Kapitel 48

Der Blick, den Ron ihm zuwarf, war finster, was aber mutmaßlich nicht an Harry lag. Jedenfalls wusste Harry nicht, was Rons schlechte Laune verursacht haben könnte, wenn man mal davon absah, dass Ron heute außergewöhnlich viele Tore kassierte. Allerdings war Ron schon den ganzen Nachmittag gereizt gewesen und auch das geplante Quidditchspiel auf dem Gelände des Fuchsbaus, das er kürzlich selbst vorgeschlagen hatte, hatte seine Stimmung nicht heben können.

„Schwächelst du etwa, Ronny?", foppte ihn dessen Bruder George und machte Anstalten, erneut den Quaffle in einen der Ringe zu schleudern. Aufreizend flog er mit seinem Besen von einer Seite zur anderen.

„Halt den Mund, George!", zischte Ron und lauerte in aggressiver Haltung auf dessen Angriff.

„Mir reicht's für heute, Jungs, hab noch was fürs Büro vorzubereiten!", ließ sich Percy vernehmen und zischte elegant an Harry vorbei nach unten, wo er sanft auf dem Stoppelfeld hinter dem windschiefen Haus seiner Eltern aufsetzte. Nicht zum ersten Mal fragte sich Harry, wie lange die obere Spitze des Fuchsbaus noch standhalten würde. Sie neigte sich langsam äußerst bedrohlich nach links und auch mehrere Reparaturversuche von Mr. Weasley hatten die Gefahr nicht bannen können.

Gut war lediglich, dass der Dachboden und das kleine Zimmer darunter schon längst nicht mehr bewohnt waren.  Die anderen Räume, die in Gefahr standen etwas abzubekommen, waren längst mit einem Schutzzauber versehen worden, so dass den Bewohnern nichts passieren konnte. Langsam ließ Harry seine Augen an der Mauer des Turms entlanggleiten, bis sie auf genau der Höhe waren, an der er das Zimmer von Ginny vermutete.

Sie war heute nicht zu Hause, wie Mrs. Weasley ihnen bewusst beiläufig mitteilte, nachdem sie Harry bei seiner Auskunft erst einmal ausgiebig umarmt hatte. Bei der Erinnerung daran musst Harry grinsen, denn schon kurz nach seinem Start in Hogwarts hatte sie quasi eine Art Mutterrolle für ihn übernommen. Genauso wie ihren Söhnen und Ginny hatte sie Harry an jedem Weihnachtsfest mit einem selbstgestrickten Pullover bedacht und sich zusammen mit Bill, dem ältesten der Weasley-Söhne, die letzte Prüfung des Trimagischen Turnieres angesehen, in dem Harry einer der Champions gewesen war.

„Dann hören wir eben auch auf", entschied Ron missmutig, zum Leidwesen von George, der ein enttäuschtes Gesicht machte. Sie sanken rasch auf den Boden und nachdenklich folgte Harry den beiden Brüdern und beobachtete, wie Ron mit großen Schritten zum Schuppen stapfte, als könne er es nicht erwarten, größtmöglichen Abstand zu George herzustellen, der ihm heute die meisten Tore verpasst hatte.

Mit hochgezogener Augenbraue sah sich George zu Harry um, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und murmelte:

„Er war schon vorher nicht gut drauf gewesen."

Was bedauerlich war, da sie heute seit langem mal wieder die Gelegenheit gehabt hatten, mit vier Spielern Quidditch spielen zu können. Es kam nicht so oft vor, dass sich mehrere von Rons Brüdern zur selben Zeit im Fuchsbau einfanden.

„Ah, das erklärt seine miserable Haltequote", befand George in eine Stimme, als kümmere ihn dies nicht besonders.

„Was macht der Laden?", wollte Harry wissen, den Blick auf Ron gerichtet, der soeben seinen Besen im Schuppen verstaute.

„Kann nicht klagen, die Geschäfte laufen gut", grinste George, bevor plötzlich ein Schatten über sein Gesicht fiel. Harry vermutete, dass er an seinen verstorbenen Zwillingsbruder dachte, mit dem er seinerzeit den Scherzartikelladen in der Winkelgasse begonnen hatte.

Sie waren nun ebenfalls am Schuppen angekommen und stellten ihre Besen hinein. Ron stand mit verschränkten Armen neben die Tür gelehnt da und schien offenbar auf Harry zu warten. Seinen Bruder ignorierte er. George hatte es nun eilig, ins Haus zu kommen, und so blieben Ron und Harry allein im Hof. Einige Schneeglöckchen hatten bereits den Kopf aus der Erde gestreckt und ihr Anblick führte Harrys Gedanken unweigerlich zu Ginny.

Sie mochte Blumen und nicht selten hatte sie sich ausgelassen eine Blüte ins Haar gesteckt. Nicht dass sie dort lange hängengeblieben war, Ginny war einfach zu temperamentvoll in ihren Gesten, als dass eine Blume oder sonstiger Haarschmuck sich dort länger hätte halten können. Harry war nicht überrascht, dass es Ginny heute vorgezogen hatte, ihm aus den Weg zu gehen, bedauerte es aber, keine Gelegenheit zu haben, mit ihr reden zu können.

Ron stieß sich vom Schuppen ab, gerade als Percy direkt über seinem Kopf ein Fenster öffnete und ihm laut zurief:

„Warte mal, Ronald! Ich mach mich gleich auf den Weg und muss vorher noch eine Ministeriumsangelegenheit mit dir besprechen." Ron warf Harry eine Grimasse zu, ohne dass Percy diese bemerkte, während Harry fragend zu Rons älterem Bruder hochsah. Doch dieser schüttelte den Kopf zu Harrys unausgesprochener Frage und setzte dann kurz hinzu:

„Betrifft Quidditchspiele. Warte, bin gleich da."

Es dauerte nur ein paar Sekunden und schon war Percy auf den Hof appariert und stand direkt vor Ron. Ron steckte demonstrativ desinteressiert die Hände in die Hosentaschen und warf Percy einen genervten Blick zu.

„Mach es kurz, Percy!"

Harry wandte den beiden den Rücken zu und ging ein paar Schritte in Richtung Garten. Unterhaltungen mit Percy konnten bisweilen etwas anstrengend sein und er legte daher keinen Wert darauf, zuzuhören und doch noch einbezogen zu werden.

Zurückgeworfen auf seine eigenen Gedanken starrte er in die Ferne, wo ein leichter Grauschleier in der Luft davon kündete, dass die Dämmerung nicht mehr fern war. Mit nichts, was ihn ablenken konnte, kam Harry nicht umhin, darüber nachzudenken, was ihn schon auf dem Flug zu Ron beschäftigt hatte...

---------------

Anders als an sonstigen Samstagen war Amber gestern alleine unterwegs gewesen, um in ihrer Praxis ein paar Unterlagen aufzuräumen, und sie hatte Harrys Vorschlag, sie zu begleiten, mit einem schelmisch lächelnden „Du würdest mich nur ablenken und dann komme ich zu nichts", abgewehrt. Der vage Gedanke war durch Harrys Kopf gezogen, dass es vielleicht mal Zeit wäre, sich mit Neville, Dean oder Seamus zu treffen – das letzte Mal hatte er sie vor Jahren gesehen. Doch er war fern davon, diese Idee spontan in die Tat umzusetzen. Nicht nach so langer Zeit... Er traf sich ja mit Ron und Hermine ( letztere weniger, seit sie beim Flügelschlag arbeitete ), und das war im Moment schon irgendwie genug...

Amber hatte ihn mit einem dieser intensiven Blicke angesehen, die sie manchmal an den Tag legte. Blicke, die dann bald unweigerlich in gewisse Beschäftigungen übergingen, die Harry schnell alle Gedanken vergessen ließen, die sich nicht um die attraktive Hexe an seiner Seite drehten. Gestern war es jedoch anders gewesen, Amber hatte sich lediglich mit einem kurzen Abschiedskuss verabschiedet.

Alleinsein war etwas, das Harry viele Monate lang allem anderen vorgezogen hatte. Jetzt jedoch stellte sich völlig unerwartet eine gewisse Langeweile ein und er machte sich daher auf die Suche nach dem Buch, das Amber vor einiger Zeit gekauft hatte, Quidditch und Football – ein unlösbarer Konflikt. Er fand es schließlich eingeklemmt zwischen zwei dicken Psychologiewälzern und zerrte es energisch heraus, was dazu führte, dass nun weitere Bücher polternd auf den Boden fielen.

Da sich Harrys Zauberstab dort befand, wo er ihn immer zu Hause ablegte, auf der Kommode neben seinem Bett, entschloss er stirnrunzelnd, die Bücher per Hand wieder einzusortieren. Wie bequem doch alles mit Magie geworden ist, dachte er und ein Schmunzeln zog über sein Gesicht, während er Anstalten machte, das erste Buch wieder in die entstandene Lücke im Regal zu stopfen.

Dann hielt er überrascht inne. Den Augen bislang verborgen entdeckte er ein paar Bücher, die zwischen die vordere Buchreihe und die Wand gepresst waren. Neugierig zog er ein Buch nach dem anderen heraus und besah sich die Titel:

Harry Potter - Der Auserwählte.

Albus Dumbledore und Harry Potter – berühmte Magier unserer Zeit.

Machtvolles Baby. Der Unerwünschte Nummer eins. Held – Das Leben und Wirken von Harry Potter.

Harry Potter und Voldemort – eine unheilvolle Verbindung.

Vom Muggelkind zum Helden. Harry Potter.

Die Macht der Abstammung am Beispiel Harry Potters.

Harry Potter: Ein Leben im ständigen Kampf gegen Voldemort.

Seine anfängliche Überraschung war bald einem Stirnrunzeln gewichen. Natürlich wusste Harry, dass Bücher über ihn verfasst worden waren, auch wenn er nie auch nur eines davon gelesen hatte. Doch die schiere Menge verblüffte ihn. Er kannte nur die beiden Bücher, die über Ron, Hermine und ihn geschrieben worden waren. Er lugte noch einmal in die dunkle Ecke des Regales hinein, doch die Abhandlungen über das Goldene Trio, wie man sie oft nannte, fehlten.

Verwirrt nahm er Harry Potter und Voldemort – eine unheilvolle Verbindung in die Hand und durchblätterte es langsam. Das Buch wies deutlich Spuren von regem Gebrauch auf, leichte Knicke in einigen Seiten und hie und da ein paar dunkle Flecken, die auf Spuren angerußter Finger schließen ließen. Eines der Kapitel schien sich mit seiner Fluchnarbe zu beschäftigen. Ein anderes mit seinem und Voldemorts Zauberstäben, die unfähig gewesen waren, sich gegenseitig schwer zu schaden.

Wer, bei Merlin, wusste eigentlich davon und hatte es dem Autoren berichten können? Einer der Todesser auf dem Friedhof, auf dem er einst um sein Leben gekämpft hatte? Gab es erneut wieder welche, die nicht in Azkaban gelandet waren?

Auch das nächste Buch, über sein Leben und Wirken, wie es pompös hieß, hatte nichts von der buchartigen Jungfräulichkeit, wie sie Bücher eigen ist, die noch im Buchladen liegen. Vom Zustand seines Einbandes zu schließen war es offenbar mehr als einmal gelesen worden. Noch verwirrter als zuvor ließ Harry es langsam wieder sinken.

Selbstverständlich war nichts Verwunderliches an der Tatsache, dass Amber über ihn Bücher gelesen hatte. Was Harry aber stutzen ließ war die Tatsache, dass all diese Bücher über ihn verborgen im hintersten Winkel von Ambers Bücherregal gesteckt hatten. Und dass Amber nie davon erzählt hatte, dass sie sich in Bücher über ihn vertieft hatte. Was, wie man durchaus hätte erwarten können, einen kurzen Hinweise wert gewesen wäre.

-----------------------------

Harry hatte Amber noch am gleichen Abend dazu angesprochen. Ambers Miene hatte weder Überraschung noch Irritation preisgegeben.

„Ja sicherlich habe ich sie gelesen", hatte sie leichthin erwidert und absolut überzeugend klingend hinzugefügt:

„Und das hatte ich dir auch erzählt." Und mit einem Augenzwinkern hatte sie ergänzt:

„Wie kannst du nur so etwas vergessen?!"

Und in der Tat hatte sich Harry genau das auch zu fragen begonnen. Denn er hatte gestern Abend nicht daran gezweifelt, dass diese Information schlicht und einfach aus seiner Erinnerung verschwunden gewesen sein musste. Jetzt jedoch, mit fast einem Tag Abstand, war Harry längst nicht mehr davon überzeugt, dass er solch eine Mitteilung einfach vergessen hätte. Nicht bei einer Anzahl von sieben Büchern!

Wieso behauptete es Amber dann? War es ihr lediglich unangenehm? Oder steckte mehr dahinter?

Auch die Begründung, keinen Platz mehr für all die Bücher gehabt zu haben, erwies sich bei heutiger Betrachtung als viel weniger glaubhaft, als Harry es noch gestern Abend empfunden hatte. Kopfschüttelnd starrte er auf den dunkler werdenden Himmel vor sich. Er selbst hatte so wenige Bücher, dass sich das ein oder andere Plätzchen problemlos gefunden hätte.

„Endlich!", schnaufte Ron und tauchte an seiner Seite auf. Er zog noch immer eine sauertöpfische Miene, womöglich sogar mehr als vor dem Gespräch mit Percy, und begann ohne weitere Einleitung abrupt mit einer Beschwerde über ältere Brüder im Allgemeinen und seinen Bruder im Besonderen. Harrys Gedanken schweiften unwillkürlich ab und drehten sich erneut um Ambers merkwürdige Aussage.

Sollte er Ron davon erzählen? Oder machte er lediglich aus einer Mücke einen Elefanten?


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top