter zu sein!

Für einen Moment maßen sich beide Hexen mit stummen Blicken und Amber suchte nach etwas Bekanntem, nach etwas, das ihre Erinnerungen weckte, schließlich hatte sie die ersten Lebensjahre bei ihren leiblichen Eltern verbracht. Doch da war nichts, weder das Äußere ihrer Besucherin noch ihr Verhalten gaben Amber das Gefühl von Bekanntheit. Konnte es sein, dass sich die Hexe komplett irrte? Doch wenn nicht...

Ohne dass sie es sich anmerken ließ, ergriff eine freudige Aufregung von Amber Besitz und sie dirigierte die Besucherin mit einer Stimme, die weder Wärme noch Kälte in sich barg, in den Salon, wo sie sich nach außen hin lässig an das Terrarium lehnte. Unvermittelt schlängelten sich zwei Schlangen aus ihrer Höhle, die den Aufruhr ihrer Herrin spürten, von Amber jedoch ignoriert wurden. Würde sie gleich erfahren, wem sie ihre besonderen Fähigkeiten verdankte?

Mit äußerster Willenskraft verbarg Amber die Neugier in ihrem Blick und ließ ihre Augen erst über das spitzenbesetzte, schwarze Gewand gleiten, das ihre Besucherin trug und sie als Angehörige der britischen Noblesse kennzeichnete, und blieb anschließend an deren Gesicht hängen. Ihre runden Gesichtskonturen hatten etwas Puppenhaftes an sich, kontrastierten jedoch mit der langen graden Nase und einem Mund, dessen Proportionen angesichts der übrigen Gesichtszüge ein wenig überraschten und die ein harmonisches Ganzes verhinderten.

Am Auffallendsten waren die dunkle, krause Löwenmähne, die das Gesicht umgab, und die dunklen Augen, in denen etwas wie Unbeherrschtheit und leichtem Wahnsinn loderte, das nur darauf zu warten schienen hervorzubrechen. Amber fühlte sich sofort abgestoßen von dem Mangel an Kontrolle, der daraus sprach, weit entfernt von ihrer eigenen Selbstbeherrschung, und sie verachtete die Hexe vor ihr dafür. Nichts an dem, was diese bislang – bewusst und unbewusst – offenbarte, sprach für eine Verwandtschaft. Dennoch mochte der Besuch dieser Hexe die Chance bieten, etwas über ihre Vergangenheit zu erfahren.

Erneut konzentrierte sich Amber auf die Gedanken ihrer Besucherin, deren fester Glauben, sich bei ihrer Tochter zu befinden, alle anderen Gedanken in den Hintergrund schob. Sie hatte inzwischen ihren Blick von Amber abgewandt und nahm sich die Zeit, sich ausgiebig im Raum umzusehen, ohne die Befriedigung zu verbergen, die sie dabei empfand. Als sie die Schlangen gewahrte, die sich unruhig über den Boden des Terrariums schlängelten, glitt ein wissendes Lächeln über ihr Gesicht und mit überraschend sanfter Stimme angesichts ihrer bisherigen paar Worte wollte sie wissen:

„Sprichst du Parsel?"

„Wer will das wissen?", erwiderte Amber kalt und spielte mit dem Zauberstab in ihren Händen.

Die fremde Hexe fixierte Amber einen Moment lang mit funkelnden Augen, bevor sie mit einer Bewunderung, die dem galt, über den sie sprach, zurück gab:

„Dein Vater konnte Parsel sprechen."

Ein Blick größter Verehrung flog dabei über ihre Miene und gleichzeitig sandte sie eine freudige Erwartung darüber aus, wie Amber ihre Aussage aufnehmen würde.

„Sie kannten meinen Vater?", zeigte sich Amber reservierter als ihre Besucherin erwartet hatte, deren Enttäuschung sich in den schmollend zusammengepressten Lippen äußerte. Gleichzeitig brannte Amber jedoch darauf, nun mehr von dem Zauberer zu erfahren, der wahrscheinlich derjenige war, dessen Gene sie hauptsächlich in sich trug. Nicht ohne Absicht schob Amber wie nebenbei ihren Arm in das Terrarium, so dass sich eine der Schlangen darum wand, die dann leise züngelnd der fremden Hexe entgegen sah.

Kurz abgelenkt durch den Anblick, der sich ihr bot, verharrte die Hexe regungslos und fixierte die Schlange auf Ambers Arm. Amüsiert über die Angst, die ihr Gast plötzlich ausstrahlte, begann Amber mit der anderen Hand sanft über die glatte Haut der Schlange zu streichen, während sie in den Gedanken der Besucherin die Frage nach der Gefährlichkeit ihres Haustieres las, mit dem gleichzeitigen Entschluss, ihre Furcht zu verbergen und nicht zurück zu weichen, gefolgt von der widerwilligen Bewunderung wie der Dunkle Lord.

Damit hatte sie nun Ambers volle Aufmerksamkeit, denn hierin schien der Schlüssel zu ihren Fähigkeiten zu liegen, die sie ganz offensichtlich nicht von ihrer Mutter geerbt hatte. Die fremde Hexe zog es vor zu schweigen, sie visierte weiterhin die Schlange, die sich in einer fließenden Bewegung um Ambers Arm schlängelte wie ein silbern schimmerndes Band, bis Amber sie mit einem leisen Zischen zur Ruhe rief.

Das Sprechen in Parsel, oder vielleicht war es auch der Gedanke an den dunklen Lord, schien plötzlich etwas in Ambers Gast zu verändern. Es war, als würde eine bisher sperrangelweit offen stehende Tür geschlossen, und Amber nahm nur noch eine Leere in den Gedanken der Hexe vor ihr wahr. Ganz offensichtlich schien diese die Fähigkeit zur Okklumentik zu besitzen.

Ausgeschlossen von deren Gedanken entschloss sich Amber nunmehr zu einer reservierten Freundlichkeit. Sie setzte die Schlange zurück ins Terrarium und wollte erneut wissen:

„Sie kannten meinen Vater?"

Die Hexe vor ihr, der man nicht mehr ansehen konnte, ob sie Erleichterung angesichts des Verschwindens der Schlange ins Terrarium empfand, straffte die Schultern und erwiderte mit würdevoller Stimme, der eine gewissen Arroganz nicht abzusprechen war:

„Das sollte man meinen. Ich bin Bellatrix Lestrange, deine Mutter."

Gespannt harrten ihre Augen auf Amber und nahmen jede Reaktion wahr. Diese hielt jedoch ihre Aufregung im Zaum, zog nur die Augenbrauen hoch und gab ohne jede Emotion zurück:

„Meine Eltern sind bei einem Unglück in den Bergen zu Tode gekommen."

„Wer hat das gesagt?", brach es mit solcher Wut aus Bellatrix heraus, dass ihre Antwort fast einem Zischen glich.

Wieder schüttelte es Amber innerlich angesichts dieser offen zur Schau gestellten Emotionen. Wie konnte diese Frau nur ihre Mutter sein! Äußerlich jedoch gelassen erläuterte sie die Informationen, die sie einst von ihren Adoptiveltern erfahren hatte, die mangels weiterer Details seitens der Adoptivbehörde von genau diesem Sachverhalt überzeugt gewesen waren. In der auch nach außen hin sichtbaren Wut verlor Bellatrix für einen Moment ihre Konzentration, so dass Amber die volle Aggression ihrer Gedanken wahrnahm: Wie konnten sie es wagen!!!

„Das ist eine verdammte Lüge!", fauchte Bellatrix dann. „Das verfluchte Ministerium hat dich mir weggenommen!"

Ihre ganze ruhige Haltung war dahin, sie schien geradezu vor Emotionen zu beben, die ihr Gesicht zu einer wutverzerrten Fratze geraten ließ. Amber betrachtete sie mit einer zurückhaltenden Neugier, wie man sie einem Insekt entgegen brachte, das man nicht sonderlich mochte, und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Gibt es einen Beweis dafür?", erkundigte sie sich mit ruhiger Stimme und hoffte darauf, mehr über den noch unbekannten Vater als über die erregte Hexe vor sich zu erfahren.

„Accio Geburtsurkunde."

Mit hektischer Geste zauberte Bellatrix ein Dokument in ihre Hand und streckte es Amber auffordernd entgegen. Es handelte sich um ein zusammengerolltes Pergament, das nach dem Ausrollen leichte Risse und braune Altersflecken aufwies. Doch in dunkler Tinte noch gut lesbar enthüllte es die Geburt eines Kindes namens Amanda Lestrange, Tochter des Paares Bellatrix und Rodolphus Lestrange, geboren vor dreiundzwanzig Jahren in Bury St Edmonds in England.

Amanda. Der Name verursachte einen Widerhall in Ambers Gedanken und wie ein Blitz durchfuhr sie eine jähe Erinnerung an ein scharf gezischtes Amanda! Schau genau hin!, ohne dass sie ein Bild, geschweige denn ein ganzes Erlebnis daran festmachen konnte. Mit einem Mal spürte sie die Wahrheit, die aus diesem unscheinbaren Papier sprach, die Wahrheit, die ihr Besuch gekommen war zu übermitteln. Ambers Hand krallte sich unwillkürlich um das Papier in ihrer Hand, das dadurch sofort zerknitterte, und für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, ihr bliebe die Luft weg. Wütend über die Schwäche ihres Körpers riss sie sich mit der Kraft ihrer Gedanken zusammen und zwang sich zu einer ruhig gestellten Frage an Bellatrix, die sie mit gespannter Aufmerksamkeit nicht aus den Augen gelassen hatte.

„Was ist mit meinem Vater passiert?"

„Das..." Bellatrix' manikürter Fingernagel wies wie anklagend auf das Pergament, Verachtung tränkte ihre Stimme, „...ist nicht dein Vater."

Dann legte sich ein leicht verklärter Ausdruck auf Bellatrix' Miene, der ihren Gesichtszügen eine überraschende Weichheit verpasste, und mit einer Stimme, der man Ehrfurcht und Hingabe anhörte, fuhr sie fort:

„Du bist die Tochter von Lord Voldemort, dem brillantesten Zauberer, den unsere Welt je erlebt hat."

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Nun sind also Mutter und Tochter erstmals nach langer Zeit wieder aufeinander getroffen. Da würde mich einmal interessieren:

Was haltet ihr von Amber?

Wie empfindet ihr Bellatrix' Gefühle gegenüber ihrer Tochter?

Liebe Grüße, Sunflower


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