Kapitel 44

Hermine hat da nicht Unrecht, ging es Ginny nachdenklich durch den Kopf, während sie ihre Hände miteinander verflocht. Andererseits könnte die Strafverfolgung von so einer Möglichkeit profitieren... Viele Maßnahmen waren nicht eindeutig schwarz oder weiß, sondern hatten oft zwei Seiten. Die Anwendung des Wahrheitstrankes Veritaserum zum Beispiel war strengstens untersagt. Nur wenn ein Leben auf dem Spiel stand, durfte er angewandt werden...

Sie sah wieder hoch und gab zu bedenken:

„Gerade um zu verhindern, dass dunkle Magier wieder einmal die Macht ergreifen, wäre diese Möglichkeit vielleicht gar nicht so verkehrt..."

Die Unterstützung ihres Bruders bescherte Ginny einen kühlen Blick seitens ihrer Freundin, doch sie quittierte diesen nur mit einem Achselzucken und einem betont freundlichen Lächeln.

„Genau, Gin!", stimmte Ron enthusiastisch zu. „Außerdem hätte man dann gewusst, wer von diesen Verdächtigen sich wirklich in der Nähe der Opfer befunden hat."

Er schien entschlossen, die Diskussion als Sieger beenden zu wollen, denn anders als Hermine hatte er wenig Hemmungen, vor seiner Familie mit seiner Freundin zu streiten. Um von dem strittigen Thema abzulenken, fügte Ginny forsch hinzu:

„Die Auroren gehen übrigens von mehreren Tätern aus."

„Bei Merlin!", entfuhr es Mrs. Weasley. „Woher weiß man das?"

„Das sind interne Informationen und Ginny wird sich hüten, diese preiszugeben, nicht wahr, Ginny?"

Mr. Weasley war in die Stube getreten, etwas zerzaust aussehend, als wäre er sich wiederholt durch die Haare gefahren. Mit einer gemurmelten Entschuldigung über sein spätes Hereinkommen ließ er sich in einen Sessel fallen. Ertappt verzichtete Ginny nun darauf, das preiszugeben, was sie vorgehabt hatte, und auch die Wangen ihrer Mutter verfärbten sich leicht rosa.

„Tee, Arthur?", fragte Mrs. Weasley dann unvermittelt, um keine auffällige Stille eintreten zu lassen. Auf sein erschöpftes Nicken hin schenkte sie ihm Tee ein und machte dann eine ausladende Bewegung hin zum Tisch mit den Törtchen.

„Nun, nehmt euch!"

„Endlich", murmelte Ron und ließ sich das nicht zweimal sagen. Er hatte schon den ersten Bissen im Mund, als Ginny gerade erst die Hand nach einem Törtchen ausstreckte. Mr. Weasleys berichtete unterdessen mit einem etwas frustrierten Unterton von der Eule aus dem Ministerium, die ihn eigentlich zu einem dringenden Vorfall hatte rufen sollen. Ginny wusste, dass sich ihr Vater vorgenommen hatte, sich nicht immer um alle Vorkommnisse außerhalb der Arbeitszeit zu kümmern (per sanften Druck durch ihre Mutter). Anscheinend hatte er sich jetzt tatsächlich einmal gegenüber dem Ministerium durchgesetzt.

Am Ende seines Berichts angekommen schwieg Mr. Weasley und widmete sich seinem Törtchen. Genießerisch leckte er sich einen Rest Sahne von den Lippen. Mrs. Weasley wandte sich Ron und Hermine zu und wollte unvermittelt wissen:

„Wie geht es eigentlich Harry? Ich habe ihn nun wirklich eine Ewigkeit lang schon nicht mehr gesehen." Kurz drehte sie sich zu ihrem Mann um. „Du läufst ihm ja immerhin ab und an im Ministerium über den Weg."

„Der Junge hat eben auch gut zu tun", schmunzelte Mr. Weasley und biss in sein zweites Törtchen.

„Bringt ihn doch beim nächsten Mal mit, wenn ihr kommt!", schlug Mrs. Weasley unbefangen vor. Ginny warf ihrer Mutter einen zornigen Blick zu. Das hatte ihr noch gefehlt! SIE würde dann mit Sicherheit nicht hier sein. Mrs. Weasleys fing ihren Blick auf und seufzte. „Es ist wirklich äußerst schade, dass..."

Sie bemerkte den vielsagenden Blick, den Hermine und Ron miteinander wechselten.

„Was ist los?" Sie sah von einem zum anderen und es war Ron, der ihr nun antwortete.

„Zusammen wird es wohl nichts werden", sagte er leichthin. „Hermine und Harrys neue Freundin verstehen sich nicht sonderlich gut."

„Also ehrlich!", fuhr Hermine ungestüm auf und warf Ron einen entrüsteten Blick zu. „Ich habe kein Problem, mich mit Amber zu treffen. Sie ist doch..."

„Hast du mir nicht gesagt, dass du sie merkwürdig findest?", entgegnete Ron, ohne Hermine ausreden zu lassen, und schob sich ein weiteres Stück Törtchen in den Mund. Ginny verfolgte den Wortwechsel mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann war das also nicht nur ihr eigener Eindruck gewesen. Und ihre Wahrnehmung war auch nicht durch ihre Eifersucht ausgelöst worden. Jedenfalls nicht nur.

„Ich finde ihr Verhalten etwas gewöhnungsbedürftig", widersprach Hermine spitz und hatte die Anwesenheit von Mr. und Mrs. Weasley offenbar vergessen. Ginny überhörte die Betonung in der Antwort ihrer Freundin geflissentlich und kommentierte mit hörbarer Hoffnung auf Zustimmung:

„Sie hat irgendwie etwas Unheilvolles an sich, findest du nicht?"

Hermine warf ihr einen Blick zu, machte Anstalten etwas zu sagen und schloss den Mund dann wieder. Man konnte in Hermine lesen wie in einem offenen Buch. Was hatte sie sagen wollen und es dann verworfen?

Das Klirren von Geschirr war zu hören, wie es entsteht, wenn eine Tasse auf der Untertasse abgesetzt wird, dann das Gemurmel ihrer Eltern, zu leise, als dass Ginny einzelne Worte heraushören konnte, schließlich Rons tiefere Stimme, die bruchstückenhafte Worte vermittelte: aus Amerika... ganz nett...

Hermine hielt noch immer Ginnys Blick, der Ausdruck ihres Gesichts war eine Offenbarung von Mitgefühl und Verständnis. Schau nicht so, sondern gib mir einfach Recht, Hermine!, fuhr es Ginny verstimmt durch den Kopf, doch alles, was Hermine nun sagte, war:

„Sie verhält sich mir gegenüber ein wenig schräg und das ist schade. Aber es steht mir nicht zu, sie zu kritisieren. Letzten Endes geht es nur Harry etwas an."

„Oh bitte!", Ginny verdrehte die Augen.

Es war typisch Hermine, sich so lange objektiv zu verhalten, bis die Fakten etwas anderes aussagten. Ginny hatte doch gesehen, dass Hermine vorgehabt hatte, ihr zuzustimmen. Aber anscheinend übertraf Hermines Loyalität zu Harry die Subjektivität, die ihre eigene Freundschaft jetzt erforderte.

„...wenn sie damals nicht mit Harry Schluss gemacht hätte", war die Stimme ihrer Mutter in der plötzlichen eingetretenen Stille laut und deutlich zu vernehmen. Zorn durchfuhr Ginny wie ein heißer Lavastrom und ohne sich zurückzuhalten fuhr sie ihre Eltern an:

„Könnt ihr bitte aufhören so zu tun, als sei ich nicht anwesend?! Ihr wisst einfach nicht, wovon ihr redet!"

Die Bitterkeit und Ungerechtigkeit der Situation ließen Ginnys Stimme schrill werden und sie nahm die ersten Tränen wahr, die ihr in die Augen stiegen. Daher stand sie mit einem Ruck auf  und das Tischchen, gegen das sie dabei in ihrer Hast mit dem Knie knallte, begann gefährlich zu wackeln. Tee schwappte aus einer vollen Tasse und ergoss sich über das Tischtuch. Ginny bemerkte es mit Befriedigung, obwohl es nicht beabsichtigt gewesen war, und stürmte dann laut polternd die enge Treppe hoch, bis sie ihr Zimmer erreicht hatte.

Ihre Wangen waren nass von den Tränen, die sie nun einfach laufen ließ, und verzweifelt warf sie sich auf ihr Bett. Ihr Schmerz vermischte sich mit der Wut auf alle anderen, die so klug daher redeten, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie es war, mitansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch immer mehr zum Schatten seiner selbst wurde. So oft sie an Harry dachte, sah sie sein leeres, mühsam aufrecht erhaltenes, entschuldigendes Lächeln vor sich, das nach einer Weile längst wortlos übermittelt hatte: „Lass mich einfach, Gin."

Sie erinnerte sich an das Gefühl, dass sich ihr Herz zusammenzog, weil es die Traurigkeit und Melancholie nicht ertragen konnte, die jemand ausstrahlte, der früher immer so voller Energie und Tatendrang gewesen war. Dachte an die Hilflosigkeit, die sie gespürt hatte, wenn sie wusste, dass alles, was sie versuchte hatte, nichts geholfen hatte und kein früheres Funkeln in die erloschenen Augen zurückgekehrt war.

Amber jedoch hatte Harrys Funkeln wieder zum Glimmen gebracht. Amber, die die vergangenen zwei Jahre nicht miterlebt hatte und jetzt plötzlich aufgetaucht war und mit einem gefühlten psychologischen Fingerschnipsen Harrys Leid zum Verschwinden gebracht hatte. Als wäre alles, dessen es bedurft hätte, der richtige Zauberspruch gewesen.

In ihrem Inneren wusste Ginny, dass es so einfach nicht gewesen sein konnte; sie ahnte, dass noch viel mehr passieren musste, damit Harry wieder zur Sicherheit seiner früheren Lebensjahre zurückkehren konnte. Aber verdammt, er ging wieder aus, flog seinen Besen und konnte wieder lachen.

Es war einfach nicht fair!!!

Mit bebenden Schultern lag Ginny auf der Matratze, während die widerstreitenden Gefühle in ihr wogten.

Natürlich hatte Harry es verdient, wieder glücklich zu sein. Aber warum musste es ausgerechnet durch Amber sein? Warum, warum, warum?

Ein Klopfen an ihrer Tür ließ Ginny hochschrecken und sie rollte vom Bett und zog ihren Zauberstab.

„Colloportus!" Die Tür verriegelte sich mit einem Klick.

„Ginny, mach auf!"

Ginny ignorierte Hermines Stimme und ließ sich mit angezogenen Beinen wieder auf ihrem Bett nieder. Erneut war Klopfen zu hören, dann bewegte sich die Türklinke, doch vergebens, die Tür blieb verschlossen. Ginny vertraute darauf, dass Hermine auf die Anwendung eines Öffnungszaubers verzichten würde und so war es auch, nach ein paar schweigenden Momenten und einem erneuten, bittenden „Ginny!" hörte sie schließlich Hermines Schritte die Treppe hinabsteigen und sich entfernen.

Sie holte mehrere Male tief Luft, presste die Handflächen hart aufeinander und reckte den Kopf. Wenige Augenblicke später spürte sie eine kühle Ruhe von sich Besitz ergreifen, die ihr erlaubte, die gegenwärtige Situation zu analysieren. Es gab genau zwei Möglichkeiten:

Entweder sie strich Harry für immer aus ihrem Leben und kniete sich mit Leib und Seele in die Ermittlung dieser Muggelmorde, um auf andere Gedanken zu kommen. Oder sie versuchte, um Harrys Liebe zu kämpfen und ihm zu zeigen, dass sie ihn nie aufgegeben hatte.

Dabei gab es nur ein Problem: die nagende Stimme in ihrem Hinterkopf, die darauf hinwies, dass ihre Liebe womöglich einfach nicht ausreichen würde, um Harry das Leben zu ermöglichen, das er verdient hatte. Dass er schlicht und einfach Amber brauchte, um glücklich zu sein...

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Hallo, ihr Lieben, ich hoffe, ich konnte die Atmosphäre im Fuchsbau gut rüberbringen. Familientreffen sind manchmal gar nicht so einfach.

Habt ihr Ahnung, für welchen Weg sich Ginny entscheiden wird?


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