Kapitel 11

Achtung, Triggerwarnung. Siehe letztes Kapitel dieses Buches.

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Mit einem lauten Scheppern fiel die Tür ins Schloss, während das fröhliche Kinderlachen noch in den Räumen nachhallte. Kekskrümel zierten das dunkle Ledersofa und den hellen Teppich auf dem Holzfußboden, den die Nachmittagssonne so angewärmt hatte, dass man gemütlich auf dem Boden hatte sitzen können. Wie viel Spaß der Junge mit dem Spielzeugbesen gehabt hatte, der ein paar Zentimeter vom Boden abhob, kaum dass der Kleine sich mit aller Kraft, derer er fähig war, vom Boden abgedrückt hatte.

In Folge seiner verschiedenen Emotionen - Freude, Angst, Neugier, Entzücken - hatten sich seine Haarsträhnen im Minutentakt verfärbt, so dass sein Haarschopf einem Potpourri aus verschiedenen Farben glich. Nicht selten hatte sein fröhliches Kreischen die Stille der Erwachsenen, die zwischendurch eintrat, übertönt. Sie kannten sich kaum, waren aber über den kleinen Jungen miteinander verbunden, und Harry rechnete es der Großmutter von Teddy hoch an, dass sie zu einem Besuch vorbei gekommen waren, da er auf Teddys drittem Geburtstag mit Abwesenheit geglänzt hatte. Wieder einmal.

Eine Eule hatte ihr Kommen angekündigt und mit einer Mischung aus Resignation und schlechtem Gewissen hatte er ihrem Besuch zugestimmt und mithilfe einiger magischer Sprüche ein wenig Ordnung in sein vernachlässigtes Zuhause gebracht.

Seine Qualitäten als Patenonkel waren definitiv ausbaufähig. Die Male, die Harry den kleinen Teddy gesehen hatte, ließen sich an zwei Händen abzählen. Dennoch war der kleine Junge von einer Offenheit gewesen, die Harry erstaunte. Mit einem heiteren Grinsen auf dem Gesicht war er vom Sofa auf den Boden gehüpft, in die Küche gestromert, hatte neugierig Schränke und Truhen geöffnet und nach einem Tadel seiner Großmutter zwar schuldbewusst geguckt, aber nur Sekunden später einen spitzbübischen Ausdruck nicht verhehlen können.

Harry konnte sich nicht daran erinnern, in seinem Alter so zugänglich gewesen zu sein. Vermutlich, weil er es nie gewesen war. Oder man ihn nie gelassen hatte. Seine erste Erinnerung, soweit er zurückdenken konnte, war sein Cousin Dudley gewesen, schon damals ein wohlgenährter kleiner Kerl, der früh gelernt hatte, dass er mit Tobsuchtsanfällen alles von seinen Eltern bekommen konnte. Und einst eine liebevolle Umarmung von seiner Mutter erhalten hatte, weil er es geschafft hatte, Harry einen alten Stoffhasen zu entreißen, indem er sich mit seinem Gewicht einfach auf den schmächtigen Cousin gesetzt hatte. Harrys Tränen waren ignoriert worden.

Beim jetzigen Gedanken daran verspürte Harry nur noch Wut. Weniger auf seinen Cousin als vielmehr auf dessen Eltern, die Dudley zum dem gemacht hatten, was er nun war. Vielleicht sollte er froh darüber sein, dass er selbst bestenfalls von seinen Verwandten ignoriert worden war, sonst wäre er womöglich ebenso ein Tyrann wie Dudley geworden. Harry ließ sich in die Kissen fallen und schob seine Füße auf den Couchtisch und ohne dass er es verhindern konnte, durchfuhr ihn plötzlich ein Gefühl von Wehmut.

So wenig er Tante Petunia, Onkel Vernon und Dudley leiden konnte, so waren sie dennoch die einzigen Verwandten, die er besaß. Er hatte seit dem Abschied vor vier Jahren keine Ahnung, wo sie sich befanden. Der Auror MadEye Moody hatte den sicheren Ort, an den er sie hatte bringen lassen, mit ins Grab genommen. Was mochte Dudley nun wohl tun? Seitdem Harry ihn vor den Dementoren gerettet hatte, war er ihm gegenüber deutlich zurückhaltender, ja, beim Abschied sogar fast freundlich zu nennen gewesen...

Ein plötzlicher Gedanke ließ Harry zusammenzucken, und unwillkürlich spürte er die Anspannung im Nacken. Hatte er nicht vielleicht noch Verwandte von der Seite seines Vaters? Andererseits musste er sich eingestehen, dass sich bei ihm nie jemand gemeldet hatte, obwohl bei Kriegsende seine Story in aller Munde gewesen war. Was wohl hieß, dass es da niemanden gab. Beinahe hätte er vor Erleichterung laut gelacht. Keine weiteren Personen, denen er etwas vorspielen musste. Denen er eine Seite zeigen musste, die es einfach nicht mehr gab: sein enthusiastisches, beharrliches, entschlossenes Selbst.

Dieses war mit dem Sieg über Voldemort in sich zusammengefallen wie eine baufällige Hütte, die ein paar Tage nach dem Sturm in sich zusammensank, weil die tragenden Elemente angegriffen waren und keine Kraft mehr hatten. Es gab kein Ziel mehr für Harry Potter, der seine ganze Energie einst dafür aufgewandt hatte, die Zaubererwelt von allem Bösen zu befreien und für die Magier wieder sicherer zu machen. Und den Tod seiner Eltern zu rächen.

Harry schloss die Augen und sah wie immer Bilder seiner Eltern und seines Patenonkels an sich vorüberziehen. Hörte ihre Stimmen, als sie ihm Mut zugesprochen hatten nicht aufzugeben. Und was war jetzt? Hatte er nicht genau das getan? Sich selbst aufgegeben mit dem ziellosen, ereignislosen Leben, das er jetzt führte? Ein kurzes Zittern durchfuhr seinen Körper, dann sank er noch ein Stück tiefer in die Kissen. Auch ohne den Stein der Auferstehung war er wie der Zweite der Perell-Brüder, der sich immer mehr in die Welt der Verstorbenen verloren hatte.

Harry lebte ziellos in den Tag hinein, ohne sich dank seiner Erbschaft um ein Einkommen kümmern zu müssen, verbrachte seine Zeit mit Erinnerungen oder mit dem Betäuben der Seele durch den wahllosen Konsum verschiedener Zeitungen, ohne dass einer der Berichte ihm mehr entlockte als ein unwillkürliches Heben der Schultern. Selbst das ein oder andere Buch hatte er inzwischen gelesen, und er konnte sich des ironischen Gedankens nicht erwehren, dass Hermine bestimmt stolz auf ihn wäre.

Als Harry seine Augen wieder öffnete, starrte er nur mit leerem Blick auf den ebenso leeren Regalschrank. Dieser legte beredt davon Kenntnis ab, dass hier jemand nicht viel Wert auf Einrichtungsgegenstände legte, die nur der Dekoration dienten und keinen praktischen Nutzen hatten. Diejenigen, die ihn ab und an noch besuchten, ignorierten die eine gewisse Trostlosigkeit ausstrahlende Atmosphäre, die sich allmählich in dem alten Haus von Harrys Eltern eingeschlichen hatte. Direkt nach dem Sieg über Voldemort hatte Harry zwar alles wieder instandsetzen lassen, aber dann nur in einer einzigen und finalen Aktion die Räume mit schickem Mobiliar ausgestattet.

Harry blickte teilnahmslos aus dem bodentiefen Fenster zu seiner Linken, ohne mehr zu tun als sein Gewicht von der einen auf die andere Seite zu verlagern, wodurch das Sofa einen knarzenden Ton von sich gab. Die Sonne war weitergewandert, aber dennoch war die Wärme im Raum hängen geblieben, die verbrauchte Luft war getränkt von dem Rest eines schokoladehaltigen Getränks, das noch auf dem Couchtisch stand, und machte ihn schläfrig. Dennoch war er zu bequem, um aufzustehen und durch ein Fenster frische Luft hereinzulassen.

War es heiß draußen? Oder angenehm? Er wusste es nicht, was der Tatsache geschuldet war, dass sein letzter Einkauf bereits ein paar Tage her war. Vage erinnerte sich Harry daran, in der Zeitung etwas von einem Jahrhundert-September gelesen zu haben, der so warm wie schon lange nicht mehr gewesen war.

Unbeabsichtigt glitten seine Gedanken zu Hagrid hinüber, der ihn vor ein paar Tagen zu einem Besuch in seiner Hütte auf dem Gelände von Hogwarts, wo er noch immer Wildhüter war, eingeladen hatte. Doch Harry brachte es nicht fertig, nach Hogwarts zu fliegen. Alleine schon der Gedanke daran, dass der Halbriese, der ihm seit dem Beginn seiner Schulzeit ein guter Freund gewesen war, ihn mit kummervoller Miene ansehen würde, war Grund genug, diesen Besuch nicht das kleinste bisschen in Erwägung zu ziehen.

Er konnte es einfach nicht ertragen, die Enttäuschung in Hagrids bärtigem Gesicht zu sehen, der anfangs zwar aufmunternde Sätze wie „Wird schon wieder!" und „Jetzt trinkst du erst einmal einen Tee" von sich gegeben hatte, doch schließlich in wachsender Ratlosigkeit, wie man Harry aus seiner Lethargie holen könnte, mehr und mehr von seiner Hilflosigkeit offenbart hatte. Es würde für sie beide besser sein, wenn Harry blieb wo er war.

Selbst die wenigen Treffen mit Ron und Hermine fielen ihm schwer, obgleich sie ihn mit diesem Blick bodenloser Trauer verschonten, im Gegenteil eher eine gesteigerte Energie an den Tag legten, um ihn aus seiner selbst gewählten Einsamkeit zu reißen. Mit schlechtem Gewissen dachte Harry daran, dass er sein Versprechen, mit Ron ein paar Flüge zu unternehmen, nicht eingehalten hatte. Frustriert zog er seine Füße vom Couchtisch und hätte dabei beinahe die Schale mit den Keksen mitgerissen. Im letzten Moment schwang er seinen Fuß zur Seite.

Harry machte sich nichts vor – er wusste, dass sein Verhalten weit davon entfernt war, gesund zu sein und er wusste es an sich zu schätzen, dass sich seine Freunde um ihn sorgten, auch wenn er es gar nicht verdiente. Doch es kümmerte ihn nicht genug, gegen diese Schwere anzukämpfen, die sich immer öfter einstellte und die ihn den Tag einfach am liebsten in seinen vier Wänden verbringen ließ.

Am besten, sie ließen ihn in Ruhe, bevor seine Niedergeschlagenheit womöglich auch noch sie ergriff. Schmerzlich hatte Harry Ginnys Gesicht vor Augen, das allmählich sein Leuchten verloren hatte, wenn er in der Nähe gewesen war – er wusste, dass seine Schwermütigkeit um sich griff und ihre Krallen nach allem ausstreckte, dessen sie habhaft werden konnte. Er war Ginny daher nicht böse gewesen, als sie schließlich gegangen war. Es war besser so.

Müde wanderte Harrys Blick durch den Raum und blieb schließlich an dem Schnatz hängen, dem kleinen Quidditchball, den ihm Dumbledore vermacht hatte und der eine Erinnung an sein erstes gewonnenes Quidditchspiel war. Teddy musste ihn beim Ausräumen einer Truhe versehentlich zu Tage befördert haben. Es fühlte sich für Harry merkwürdig an, die kleine goldene, mit allerhand Symbolen verzierte Kugel zu betrachten. So viele Erinnerungen verband er damit, schöne und damit gleichzeitig schmerzvolle.

Es war ein Andenken an eine Zeit, die so anders war als die jetzige, eine Zeit, in der er trotz der Lebensgefahr, in der er sich oft befunden hatte, eine unglaubliche und nie totzukriegende Energie verspürt hatte. Nun erschien es ihm kaum vorstellbar, dass er selbst das einst gewesen war. Mit der Erinnerung an die Schulzeit, den Kampf gegen Voldemort und seinen väterlichen Mentor, den alten Schulleiter Albus Dumbledore, kam die Scham, alle enttäuscht zu haben.

Die Hexen und Zauberer im Land, die in ihm einen Helden gesehen hatten, der er doch nie hatte sein wollen, seine Freunde, die ihn im Kampf so aufopferungsvoll unterstützt hatten und es dabei teilweise mit dem Leben bezahlt hatten und vor allem den Werwolf Lupin und die Aurorin Tonks, die sich während der Kriegszeit gefunden hatten. Sie hatten ihn zum Paten ihres Sohnes bestimmt, in dem ungerechtfertigten Vertrauen, dass er sich gut um den Kleinen kümmern würde, sollte ihnen etwas zustoßen.

Und nun waren sie tot, im Kampf gegen Voldemort gefallen und was tat er für Teddy? Er war genauso wenig in dessen Leben präsent, wie es sein Patenonkel für ihn gewesen war. Mit dem Unterschied, dass sich dieser gezwungermaßen als unschuldig Verurteilter in Askaban befunden hatte, während er, Harry, zu Hause saß und einfach nichts tat...

Direkt unterhalb der Rippen spürte Harry einschmerzhaftes Pochen und obwohl er keinen Spiegel vor sich hatte, der ihm sein verachtenswertes Selbst präsentiert hätte, schloss er schuldbewusst seine Augen. In der Erinnerung an Lupin und Tonks spürte er schwer die Verpflichtung, die auf ihm lastete. Er sollte, er musste etwas tun, um das ihnen gegebene Versprechen erfüllen zu können! Es konnte so einfach nicht weitergehen. Wenn es ihm bloß nicht so schwerfiele...

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Tja, so hatte sich Harry nach dem Sieg über Voldemort sein Leben bestimmt nicht vorgestellt.

Könnt ihr nachvollziehen, dass er die ganzen Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht einfach so wegstecken kann?


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