Kapitel XI
Lily saß imGemeinschaftsraum, alle anderen waren in der großen Halle beimAbendessen. Ihren Kopf hatte sie an die Fensterscheibe gelehnt. Siefühlte sich kalt an, unfähig, sich zu bewegen. In ihrem Kopf drehtees sich, als einziger Teil in ihrem Körper fühlte er sich nochnicht tot an. Immer noch hörte sie Harrys tonlose Stimme in ihremKopf.
Lord Voldemort.
LordVoldemort.
LordVoldemort.
Sie hatte diesenNamen noch nie gefürchtet. Ihre Mutter hatte ihn immer benutzt.Genau wie Harry.
Ihre Augenbrannten, aber sie weinte nicht. Sie fühlte sich bloß extremkraftlos. Als Harry ihr den Namen genannt hatte, hatte sie genicktund war weiter gegangen. Einfach so.
Und plötzlichspürte sie, wie sie Angst bekam. So plötzlich, dass sie nichtregistrierte, dass sie auf einmal am ganzen Körper zitterte und ihreHände sich um ihre Knie krallten.
Wieso fürchtetesie sich jetzt? Wieso jetzt? Das ergibt keinen Sinn, redetesie sich ein, um ihre Gedanken auf etwas anderes als auf dieplötzliche, rasende Panik in ihr zu konzentrieren, Du hättestgerade panisch sein müssen. Nicht jetzt. Und plötzlichdrifteten ihre Gedanken ab.
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DurchdringendeFinsternis umgab das Schloss, nur die schimmernden Lichter auswenigen der Fenster durchbrachen die vollkommene Schwärze undzauberten milchige Punkte in die Umgebung. Am Himmel verdeckte eineschwarze Wolke Mond und Sterne, und wenn irgendwo doch ein funkelndesLicht hervor schimmerte, schoben sich dunkle Fetzen davor, noch bevorman ihn richtig wahrnehmen konnte.
ZweiMänner standen dort, nicht zu erkennen unter wehenden Umhängen, siesahen sich ruhig an und blickten wieder zum Schloss vielleicht einenhalben Kilometer vor ihnen. Der kleinere von ihnen, wusste, dashinter höchstens einem der beleuchteten Fenster jemand wach war,wenn überhaupt.
DerFreundin, die sie besuchen wollten, ging es nicht mehr gut. Seit sieden schrecklichen Verlust erlitten hatte, hegten viele dieBefürchtung, dass es ihrer Psyche geschadet hatte. Manchmal vergaßsie nun Dinge, wie Kerzen zu löschen oder sie anzuzünden, zu essenoder zu schlafen. Und manchmal ging es ihr wieder gut.
Erspürte, wie schlechtes Gewissen in ihm aufkam. Er würde zu viel vonihr verlangen, aber sie war die einzige, der er noch vertrauenkonnte, wenn sich seine Befürchtungen bewahrheiten würden, und dannwürde sie mehr sein müssen, als eine zerstörte Frau.
„Siewird stark sein müssen", flüsterte der Größere wie zurBestätigung. „Kannst du ihr das antun?"
Derandere bewegte den Kopf, eine Mischung aus schütteln und nicken:„Ja. Nein. Ich will das alles immer noch nicht glauben. Wenn estatsächlich passieren würde..."
„Machdir nichts vor, die Wahrscheinlichkeit steht gegen uns, so schwer esmir auch fällt, das zu sagen. Außerdem wird sie hier sicher sein,falls es so weit kommen wird. Es wird alles gut, zumindest für diebeiden", sagte der erste Sprecher traurig.
Nunein eindeutiges Nicken: „Und du wirst dich um ihn kümmern?Versprichst du mir das, sorgst du für ihn, wenn etwas passierensollte?"
Dieletzten Worte waren so eindringlich und hart, dass es denAngesprochenen frösteln ließ.
„Ja,natürlich. Was denkst du von mir? Ich habe es vor Monatenversprochen und ich halte meine Versprechen, wenn du es vergessenhaben solltest!", rief der Größere der Beiden aufgebracht, „Ichlaufe nicht davon, nur weil es gefährlich wird, ich würde beidenehmen, wenn es nötig wäre."
„Ichweiß. Und ich glaube immer noch nicht, dass du recht hast."
EineWeile gingen sie schweigend die verbliebenen Meter zum Haus. Als sievor der Tür standen, klopften sie nicht. Sie würde wissen, dass diebeiden da waren, sonst hätten die Zauber um das Haus herum sieaufgehalten. Anscheinend ging es der Frau dort drinnen tatsächlichbesser.
DerGroße wandte sich schnell um, als Schritte hinter der Türeerklangen: „Sollen wir ihr von dem Schlupfloch erzählen, das wirlassen werden?"
EinenMoment, bevor die Türe sich öffnete, schüttelte der andere denKopf.
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„Lily!", riefHarry und schüttelte sie noch einmal heftig. Sie riss die Augen aufund der Schrei in ihrer Kehle, von dem sie sich sicher war, dass erkommen würde, blieb aus, nur ein leises Röcheln kam zwischen ihrenLippen hervor. In ihren Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen.
„Lily!", riefHarry noch einmal, diesmal aber leiser.
Sie waren alleineim Gemeinschaftsraum, stellte Lily dankbar fest.
„Ja?", fragtesie leise, nur ein Flüstern.
In ihrenEingeweiden zog sich alles zusammen vor Angst und Verwirrung. Harryhielt sie immer noch fest, als würde er Angst haben, sie zerbräche,wenn er loslassen würde.
„Was war das?Was hattest du gerade?", fragte er verwirrt mit einem seltsamharten Unterton in der Stimme.
Sie antwortetenicht, verlor sich in ihren Gedanken, die sie einzuholen schienen. Eswar erst einige Stunden her, seit sie das letzte Mal Ausschnitte ausdem Leben des Mannes gesehen hatte, die kurze Szene auf der Straßewar schon ungewöhnlich lang gewesen, aber das jetzt... Sie war wachgewesen, hatte nicht geschlafen wie in den schlimmsten Zeiten, alssie ihn beinahe täglich gesehen hatte.
„Was?", wollteHarry wieder wissen, nun noch dringlicher.
Seine grünenAugen blickten sie sorgenvoll an, „Musst du zu Madam Pomfrey?"
„Nein",antwortete Lily und war glücklich darüber, wie fest ihre Stimme nunwieder klang, auch wenn sie sich nicht so fühlte, „Nein, es istalles gut."
„Dann sag mir,was das gerade eben war", forderte er bestimmt. Lily warüberrascht, sie hätte sich die Festigkeit in seiner Stimme nichtvorstellen können.
„Es wurde alleszu viel. Ich hatte Angst wegen diesem Irrwicht", log sie.
Harry ließ sielos, anscheinend war er sich sicher, dass sie nun nicht mehr umkippenwürde, und schüttelte den Kopf: „Das ist eine Lüge."
Er wusste nicht,woher er diese Gewissheit nahm, aber er war sich sicher, dass das wasLily versuchte, weiszumachen, nicht der Wahrheit entsprach.
Sie sah ihn einenAugenblick entgeistert an, dann nickte sie langsam: „Ja. Ja, duhast recht. Das war gelogen."
Weiter schien sieanscheinend nicht sprechen zu wollen, tat es nach einigen Minuten, indenen sie beide keine Wort sagten noch sich bewegten leise: „Ichhabe etwas gesehen. Eine Art...Vision."
So hatte sie das,was sie träumte, noch nie genannt, aber der Begriff ,Traum'schien ihr nicht passend, nicht mehr, zum Einen, weil es so vielrealer als ein Traum war, zum anderen, weil man schlafen musste, umzu träumen. Harry ließ sich neben sie auf die Fensterbank undschaute genau wie sie aus dem Fenster und beobachtete ihr blassesSpiegelbild auf der Scheibe: „Was hast du gesehen?"
Als sieantwortete, sah sie ihn nicht an: „Ein Haus. Zwei Männer, die sichüber Verrat unterhielten und um die Sicherheit von zwei anderen. Siebefürchteten, dass einem von ihnen bald etwas passieren würde,etwas was derjenige aber nicht akzeptieren wollte."
Harry schwieg eineWeile und wieder fühlte die Stille sich nicht angespannt, sondernfriedlich an.
„Ich hatte soetwas schon öfter", sagte Lily nach einer Weile, auch wenn sienicht wusste, warum sie dem Jungen, den sie seit nicht einmal einerWoche kannte, das erzählte, „Aber nur als Traum. Ich habegeschlafen und dann sah ich Szenen aus dem Leben einer einzelnenPerson, einem Mann, manchmal war er noch jung, jünger als wir jetzt,dann wieder zwanzig. Meist waren es nur kurze Abschnitte, schnellaneinander gereiht, ohne irgendwelchen Sinn. Und ich glaube, dass daswas ich sehe, wahr ist. Oder wahr war. Ich weiß, dass es verrücktklingt. Früher war es sehr schlimm, ich habe beinahe jede Nacht dasLeben von jemand anderem geträumt, ohne zu wissen wieso. Vor einigenJahren wurde es besser, die letzten vier Jahre sah ich ihn nur einoder zwei Mal im Jahr. Aber seit ich hier bin... Ich habe in derersten Nacht geträumt. Die vergangenen Nächte. Und nun... nun seheich ihn auch, wenn ich wach bin", ihre Stimme wurde so leise, dassman sie kaum verstehen konnte. „Ich habe Angst, Harry. Ich habeAngst, dass ich verrückt werde. Denn ich sehe nicht bloß zu. Ichfühle mit."
„Wieso erzählstdu mir das alles?", fragte Harry überrascht.
Er kannte sie kaumund er wusste nicht, wieso sie ihm derartige Dinge erzählte. Sie warihm in den vergangenen Tagen etwas unterkühlt vorgekommen,unabhängig. Das sie nun so zu ihm sprach, verwunderte ihn ungemein.
Mit ihrer Antwortließ sie sich Zeit: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklichnicht. Ich vertraue dir. Aber ich weiß nicht wieso."
Sie wandte sichnun auch von seiner Spiegelung auf der Fensterscheibe ab. Er nickte,auch wenn er sich nicht sicher war, ob sie das sah. Er wusste, wie esihr ging. Seit dem ersten Moment im Zug kam sie ihm anders vor alsdie anderen Menschen, die er je kennengelernt hatte; bekannt, auchwenn er nicht wusste woher. Irgendwie war ihm von Anfang an klargewesen, dass er ihr blind vertrauen konnte, mit ihr über allesreden. Er hatte gedacht, es wäre nur Einbildung, aber dass es ihrauch so ging, zumindest zum Teil, verwunderte, beruhigte undverunsicherte ihn zugleich. Schritte auf dem Flur und Gelächterkündeten die nächsten Gryffindors an, die mit ihrem Abendessenfertig waren.
Lily richtete sichschnell auf und drehte sich auf dem Weg zu der Treppe, die zu ihrenSchlafsälen führte, noch einmal kurz um: „Erzähl bitte niemandemetwas davon. Auch nicht Ron und Hermine."
Sein Nicken ausdem Augenwinkel war das Letzte, was sie sah, bevor sie die Treppenzum höchsten Zimmer hinauf lief. Ein leises Schuldgefühl nagte inihrer Brust. Sie hatte ihm nicht alles gesagt, was sie gesehen hatte,eine Sache hatte sie ihm vorenthalten.
Aber plötzlichfragte sie sich selber wütend, wieso sie ihm alles erzählen musste.Wieso er überhaupt diese Sätze bekommen hatte. Wieso sie wieselbstverständlich davon ausging, dass er über ihre AbnormalitätStillschweigen bewahrte. Wieso? Wieso sollte sie ihm vertrauen? Siespürte wieder die Wut in sich, gewaltig und übergreifend, als sieeinen Kiesel, der noch in ihrer Tasche lag, wütend auf den Boden desSchlafsaals pfefferte.
Nach einigenSekunden, in denen sie auf den ovalen, glänzend – grauen Steingestarrt hatte, war ihre Wut verraucht, so plötzlich wie siegekommen war. Sie hatte noch nie so widersprüchliche Gefühl gehabt.
Du hast Angst,jemandem zu vertrauen Lily. Du hast so etwas noch niegekannt. Du bist einfach nur unsicher, flüsterte eineleise Stimme in ihr. Sie hatte Recht. Langsam hob sie den Kieselwieder auf. Er war aus dem See in der Nähe ihres Hauses, sie hatteihn vor Jahren von dem tiefsten Punkt geholt. Sie würde nichts vonZuhause wegwerfen. Irgendwie kamen ihr die wenigen Gegenstände, diesie mitgenommen hatte, kostbar vor, zu kostbar, als könnte sie nichtin einigen Monaten wieder einen Stein von dort aufheben.
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