Kapitel 24
Das Scheppern des Türklopfers riss Ginny aus ihren Überlegungen und mit Erleichterung sprang sie auf und öffnete ihrem Bruder die Tür. Ron brachte eine Woge kalter Luft in den Raum, die die kleinen Flammen im Kamin sofort ausgehen ließ, und hatte sich bereits in seinen orangefarbenen Fanschal gewickelt.
„Fertig?", wollte er aufgekratzt wissen, ohne sich mit begrüßenden Worten aufzuhalten.
„Schon seit Ewigkeiten, du fliegende Schnecke", gab Ginny kopfschüttelnd zurück und schlüpfte in ihre Stiefel. „Bin echt froh, dass du mir so kurzfristig eine Karte besorgen konntest."
„Für irgendetwas muss es ja gut sein, die Spiele zu organisieren", grinste Ron und verließ das Haus als Erster. Welke Blätter und abgerissene Zweige wurden vom Wind über den Hof getrieben, so dass Ginny die Dicke ihrer Jacke zu schätzen wusste. Rasch wickelte sie den Schal um ihr Gesicht. Bevor sie noch fragen konnte, erklärte Ron, mit durch den Stoff seines Schals gedämpfter Stimme:
„Ich habe uns einen Portschlüssel organisiert."
Er wies auf einen für einen Portschlüssel ungewöhnlich neu aussehenden Blumentopf, der halb verborgen in der Ecke des Gartens lag, in der die Weasleys im Sommer ihre Himbeeren pflückten.
„Was für ein Luxus", kommentierte Ginny angetan, froh darüber, nicht zu Fuß den Weg zum nächsten Dorf antreten zu müssen, in dessen Nähe sich üblicherweise die Portschlüssel befanden.
„Schön, dass es mal jemand zu schätzen weiß", vernahm Ginny die etwas brummig hervorgestoßenen Worte, aber bevor sie nachfragen konnte, was er meinte, hatte sich Ron bereits abgewandt und steuerte auf die Himbeersträucher zu, die jetzt im Winter nur ein klägliches Abbild ihrer sommerlichen Pracht abgaben.
Nachdenklich folgte ihm Ginny, erfüllt von einer Ahnung, dass sich seine Äußerung auf Hermine bezog, die Quidditch noch nie viel hatte abgewinnen können, zumindest von dem Zeitpunkt an, an dem sie Hogwarts und Gryffindor-Haus verlassen hatte. Vielleicht sollte sie Hermine mal einen Hinweis geben, wie sich Ron fühlte... Quidditch war ihm einfach zu wichtig, als dass er leichthin darüber hinweggehen konnte, dass Hermine ihn nie zu den Spielen begleitete.
Schon öfters hatte Ginny die Enttäuschung ihres Bruders über Hermines Desinteresse wahrgenommen. Doch wie sie Ron kannte, hatte er Hermine vermutlich nie direkt darauf angesprochen. Er hatte schon von jeher zu den Leuten gehört, die es vorzogen, darauf zu warten, dass sich unliebsame Dinge von alleine erledigten. Unwillkürlich kam ihr Lavender in den Sinn, Rons erste Freundin, bei der er sich wochenlang nicht in der Lage gesehen hatte Schluss zu machen. Bis schließlich zu seiner Erleichterung Lavender selbst die Entscheidung getroffen hatte, nachdem sie ihn und Hermine – wenngleich in absolut harmloser Situation – zusammen gesehen hatte.
Forschend sah Ginny ihren Bruder an, als sie zu ihm aufschloss, und machte Anstalten, etwas zu sagen, doch Ron warf einen bezeichnenden Blick auf die Uhr und hob abwehrend die linke Handfläche. Sie respektierte den wortlosen Hinweis und wenige Minuten später hatte sie der Portschlüssel direkt vor den Eingang zu dem in einem tiefen Tal liegenden Stadion transportiert.
Sofort erfasste Ginny die Aufregung und Begeisterung, die von den in ein Stadion strömenden Fans ausgeht. Immer wieder waren Schlachtgesänge zu vernehmen und direkt vor ihnen tanzten drei Hexen ausgelassen Arm in Arm auf den Pavillon mit den Erfrischungsgetränken zu. Als Ginny ihnen folgen wollte, hielt Ron sie zurück.
„Nicht nötig, die können wir direkt am Platz ordern."
Angesichts ihres fragenden Blickes deutete er mit dem Kinn in die Höhe und Ginny konnte unzählige Eulen ausmachen, die emsig zwischen den Rängen und den verschiedenen Pavillons hin und herflogen. Überrascht zog Ginny die Augenbrauen hoch.
„Hast du das...?"
Rons strahlender und einen kleinen Tick selbstgefälliger Gesichtsausdruck machte eine Antwort überflüssig und während sie sich auf den Weg zu den Rängen machten, gestand er mit einem Zwinkern:
„Deine Erzählung von diesen magieähnlichen Geräten, mit denen die Muggel auch Essen bestellen können, hat mich auf die Idee gebracht. Und ich habe mir gedacht: wenn im Stadion schon Zauber untersagt sind, dann lasst uns diesen Luxus zumindest mit Hilfe der Eulen arrangieren."
„Toll!" Ginny war ehrlich beeindruckt.
„Und es kommt echt gut an. Das ist jetzt das dritte Spiel, in dem wir sie einsetzen. Die Leute lieben es. Der Umsatz ist massiv angestiegen", fuhr Ron mit einem Selbstbewusstsein fort, das auf Erfolg gründete. „Es ist natürlich nur ein Zusatzangebot. Man kann weiterhin auch alles in den Pavillons holen."
Der überdachte Eingang zu den Zuschauerrängen, den sie inzwischen erreicht hatten, nahm den kräftigen Windböen jäh die Schärfe und Ron lockerte seinen Schal.
„Und – was sagst du?", bat er enthusiastisch um Feedback, ungeachtet der Tatsache, dass Ginny sich schon längst wohlwollend geäußert hatte.
„Einfach genial!", beglückwünschte sie ihren Bruder erneut und versetzte ihm einen fröhlichen Knuff gegen die Brust, während vor ihnen ein offener Fahrstuhl lautlos auf dem Boden aufsetzte. Ron steckte einen Schlüssel in das an der Wand angebrachte Schlüsselloch und ebenso lautlos fuhren die aus einem verschnörkelten silberglänzenden Gitter bestehenden Türen auseinander. Kichernd trat Ginny hinein und bemerkte heiter:
„Zur Abwechslung mal ganz schön, nicht die ganzen Treppen hochsteigen zu müssen."
„Muss meiner kleinen Schwester doch was bieten", flachste Ron und betrat ebenfalls den Fahrstuhl, der sich daraufhin in Bewegung setzte und langsam nach oben glitt, bis er beim höchsten Punkt der Zuschauerränge – in Höhe der Tor-Ringe – zum Halten kam. Aus den tiefergelegenen Rängen ihres Turms wogte ihnen das Orange der Chudley-Fans entgegen, die bereits ausgelassen ihre Fahnen und Banner schwenkten. Eine Euphorie lag in der Luft, die den Sieg der Chudley Cannons über den amtierenden Quidditchmeister aus Schottland vorweg zu nehmen schien und eine aufgeregte Spannung ergriff von Ginny Besitz.
Hier oben war es jedoch noch ruhig, denn eineinhalb Stunden vor Spielbeginn hatten sich bislang erst wenige Zuschauer eingefunden, die sich das Warten mit Wetten darüber vertrieben, wie hoch der Sieg der Chudley Cannons heute ausfallen würde.
„Kennst du alle, die hier kommen?"
Neugierig ließ Ginny den Blick über die leeren Sitze streifen.
„Bei den Spielen der Cannons?" Ron zählte ein paar Namen auf, von denen Ginny jedoch nur die Hälfte kannte.
In Erinnerung an das WM-Spiel, dem sie vor ein paar Jahren beigewohnt hatte, erkundigte sie sich nach den Malfoys, darauf hoffend, von ihrem Anblick heute verschont zu bleiben oder sich ansonsten zumindest mental darauf vorbereiten zu können. Zu ihrer Erleichterung schüttelte Ron den Kopf.
„Ich glaube, die tauchen nur bei den Spielen der Falmouth Falcons auf. Aber da gehe ich zum Glück nie hin." Fröhlich fügte er hinzu: „Somit gibt es heute nichts, was uns das Spiel verderben könnte. Außer einer Niederlage. Aber daran glaube ich nicht."
Er erging sich in den Vorzügen jedes einzelnen Spielers und schnell waren sich die Geschwister einig, dass die Magpies heute keine Chance haben würden. Zufrieden lehnte Ginny sich in ihrem Sitz zurück und genoss die immer wieder faszinierende Geräuschkulisse von Schlachtgesängen und dem sanft anschwellenden Summen, das entsteht, wenn mehr und mehr Fans beginnen, das Stadion zu füllen. Angelegentlich sah sie hinunter auf das Quidditchfeld, dessen Rasen in einem satten Dunkelgrün glänzte und auf dem regelmäßig in goldenen Schriftzügen die zu bestellenden Getränke und Snacks beworben wurden.
Ron entnahm der sich neben dem Sitz befindenden Schale ein kleines Stück Pergament und eine Feder und erkundigte sich bei Ginny nach ihren Wünschen, die er auf das Pergament kritzelte, das er dann zusammenrollte. Dann winkte er einer vorbeifliegenden freien Eule, die sofort eine Volte flog und sich auf der Lehne des Vordersitzes niederließ, um ihre Wünsche aufzunehmen. Bevor Ginny dazu kam, der kleinen Eule kurz liebevoll über die Federn zu streichen, weckte eine vermehrte Unruhe am Fuße ihres Turms ihre Aufmerksamkeit und sie beugte sich nach vorne, um mehr erkennen zu können.
Der stete Strom der Zuschauer, die gerade Anstalten machten, die Treppen in die Ränge hinaufzusteigen, hatte sich verlangsamt, da einige Fans begonnen hatten, einen kleinen Pulk zu bilden. Neugierig griff Ginny nach ihrem Fernglas. Was sie darin erkannte, ließ sie überrascht die Luft einziehen. Die Hand mit dem Fernglas sank in ihren Schoß, während die andere unwillkürlich die Lehne des Sitzes vor ihr umklammerte, ohne dass Ginny es bemerkte. Das war nicht möglich! Sie musste sich getäuscht haben!
Nervös biss sie sich auf die Lippen und presste erneut das Fernglas an ihre Augen. Doch sie hatte sich nicht geirrt: Es war Harry, der am Fuße der Ränge stand und ein paar Hände schüttelte. Ihr Atem beschleunigte sich sofort, ohne dass sie die Emotionen hätte benennen können, die sie angesichts seines überraschenden Erscheinens empfand.
„Du hast mir gar nicht gesagt, dass Harry auch zum Spiel kommt", presste Ginny hervor und war überrascht darüber, dass ihre Stimme kein Zeichen des Aufruhrs, der in ihr tobte, aufwies; sie klang so ruhig, als kommentiere sie das Wetter.
Zwar hatte Hermine ihr berichtet, dass Harry sich in letzter Zeit wieder öfters mit Ron und ihr getroffen hatte und ganz allgemein einen besseren Eindruck machte, aber nie im Leben hätte sie damit gerechnet, ihn so unerwartet auf einem Quidditchspiel wiederzusehen.
„Wie, Harry?"
Rons hastige Bewegung ließ die Eule mit einem indignierten Tuten fortfliegen. Er beugte sich so weit nach vorne, dass Ginny ihn sicherheitshalber an der Schulter fasste, um zu verhindern, dass ihr Bruder über die Ränge hinab nach unten fiel.
„Tatsächlich." Erfreut gewahrte Ron die Richtigkeit von Ginnys Beobachtung und lehnte sich wieder zurück. „Ich habe ihm gesagt, er soll mal wieder... aber warum hat er nicht Bescheid gesagt...?"
Es war die gleiche Frage, die Ginny sich stellte. Nicht dass sie erwartet hätte, dass sich Harry bei ihr melden würde, obwohl auch er die Chudley Cannons unterstützte. Höchstens gehofft... Mit einem Stirnrunzeln verbat sich Ginny, weiter in diese Richtung zu denken und beobachtete stattdessen, wie Harry offenbar noch ein paar Worte mit den ebenfalls im leuchtenden Orange gekleideten Fans wechselte, bevor er einer neben ihm stehenden Hexe seine Hand reichte.
„Die Hexe neben Harry, wer ist das?" Sie reichte Ron ihr Fernglas, der aufmerksam durch die Gläser sah, bevor er es ihr zurückgab und ungerührt erwiderte:
„Amber. Seine Seelenheilerin... glaube ich."
Ginny warf Ron einen überraschten Blick zu und öffnete die Lippen, ohne jedoch etwas zu sagen. Es machte natürlich absolut Sinn. Warum hatte sie ihm dergleichen damals nicht vorgeschlagen? Oder hatte sie es...? Ginny seufzte wegen der frustrierenden Tatsache, sich nicht erinnern zu können. Aber es spielte ja jetzt keine Rolle.
Erneut zog sie das Fernglas ans Gesicht. Was sie dann jedoch beobachtete, vermittelte Ginny das Gefühl, sich auf einer schiefen Ebene zu befinden, die sie unaufhaltsam in die Tiefe rutschen ließ. Harry und die fremde Hexe waren in eine intime Umarmung versunken. Und der nachfolgende Kuss zwischen den beiden machte unverkennbar deutlich, dass Seelenheilung nicht der richtige Ausdruck war, um die Beziehung zu beschreiben, in der sich Harry mit der Hexe an seiner Seite befand.
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