Kapitel 17
Etwa zehn Minuten später erhob sich Amber und machte Anstalten, sich zu verabschieden, womit sie Harry ein paar Augenblicke zuvorkam. Dankbar griff er jedoch die leichte Unruhe auf, die durch ihren Aufbruch entstanden war.
„Schön, dass du hier warst, Harry", erklärte Hermine in warmem Ton und fiel ihm zum Abschied um den Hals.
Sie strahlte noch die Behaglichkeit des warmen Raumes hinter sich aus, während sich der kalte Wind auf der Türschwelle fing und ihnen unangenehm ins Gesicht fuhr. Ron gab ein zustimmendes Murmeln von sich und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu:
„Nicht vergessen, nächsten Monat machen wir erneut den Himmel über Südengland unsicher."
Harry lächelte daraufhin vage.
„Mal..." Er räusperte sich und verbesserte: „Machen wir."
Mit einem gegenseitigen saloppen Zunicken verabschiedeten sich die Männer voneinander und mit einem in der Stille des Abends unglaublich laut klingenden Ton fiel die Haustür zu.
„Accio Firebolt."
Lautlos glitt Harrys Besen, der sich in Ron und Hermines Schuppen befunden hatte, in seine Hand, doch Harry verharrte noch einen Moment und sah hinauf in den dunklen Oktoberhimmel, in dem bislang nur wenige Sterne aufgegangen waren. Er spürte Erleichterung darüber, das Treffen mit Ron und Hermine hinter sich gebracht zu haben, ohne dass er sie zu besorgten Worten veranlasst hatte. Möglicherweise war die Anwesenheit von Amber dabei ganz dienlich gewesen.
Als hätten Harrys Gedanken sie just herbeigerufen, tauchte unerwartet die junge Hexe an seiner Seite auf. Wo kam die auf einmal her?
Amber war sein erschrecktes Zusammenzucken nicht entgangen. Es war schon erstaunlich, wie sicher sich hier alle seit dem siegreichen Krieg gegen ihren Vater fühlten. Es wäre ihr ein leichtes gewesen, Harry Potter hier und jetzt mit einem gezielten Zauberspruch zu töten, mit nichts als den umherfliegenden Fledermäusen als Zeugen. Damit hätte sie den Auftrag ihrer Mutter erfüllt gehabt.
Doch wer war Bellatrix Lestrange schon, dass sie ihr, der Tochter Voldemorts, einen Auftrag erteilen konnte?! Zwar hatte Amber ihre Mutter in dem Glauben gelassen, dass sie den Tod ihres Vaters rächen würde, aber tunlichst für sich behalten, dass sie mit Harry Potter ganz andere Pläne verfolgte als Bellatrix auch nur ahnen konnte. Mittlerweile war Bellatrix allerdings tot, was Amber jegliche zukünftigen Auseinandersetzungen ersparte.
Tod aus ungeklärten Gründen, hatte der Tagesprophet geschrieben... Ambers Wut auf ihre Mutter angesichts der seelischen Vernachlässigung, die diese ihr in den ersten vier Lebensjahren hatte angedeihen lassen, hatte sich beim Lesen dieser Nachricht allerdings längst in Gleichgültigkeit verwandelt. Bedauern tat Amber ihren Tod nicht.
Inzwischen war Harry einen Schritt zurückgetreten und musterte Amber unentschlossen. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden und einer gewissen Neugier auf sie, die er jedoch, hätte man ihn danach befragt, weit von sich gewiesen hätte. Eine kräftige Böe fuhr in sein Gesicht und trieb die Haare an seiner Stirn auseinander. Die gezackte Narbe, die ihm Voldemort bei dem Versuch, ihn als Baby zu töten, verpasst hatte, war im Licht der Straßenlaterne nun deutlich sichtbar. Ambers Blick verharrte sekundenlang darauf und es war ihr daher anzusehen, dass sie wusste, wen sie vor sich hatte.
In der Erwartung, nun doch mit unwillkommenen Fragen konfrontiert zu werden, wallte Ärger in Harry auf, was seinen Puls spürbar beschleunigte. Warum war er nur nicht gleich losgeflogen, als er noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Vermutlich hatte sie absichtlich auf ihn vor der Tür gewartet. Doch Ambers nächste Worte überraschten ihn:
„Ich werde dich nicht nach ihm befragen, Harry, keine Sorge. Und es tut mir auch leid, dass ich vorhin so unbedacht war." Mit entwaffnender Ehrlichkeit fügte sie hinzu:
„Ich weiß, du möchtest einfach deine Ruhe haben. Ich kenne das Gefühl. Manchmal tut es einfach gut, Abstand zu wahren und sich auf sich selbst konzentrieren zu können."
Der Wind spielte mit ihren offenen Haaren, so dass sich diese bisweilen von ihren Schultern lösten und ihre schmächtige Statur zum Vorschein kam. Mit den flachen Schuhen, die sie heute trug, war sie ein deutliches Stück kleiner als Harry. Trotz ihrer unter dem offenen Umhang sichtbar lässigen Kleidung strahlte Amber dennoch eine ungemeine Weiblichkeit aus, wie sie mit leicht zur Seite geschobener Hüfte und nach vorn gereckter Brust vor ihm stand.
Ein Gefühl von Verwunderung veranlasste Harry, leicht den Kopf zu schütteln, als glaubte er seinen eigenen Gedanken nicht. Was geschah da gerade mit ihm? Seit Ginny fort war hatte er nicht mehr solche Gedanken über eine Frau verspürt. Dass Amber dazu noch absolutes Verständnis für seine Lage zeigte, war ein weiterer Grund, vorerst abwartend stehen zu bleiben. Zudem wäre es absolut unhöflich und angesichts ihrer zurückhaltenden Art auch durch nichts zu rechtfertigen gewesen, sich jetzt auf den Besen zu schwingen und davon zu fliegen.
„Aber...", begann Amber etwas zögernd und zwirbelte eine Haarsträhne durch ihre Finger. „Es sieht so aus, als würde ich deine Hilfe benötigen."
Wobei sollte ich ihr wohl helfen können?, dachte Harry, sah sie jedoch lediglich abwartend an und schwieg. Amber vollführte eine halbe Drehung und wies mit einem Kopfnicken auf einen Besen, der ein paar Meter hinter ihr vor einem der immergrünen Büsche schwebte.
„Als ich kam, war es hell. Ehrlich gesagt, habe ich jetzt im Dunkeln keine Ahnung, wie ich zurück nach London komme."
Ambers Stimme klang gefasst, aber ihre Augen trugen eine Spur Ratlosigkeit in sich und verlegen fuhr sie fort: „Könntest du mich vielleicht begleiten?"
Wieso benutzt sie keinen Navigationszauber? Doch er behielt diesen Gedanken für sich, sah stattdessen auf die zierliche Hexe, die mit einem scheuen Lächeln vor ihm stand und wirkte, als könnte sie der nächste Windstoß davon pusten... kaum vorstellbar, dass sie auf einem Besen den Elementen zu trotzen wusste.
Harry war durchaus klar, dass Amber den genannten Grund als Vorwand nutzte, um – warum auch immer – Zeit mit ihm zu verbringen. Zu seiner eigenen Verwunderung hatte sie jedoch seine Neugier geweckt, so dass er weit weniger abgeneigt war als noch vor kurzem zu vermuten gewesen wäre.
„Kann ich machen", gab er dennoch etwas schroffer als beabsichtigt von sich.
Amber ließ sich davon jedoch nicht verunsichern, sondern schenkte ihm ein dankbares Lächeln: „Das ist wirklich sehr nett von dir."
Nur Augenblicke später saßen sie auf ihren Besen und erhoben sich in den dunklen Nachthimmel. Die wenigen Lichter von Caneborough glitten rasch unter ihnen hinweg. Der Wind fuhr in Harrys Haare und unversehens spürte er die Freude in sich emporgleiten, die ihn jedes Mal überfiel, wenn er auf einem Besen saß. Es war ein Gefühl von Freiheit und fern von der Melancholie, die am Boden seinen Alltag bestimmte. Als wäre er hier oben alle Sorgen los. Er sollte dies definitiv öfter machen!
Ein paar übermütige Gedanken streiften sein Hirn, die er jedoch sogleich verwarf, als er sich Ambers Anwesenheit wieder bewusst wurde, und unwillig bremste er ein wenig ab und sah zurück über seine Schulter. Das war jedoch nicht nötig, Amber war direkt hinter ihm und schien sich auf dem Besen ebenso wohl zu fühlen wie Harry. Mit der Unbekümmertheit, die er selbst sich gerade untersagt hatte, streckte sie die Arme weit zur Seite aus, so dass sich ihr Umhang wie ein Segel bauschte. Ohne sich an Harrys Gegenwart zu stören, gab sie sich völlig dem Rausch des Fliegens hin und trotz ihrer schmächtigen Figur hatte sie den Besen völlig im Griff.
„Ist es nicht herrlich?", kamen ihre vom Wind fortgetragenen Worte bruchstückenhaft bei Harry an und einen kurzen Moment lang schloss Amber ihre Augen, ohne die Geschwindigkeit dabei zu verringern. Mit der Plötzlichkeit eines Blitzes überfiel Harry die Erinnerung an Ginny, denn auch sie wusste das Fliegen mit allen Sinnen zu genießen. Doch den Bruchteil einer Sekunde später war dieser Gedanke schon wieder aus seinem Kopf verschwunden. Amber hatte äußerlich nichts mit Ginny gemein und auch ihre ruhige Zurückhaltung war völlig anders als Ginnys Direktheit und Temperament.
Sie flogen jetzt so hoch, dass weder Eulen noch andere Nachtvögel ihren Weg kreuzten, flogen durch die Schwärze einer Nacht, die nur wenig von einem blassen Mond beleuchtet wurde. Unbewohnte Felder waren für ein Weilchen alles, was zwischen ihnen und der nächstgrößeren Stadt lagen. In der angenehmen Stille unter dem Firmament war lediglich das leichte Brausen des Windes in Harrys Ohren zu hören. Es war in der Tat der pure Genuss.
Amber schloss schließlich direkt zu ihm auf. „Immer geradeaus?", wollte sie fröhlich wissen. Auch sie wirkte hier oben unbefangener als zuvor und auf Harrys zustimmendes Murmeln hin schlug sie mit einem Augenzwinkern vor:
„Wie wäre es mit einem Wettrennen bis zu den Hügelkuppen dort vorne?"
Harry blickte von ihrem Nimbus auf seinen Firebolt und zuckte mit den Schultern. „Warum nicht." Wenn auch sein älterer Firebolt der neueren Generation eines Nimbus gegenüber vermutlich inzwischen im Nachteil war.
Auf Ambers Signal schossen sie los, mit sich rasch beschleunigender Geschwindigkeit, die schon bald das Atmen erschwerte und die Kälte in Gesicht und Ohren beißen ließ. Beide Magier lehnten sich flach über den Besen, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten. Ob es an Ambers geringerem Gewicht oder an dem Nimbus lag, Stück um Stück enteilte sie ihm und erreichte die definierte Ziellinie ein paar Meter vor Harry.
Als guter Verlierer gratulierte er Amber neidlos zu ihrem Sieg, nachdem sie den Flug auf eine übliche Reisegeschwindigkeit gedrosselt hatten. Dennoch hatte es der kleine Wettkampf geschafft, eine Lücke in Harrys Verschlossenheit zu schlagen und ohne groß darüber nachzudenken, was er tat, zog er den von Dumbledore geerbten Schnatz hervor und warf ihn in die Luft. Angesichts der Dunkelheit begann dieser sofort dezent zu glimmen und schwebte kontinuierlich wenige Meter vor ihnen, als wolle er sie zu einem Spiel auffordern.
Als Harry Anstalten machte, nach dem Schnatz zu greifen, stob die kleine Kugel davon, um kurz darauf ins Bodenlose zu fallen. Ohne zu zögern stürzte Harry hinterher, tiefer und tiefer, den Blick nur auf den kleinen in der Dunkelheit glimmenden Punkt vor ihm gerichtet. Der Adrenalinkick fuhr durch seine Adern und machte jedes Nachdenken überflüssig, im Rausch der Geschwindigkeit wurde er eins mit dem Besen unter sich, und ein lang nicht mehr verspürtes, inneres Jauchzen durchfuhr ihn. Erst als der Schnatz einen Schlenker zur Seite machte, stoppte Harry den Sturzflug, machte einen eleganten Salto und griff nach der Kugel, bevor diese erneut die Richtung ändern konnte.
Ein leicht euphorisches Gefühl überfiel Harry und ließ ihn zufrieden den Schnatz in seiner Hand betrachten, während er langsam wieder in die Höhe stieg. Erinnerungen an die Zeiten in Hogwarts wallten in ihm auf: an regelmäßige Quidditch-Trainings und gewonnene Wettkämpfe, an Hermine, die mit einem Verwirrungs-Zauber dafür gesorgt hatte, dass Ron Hüter im Team wurde und an einen Wettkampfmorgen, an dem er Ron in den Glauben versetzt hatte, das flüssige Glück Felix Felicis getrunken zu haben. Im Wettkampf war Ron dann über sich selbst hinausgewachsen. Glaube versetzt Berge...
Erst jetzt gewahrte Harry, dass ihm Amber applaudierte.
„Sehr beeindruckend", kommentierte sie und wollte dann wissen:
„Nie darüber nachgedacht, Quidditchspieler zu werden?"
In der momentanen Stimmung voller Leichtigkeit versetzte Harry mit einem Grinsen:
„Nicht wirklich. Zu viel Popularität."
„Zugegeben, da hat man noch mehr Leute um sich", lachte Amber und streckt neugierig die Hand nach dem Schnatz aus. Fasziniert betrachtete sie die golden schimmernde und mit vielen feinen Verzierungen versehene Kugel, bis deren Licht allmählich verblasste.
„Sieht irgendwie edel aus..."
„Der allererste Schnatz, den ich im Wettkampf gefangen hatte. Von meinem alten Schulleiter geerbt", offenbarte Harry und nahm ihn wieder an sich. Überrascht stellte er fest, dass die Reserviertheit, die er noch vorhin in Ambers Anwesenheit verspürt hatte, mittlerweile fort war. Stattdessen fühlte er sich ausgesprochen wohl in ihrer Gegenwart. Verwirrt wendete er den Besen und setzte den Flug nach London fort.
Amber flog nun direkt neben ihm und Harry kam nicht umhin, ihr ab und an verstohlen einen Blick zuzuwerfen. Sie hatte etwas an sich, das er nicht greifen konnte, es war, als trüge sie ein Geheimnis mit sich herum. Amber hatte ihren Blick nach vorne gerichtet, aber unvermittelt schien ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu spielen, was ihn schließlich zu einer vorsichtigen Frage ermutigte.
„Was ist mit deinen Eltern passiert?"
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