Kapitel 20

Ambers Hände umfassten den warmen Kaffeebecher, während sie es sich auf dem breiten Fenstersims bequem machte, von dem aus man den perfekten Blick auf das Gewimmel an Muggeln und Autos auf den Straßen unterhalb des Gebäudes hatte. Obgleich es gestern Nacht spät geworden war, gelang es der Helligkeit im Zimmer, sie früher zu wecken als es an einem Wochenende erforderlich war. Reflexartig fuhr ihre Hand zum Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken.

In Amerika hätte sie im Bett liegend den Tag mit dem Streicheln ihrer beiden Schlangen begrüßt, doch selbstverständlich kam die Präsenz dieser Haustiere in London nicht in Frage – nichts würde hier mehr Fragen aufwerfen als eine Hexe, die sich Schlangen hielt. Ambers Wissens nach hatte es in England in den letzten dreißig Jahren nur zwei Magier gegeben, die Parsel beherrschten, und das waren Voldemort und Harry gewesen. In den USA hingegen schaute man längst nicht so misstrauisch auf diese Tiere. Ihren Adoptiveltern hatten die Schlangen nicht einen argwöhnischen Blick entlockt. Mit ein wenig Wehmut dachte Amber an die beiden anmutigen Reptilien, die sie selbst aufgezogen hatte.

Von Nähe zu Magiern hielt Amber für gewöhnlich nicht viel, doch Schlangen um sich zu haben, war ihr ein Vergnügen. Sie spiegelten die gleiche Art des Beobachtens und unerwartet Zuschlagens wider, wie sie Amber eigen war, und wussten von alleine, wann Nähe und wann Distanz gefragt waren. Vor ihrer Abreise hatte Amber beide Tiere in die Freiheit der Wüste entlassen. Gedanken um deren Überlebensfähigkeit machte sie sich nicht, die beiden Giftschlangen waren es gewöhnt, auf Beutefang zu gehen, und waren stets freiwillig in ihr offenes Terrarium bei Amber zurückgekehrt.

Erneut glitt Ambers Blick nach unten auf die belebte Straße, wo die Muggel inzwischen begonnen hatten, Regenschirme aufzuspannen. Ihre Lippen kräuselten sich amüsiert. Wie unpraktisch musste es sein, ein Leben ohne Magie zu leben und sich mit solch einem unpraktischen Gegenstand im Regen zu behelfen statt sich einfach eines Abperlzaubers zu bedienen.

Trotz ihrer Verachtung gegenüber dem nicht-magischen Volk hatte Amber die letzten Wochen gut genutzt, sich mit deren Gewohnheiten vertraut zu machen. Sie hatte sich sogar mehrfach unter sie gemischt, wo es sie immer wieder belustigte, wie abhängig diese Nichtmagier von ihren schwarzen Kästen waren, die sie Smartphones nannten. Es gab kaum einen Muggel, den man ohne dieses Gerät in der Hand antraf. Während die Magier ihren Zauberstab nur bei Bedarf zückten, sah man die Muggel permanent auf ihre Geräte starren oder in sie hineinsprechen.

Ja, es schien fast so, als legten sie mehr Wert auf eine Unterhaltung mit dem Smartphone als mit einem Menschen. Wie dumm konnte man sein, einem Gegenstand den Vorzug gegenüber einem Lebewesen einzuräumen und sich sogar davon etwas sagen zu lassen. Nicht nur einmal hatte Amber beobachtet, wie Muggel verschiedenen Alters genau in die Richtung gingen, die ihnen das Gerät vorschrieb. Abfällig schüttelte Amber den Kopf, so dass die Haarspitzen über ihre Schultern strichen.

Was den Aufenthalt unter den Muggel jedoch ausgesprochen entspannt für Amber machte, war die mentale Ruhe, die von ihnen ausging, denn es war unmöglich, ihre Gedanken zu lesen. Man hätte fast den Eindruck gewinnen können, dass das Denken bei Nichtmagiern keinen besonders großen Platz einnahm. Durch die Belauschung ihrer Gespräche wusste Amber es jedoch besser. Nicht dass es sie gekümmert hätte; die Gedanken der Muggel interessierten sie genauso wenig wie die der Hauselfen und anderer minderwertiger Geschöpfe. Praktischerweise ermöglichte es ihr diese Sache jedoch, sich entspannt inmitten einer großen Menge an Muggeln aufzuhalten, was ihr unter Magiern wegen der herumschwirrenden mentalen Wortfetzen nur schwer gelang.

Erneut nahm Amber einen Schluck von ihrem Kaffee, nachdem sie ihn kurz wieder mit Hilfe eines einfachen Zaubers erwärmt hatte. Sie glaubte inzwischen zu wissen, warum sie Hermines Gedanken nicht lesen konnte. Es war notwendig gewesen, die Gedanken mehrerer Magier beim Tagespropheten zu manipulieren ( und anschließend wieder mit einem Gedächtniszauber zu versehen ), um die alten Ausgaben der Zeitung vor drei Jahren einsehen zu können. Diese waren voll gewesen von Artikeln über das goldene Trio, wie man Harry, Ron und Hermine nannte.

Wenngleich der Berichterstattung über Hermine nur ein vergleichsweise kleiner Platz eingeräumt worden war, hatten die Informationen ausgereicht, um Ambers Vermutung zu bestätigen: Hermines Eltern waren reine Muggel und Amber vermutete daher, dass sich die muggeltypische Undurchlässigkeit der Gedanken auch an deren magische Kinder vererbte. Aus eigener Erfahrung verifizieren konnte Amber diese Annahme jedoch nicht. Da sich ihre Kindheit ausschließlich in einem reinblütigen Internat abgespielt hatte, kannte sie keine weiteren muggelgeborenen Zauberer oder Hexen.

Mittlerweile gelangweilt von den Eindrücken, die sich einer Endlosschleife gleich ihren Augen offenbarten, rutschte Amber vom Fenstersims und schlüpfte nach einigem Überlegen in ein Outfit, das ihre übliche Eleganz mit ein wenig Lässigkeit kombinierte. Sie hatten keine genaue Zeit festgelegt, sondern sich vage auf den Vormittag verständigt und entsprechend relaxed schwang sich Amber kurze Zeit später auf ihren Besen, um Godrics Hollow anzusteuern.

Ihre Gedanken kreisten gespannt und neugierig um Harry und fast hatte Amber damit gerechnet, dass Harry ihr geplantes Treffen absagen würde. Ob es Pflichtgefühl war oder die Unwilligkeit, eine einmal gemachte Zusage zurückzunehmen, oder weiterhin das Interesse und die Anziehungskraft, die sich in den gemeinsam verbrachten Stunden vor einigen Tagen entwickelt hatten, blieb abzuwarten.

Es dauerte nicht lange, bis Amber schließlich in Godrics Hollow landete und dabei überrascht zur Kenntnis nahm, dass der Ort nicht wie von ihr angenommen allein von Magiern bewohnt wurde. Zwei Frauen, die gerade aus einer Bäckerei traten, warfen ihr auf dem Besen einen befremdeten Blick zu, so dass Amber sich bemüßigt fühlte, ihre diesbezügliche Erinnerung zu löschen.

Längst hatten sich die Wolken am Himmel verdichtet, die ersten Regentropfen fielen und entwickelten sich zu einem veritablen Landregen. Ambers Imprägnierungszauber sorgte jedoch zuverlässig dafür, dass ihr der Regen nichts anhaben konnte. Und als sie schließlich vor Harrys Grundstück stand, war ihr Erscheinungsbild kaum weniger akkurat als beim Abflug aus London, wenn man davon absah, dass sie ihre lockige Mähne in einen Zopf gefasst hatte.

Anders als bei Hermines Zuhause gelangte Amber hier nur bis zur Gartenpforte, von der aus ihr ein Schutzzauber den weiteren Weg versperrte. Es wäre reizvoll gewesen, nach Möglichkeiten zu suchen, ihn auszuhebeln, doch da sie eingeladen worden war, verzichtete sie auf derlei Aktivitäten. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die Rasenfläche vorm Haus wandern, die von Laub bedeckt war. Auch der mit Kies ausgestattete Weg verschwand fast völlig unter Blättern und Unkraut, das sich an unzähligen Stellen einen Weg freigekämpft hatte. Erbarmungslos fiel Regen vom Himmel und der das Grundstück umgebende weiße Zaun glänzte in seiner Feuchtigkeit.

Der ganze Garten war noch weniger gepflegt als Hermines Vorgarten. Amber schüttelte den Kopf angesichts dieser Vernachlässigung, die so einfach mit ein paar wenigen Zaubersprüchen zu beheben wäre. Andererseits fand sie Harrys hier zum Vorschein kommendes Desinteresse an Gartenpflege alles andere als überraschend.

In diesem Moment glitt langsam die Gartenpforte auf und schob dabei einige der nassen Blätter zu einem kleinen Haufen zusammen, der unweigerlich dafür sorgte, dass die Pforte blockierte. Dennoch war die entstandene Lücke groß genug für Amber, um hindurchschlüpfen zu können. Der Kies knirschte leicht unter den Schritten ihrer Stiefel und nur Augenblicke später öffnete sich die dunkelrote Tür eines Hauses, das vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden war.

Amber spürte Harrys ambivalente Gedanken, noch bevor er im Türrahmen auftauchte – eine gewisse Abwehr, Besuch zu empfangen, gepaart mit der verlegenen Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Stunden in ihrer Dachwohnung. Die leicht veränderte Kleidung stach ihr ins Auge. Das letzte Woche getragene bequeme Shirt war einem ansprechenderen Rollkragenpullover gewichen und die schwarzen Haare lagen außergewöhnlich ordentlich an seinem Kopf. Dennoch war der Ton seiner Begrüßung eher verhalten und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der die Unentschlossenheit widerspiegelte, die er empfand.

„Hallo Amber."

Sie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln, verzichtete aber darauf, ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken, sondern berührte nur leicht seine Wange.

„Schön, dich zu sehen, Harry."

Einen Moment lang verriet Harrys nächster Gedanke seine ebenfalls empfundene Freude, wenngleich seine Gesichtszüge nichts davon preisgaben.

„Ich bin noch völlig im Bann des Fliegens. Was hältst du davon, wenn wir uns erst nochmal in die Lüfte schwingen?"

Gute Idee! Die Erleichterung erschien jetzt auch auf seinem Gesicht, die Kiefermuskeln verloren ihre Anspannung und ermöglichten ein vorsichtiges Lächeln. Dann sah er an ihr vorbei nach draußen und kommentierte den herabfallenden Regen, aber in einer Beiläufigkeit, die deutlich machte, dass er sich nicht daran störte.

„Wärmekugel und Abperlzauber", grinste Amber, was Harry zu einem Schmunzeln veranlasste.

„Das hätte auch von Hermine kommen können. Sie hat immer so etwas parat."

„Möchtest du?"

Ambers Hand wanderte bereits zum Zauberstab in ihrem Umhang. Harry schüttelte den Kopf.

„Nicht nötig. Das heißt... - höchstens für die Brille."

Er nahm sie ab und hielt Amber die kreisrunden Gläser hin, so dass sie für einen wasserabweisenden Schutz sorgen konnte.

„Impervius."

„Komm rein, ich hole mir eben Jacke und Stiefel."

In zwei Schritten stand Amber im Wohnzimmer und betrachtete neugierig den Raum, der nur wenig Persönliches preisgab und die Unordnung eines Junggesellenhaushaltes vermissen ließ. Ganz offensichtlich hatte Harry kürzlich für ein wenig Ordnung gesorgt. Ambers geschultem Auge entgingen jedoch nicht die Spinnweben in den Ecken der Zimmerdecke und der Staub, der sich noch auf den Regalen und Schränken befand, die offensichtlich seiner Wahrnehmung entgangen waren.

Rasch drehte sie sich um, als sie Harrys nahende Schritte vernahm, und nur kurze Zeit später verließen sie das Haus und stiegen unbeobachtet von neugierigen Augen auf ihre Besen. Harry schoss zügig in die Höhe und machte in einiger Entfernung ein paar ausgelassene Kapriolen und selbst trotz des großen Abstandes nahm Amber seine Freude wahr, die seine Gedanken unverhohlen und geradezu lautstark kundtaten.

Wie Amber es geahnt hatte, verschwanden jegliche Zurückhaltung und Trägheit erneut in dem Vergnügen, das das Fliegen in Harry hervorrief, und sie lächelte befriedigt, bevor sie sich beeilte ihn einzuholen. Wind und Wetter trotzend steuerte Harry sie zielgerichtet Richtung Südwesten, ungestört von Helikoptern, Segelflugzeugen oder Flugballons, die aufgrund des schlechten Wetters am Boden geblieben waren.

„Wo sagtest du, hast du in den Staaten gelebt?", rief ihr Harry durch den Wind hindurch zu.

„In Texas."

Eine kräftige Böe drückte Ambers Besen zur Seite, doch sie hielt mit ihrem Gewicht dagegen und holte die verlorenen Meter schnell wieder auf.

„Lust auf Meer?"

Harry wischte sich die nassen Haare aus der Stirn und blickte sie fragend an.

„Klar!"

Da der kräftige Wind eine Unterhaltung unmöglich machte, legten sie die nächste Zeit schweigend zurück, was Amber Gelegenheit gab, ungestört Harrys Gedanken zu folgen. Diese waren gefüllt von dem Genuss, den Wind in den Haaren zu spüren und dessen Gewalt trotzen zu können – denn sie flogen fast entgegen der Windrichtung – sowie von den Erinnerungen an Strände, die er einst aufgesucht hatte: Brighton, Devon, Dorset... und Cornwall. Ginnys und mein letzter Ausflug...

Abrupt machte er eine scharfe Kurve südwärts, so dass Amber kaum hätte folgen können, wenn sie nicht seine plötzliche Emotion – eine Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen – mitbekommen hätte. Mit nun grimmigem Gesichtsausdruck steuerte er in eine Richtung, die in weiter Ferne das Meer als dunklen Streifen in der grau verhangenen Landschaft unter ihnen erkennen ließ. Hoffentlich genießt sie das Leben wieder und findet jemanden, der ihr mehr bieten kann als ich...

Zügig schloss Amber zu ihm auf.

„Wohin genau fliegen wir?"

„Zur Isle of Wight. Die kenne ich auch noch nicht." Da wird mich die Erinnerung an Ginny wohl in Ruhe lassen.

Und ich werde dafür sorgen, dass du das Meer zukünftig mit anderen Erinnerungen verbindest, entschied Amber und dann legte sich auf ihr Gesicht ein Lächeln, das ihre Lippen nicht mehr verließ.







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