Kapitel 16
„Gefunden!"
Hermines Eintreten unterbrach die vielversprechende Situation. Sie hielt triumphierend eine Schreibfeder hoch, doch ihr Lächeln wirkte angestrengt und anscheinend unbewusst biss sie auf ihrer Unterlippe herum. Ron, der ihr mit hochrotem Kopf in die Stube folgte, schien eine Erklärung für ihre Verfassung zu bieten, denn in seiner aufgewühlten Stimmung schrie er seine Gedanken beinahe heraus. Amber unterdrückte ein Zurückschrecken, denn es war, als werfe jemand mit schrillen Worten um sich.
Warum soll ich immer das tun, was Hermine nicht machen will und mich dann dem Ärger aussetzen? Ich bin doch kein gefühlloser Stein! Ich weiß, dass Harry das nicht will! Sie hat Amber eingeladen. Soll sie doch fragen!
Fragend blickte Harry in die angespannten Gesichter seiner Freunde, deren Wortlosigkeit Bände sprach. Mit einem dankbaren Lächeln im Gesicht nahm Amber die Feder von Hermine entgegen und entschloss sich dann zu handeln. Mit genau der Dosierung, die nötig war, um Ron zu vermitteln, dass es seine eigene innere Stimme war, veranlasste sie ihn mental: Lächle und frag einfach, Ron. Du weißt, sie wird dir dankbar sein.
Unvermittelt glätteten sich Rons Gesichtszüge, als hätte es den Aufruhr in ihm nicht gegeben, und während Amber noch im Hintergrund Harrys perplexe Gedanken wahrnahm – Was war denn das jetzt? Ron beruhigt sich doch nie so schnell... - hatte sich Ron nun ihr zugewandt und bot freundlich an:
„Willst du nicht mitessen? Wir haben doch sicher genug?"
Er warf Hermine einen fragenden Blick zu, deren Erleichterung angesichts seines Meinungsumschwunges schließlich in einem zögernden Blick Richtung Harry mündete.
In diesem rangen widerstreitende Gefühle miteinander. Ein fassungsloses Das ist jetzt nicht sein Ernst!, das ihn Ron einen verärgerten Blick zuwerfen ließ und das gefolgt wurde von einem zähneknirschenden Es wäre wohl unhöflich, es ihr nicht anzubieten. Säuerlich verzog Harry das Gesicht und sann darüber nach, wie er sich möglichst schnell empfehlen konnte. So nett das Fliegen mit Ron auch gewesen war, nachdem er sich endlich dazu aufgerafft hatte, so sehr zog es ihn doch zurück in seine eigenen vier Wände. Die Einladung zum Essen hatte er schließlich nur angenommen, um Hermine nicht vor den Kopf zu stoßen. Aber jetzt...
„Das wäre wirklich nett", erwiderte Amber Rons Einladung erfreut und reserviert zugleich und verbarg gekonnt ihre Anspannung. Ihr war klar, dass sie damit Harry unter Zugzwang setzte, und sie war kurz davor, erneut auf Manipulationen zurückzugreifen. Sie würde sich jetzt die Gelegenheit, Harry auf diese Weise näher kennenlernen zu können, nicht entgehen lassen.
Du wolltest etwas tun. Also zieh das jetzt durch! Trotz dieser unbekannten Hexe... Mit diesen Gedanken warf Harry ihr einen langen, nachdenklichen Blick zu, dem Amber genauso schweigend begegnete, wobei sie ihr Möglichstes tat, schüchtern und harmlos zu wirken. Sie konzentrierte sich intensiv darauf, was Harry durch den Kopf ging, und war bereit, sofort einzugreifen, sollte er sich dazu entscheiden, auf den Rest der Mahlzeit zu verzichten...
Sie hat anscheinend Ähnliches erlebt... Noch immer lag Harrys Blick auf ihr, so dass der Lichtschein der Lampe hinter ihr direkt in sein Gesicht fiel. Seine Augen hinter den runden Brillengläsern besaßen einen auffallenden Grünton, und sein glattes schwarzes Haar war länger als allgemein üblich und stand an den Seiten ein wenig wirr ab, als hätte ein Wind hindurch gepustet und ein plötzlicher Kälteeinbruch das Ergebnis eingefroren.
Als hätte Harry Ambers Gedanken gespürt, strich er sich mit einer raschen Bewegung seine Haare hinters Ohr, was jedoch nur zum Teil den gewünschten Erfolg brachte. Es ist nur ein Essen... Und diese Amber macht nicht den Eindruck, als würde sie einen mit Fragen überfallen. Hatte sie nicht gesagt, sie wäre auch lieber woanders? Vielleicht war es Höflichkeit gewesen, die sie die Einladung hatte annehmen lassen...
Harry gab sich einen mentalen Ruck und wandte sich seiner besten Freundin zu:
„Schon ok, Hermine."
Ein erfreutes Lächeln erschien auf Hermines Gesicht und ihre Züge entspannten sich. Sie ging hinüber zur Anrichte, wo sich ihr Zauberstab befand, und ließ ein weiteres Gedeck auf den Tisch segeln. Das inzwischen kühl gewordene Essen zu erwärmen war für Hermine ein Leichtes und bereits kurze Zeit später sah sich Amber mit Rons und Hermines neugierigen Fragen zu Amerika konfrontiert, die sie freundlich aber ohne Ausschweifungen beantwortete. Harry saß ihr gegenüber und widmete sich dem Essen, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen, und Amber hütete sich, ihm Fragen zu stellen; das, was sie in seinen Gedanken lesen konnte, war aufschlussreich genug.
Interessant, wie man so viel erzählen kann, ohne dabei viel von sich preiszugeben, stellte Harry gerade nach aufmerksamem Zuhören mental fest. Amber verbarg das Schmunzeln, das ihr in den Mundwinkeln saß, aber nicht zu ihrer Erzählung über zunehmend gewaltbereitere junge Menschen in den USA passte. Sie hatte in der Tat das Gespräch allmählich geschickt von sich weg hin zu einem Vergleich zwischen amerikanischer und englischer Gesellschaft gesteuert.
Amber hatte ihre eigene Ansicht über die zunehmenden Krawalle in den Staaten, die sie als Folge der Vermischung mit Muggeln sah, deren Nachwuchs gemeinhin deutlich respektloser auftrat, als man es von jungen Hexen und Zauberern gewohnt war. Doch sie war fern davon, die übrigen Magier im Raum an ihren Überlegungen teilhaben zu lassen und fragte lediglich:
„Und wie ist das bei euch hier?"
Hermine zögerte mit der Antwort und warf Amber einen Blick zu, der ihre Abschätzung, ob es sich lohnte, diese Diskussion zu vertiefen, nicht verbarg. Zwar waren ihre Gedanken noch immer eine undurchdringliche Wand, doch dafür war ihre Körpersprache umso beredter.
„Kann nicht sagen, dass mir das aufgefallen wäre", gab Hermine schließlich höflich zurück und lehnte sich im Stuhl zurück.
„Ich glaube, dafür ist Hogwarts einfach zu streng", gluckste Ron und hatte eine sehr lebendige Erinnerung an seine damalige Hauslehrerin McGonagall und jetzige Schulleiterin von Hogwarts vor Augen, die nicht die kleinste Missetat hatte durchgehen lassen – sofern sie sie bemerkt hatte. Von Snapes Bestrafungen ganz zu schweigen. Ist schon gut, dass ein gewisser Respekt herrscht. Mit einem fröhlichen Lachen fügte er hinzu:
„Mum hätte uns gevierteilt, wenn wir es gewagt hätten, ihr gegenüber frech zu sein." Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Butterbier.
Hermine warf ihrem Freund einen nachdenklichen Blick zu – vermutlich kannte sie seine Ansicht – und widersprach ruhig:
„Ich fände, ein bisschen mehr Demokratie täte Hogwarts schon gut. Es ist immer noch so, dass die Entscheidung eines Lehrers nicht in Frage gestellt werden darf und nicht diskutiert wird. Erinnerst du dich nicht daran, dass manche Abzüge der Hauspokalpunkte einfach ungerecht waren?"
Interessant, dachte Amber, während Ron nur lässig mit den Achseln zuckte. Nach England zu kommen war definitiv die richtige Entscheidung gewesen. Obwohl Harry es weiterhin vorzog zu schweigen, gab er Hermine im Stillen allerdings recht. Hm,... da hatte sie wohl noch ein Stück Arbeit vor sich... Nicht, dass es sie gestört hätte. Eine Herausforderung hatte noch niemandem geschadet. Um die Wasser noch ein wenig mehr zu testen, wollte Amber mit vorsichtig geäußertem Interesse wissen:
„Wie war es eigentlich, als Lord Voldemort in Europa geherrscht hat? Eineinhalb Jahre sind es gewesen, oder?"
Mit lässiger Geste, die das Ausmaß ihrer Neugier verbergen sollte, strich sich Amber durch die Haare und ihr unschuldiger Blick ließ nicht erkennen, dass sie längst mehr über diese Zeit wusste, als die anderen drei Magier ahnten. Deren Reaktion kam unvermittelt. Stumm warfen sich Ron, Hermine und Harry einen Blick zu und ganz leicht schüttelte Hermine ihren Kopf. Zu Ambers Überraschung war es Harry, der ihr nun direkt ins Gesicht sah und ablehnend erwiderte:
„Nichts, worüber es sich zu reden lohnt. Er ist weg und diese dunklen Zeiten sind damit ein für alle Mal vorbei." Ich glaube nicht, dass sie so dumm ist, angesichts unserer drei Namen nicht die Verbindung zu ziehen.
Damit liegst du definitiv richtig, gab ihm Amber belustigt Recht, nach außen gab sie sich jedoch verständnisvoll und zog ihre Frage mit einer Entschuldigung zurück:
„Das war blöd von mir, entschuldigt bitte. Ich kann verstehen, dass man das lieber verdrängen möchte."
Das trifft wohl nicht auf uns alle zu, dachte Ron indigniert, der es zwar meist vermied, an die schrecklichen Ereignisse zu denken, aber andererseits zu gern triumphierend von seinen Erfolgen berichtete. Wenn auch das Interesse der Presse bereits vor langer Zeit abgeflaut war, so gab es dennoch immer mal wieder Magier, die ihn auf den Kampf gegen Voldemort ansprachen. Es vermittelte Ron stets ein immenses Gefühl von Bedeutung und sein Selbstbewusstsein erklomm schwindelerregende Höhen, wenn er von dem gelungenen Eindringen in die Gringotts-Bank berichtete, von der Zerstörung eines Horkruxes und vom Kampf um Hogwarts.
„Kein Problem", erwiderte Hermine betont heiter und anscheinend durchaus zufrieden damit, das Thema ruhen zu lassen. Mit einer Drehung ihrer Hand zauberte sie einen Kuchen auf den Tisch.
„Ich bin eigentlich nicht so fürs Backen", erklärte sie entschuldigend an Amber gewandt, „Aber ich hoffe, er schmeckt dir trotzdem."
Amber ließ ein perlendes Lachen hören und warf in einer koketten Geste ihr Haar über die Schulter. Ihr sofort geäußertes Eingeständnis, ebenfalls keine Freude am Kochen und Backen zu haben, versöhnte Hermine jedoch rasch mit der etwas zu ostentativ zur Schau gestellten Attraktivität.
„Hauselfen sind hier nicht so üblich?"
„Nur in reichen Familien", warf Ron rasch ein und bedachte Hermine mit einem warnenden Blick, doch seine Freundin war auf das Stichwort bereits angesprungen.
„Ich halte nicht viel von dieser schändlichen Tradition", ereiferte sich Hermine sofort und begann ihre Verteidigung der Rechte von Hauselfen.
Stöhnend ließ Ron seinen Kopf in die Hände fallen, während Amber mit einer gewissen Verwunderung Hermines engagiert vorgetragenen Argumenten lauschte, die diese mit viel Gestik untermalte. Wie kann man sich nur so für diese minderwertigen Geschöpfe einsetzen, fuhr es Amber abfällig durch den Kopf. Sie meinte gelesen zu haben, dass Hermine von Muggeleltern abstammte, was ihre ausufernde Toleranz gegenüber diesen kleinen Kreaturen erklärte. Das war eine weitere Rechtfertigung dafür, dass reine Magier lieber unter sich bleiben sollten, dann würden solch schändliche Gedanken keinen Einzug in die Zaubererwelt halten.
Unverfroren drang Amber weiter in die Gedanken der beiden Männer ein, um zu erfahren, wie diese über Hauselfen dachten. Zwar zeigte sich Ron genervt davon, dass Hermine das Thema, das er bereits in und auswendig kannte, jetzt erneut ansprach. Dennoch war er fern davon, ihr inhaltlich zu widersprechen, sondern teilte im Prinzip ihre Meinung.
Harry hingegen schien sich wieder in sich selbst zurückgezogen zu haben. Er nahm einen Schluck Butterbier und sah nachdenklich aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit, die sich auf Caneborough herabgesenkt hatte. Das Thema Hauselfen streifte er lediglich mit seinen Gedanken, die sich ansonsten auf Amber konzentrierten.
Was studiert sie eigentlich? Und warum ist sie nach England gekommen? Und mit einem Funken Misstrauen: Warum fragen Hermine und Ron das eigentlich nicht? Aber seine Neugier war nicht groß genug, die Passivität zu überwinden. Mit beginnender Erleichterung konstatierte er das nahende Ende der Essenseinladung, das es ihm ermöglichen würde, sich zu verabschieden, in sein eigenes ruhiges Haus zurückzukehren und keinen Gedanken mehr an die amerikanische Hexe zu verschwenden, deren Kindheit seiner eigenen so ähnlich war...
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Bei den verschiedenen Ansichten werden Hermine und Amber sicher keine Freundinnen werden, oder?
Aber Ambers erstes Ziel, Harry Potter kennenzulernen, ist erreicht. Wie, glaubt ihr, geht es zwischen den beiden weiter?
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