Kapitel IV
Lily verabschiedete sich mit einem weiteren Eulenkeks von Pheen, dann schloss sie den Käfig wieder ab und stieg als einer der letzten aus dem Zug. Hermine, Ron und Harry gingen mit ihr.
Über den Köpfen der Menge am Bahnsteig ragte ein riesiger Mann heraus, sein Gesicht war kaum zu erkennen, da Bart und eine wilde, zottelige Mähne beinahe jedes Stück Haut bedeckten.
„Hallo ihr drei!", schrie er und winkte zu Ron, Harry und Hermine, die den Gruß jedoch nicht erwiderten, da sie von der Menge weiter getrieben wurden.
„Wer war das?", wollte Lily wissen. Auf Harrys Gesicht lag ein breites Grinsen: „Das war Rubeus Hagrid, er ist Wildhüter in Hogwarts. Er ist sehr nett und eine gute Seele, auch wenn er nicht so aussieht, aber wenn er dich einmal bittet, ihm bei seinen Haustieren zu helfen, solltest du besser 'Nein' sagen."
Lily starrte ihn an: „Wieso?"
„Weil Geschöpfe, die er interessant findet, meist rechtswidrig und gefährlich sind", murmelte Ron und sein Gesicht wurde bei der bloßen Erinnerung bleich, „Weißt du noch die Acromantula? Oder den Drachen?"
„Ich verstehe", kicherte Lily. Sie fühlte sich wieder normal, nicht so kalt und objektiv wie im Zug,
„Also, möglichst keine von Hagrids Wünschen erfüllen, wenn es darum geht, eins von seinen Tieren zu pflegen. Aber jetzt müsst ihr mir einmal erzählen, wie er überhaupt an das Drachenei kam. Die gehören doch zu den Nicht verkäuflichen Gütern Klasse A."
Ron, Hermine und Harry fingen an, die Geschichte zu erzählen, wobei sie sich nach höchstens zwei Sätzen unterbrachen und ein vergessenes Detail beisteuerten. Als sie an dem Punkt angekommen waren, wo Hagrid ihnen erzählte, er habe das Ei beim Spielen gewonnen, kamen sie an dem schlammigen Feldweg an, auf dem ungefähr einhundert Kutschen in einer unordentlichen Reihe standen. Vor ihnen waren je zwei pferdeähnliche Kreaturen eingespannt, pechschwarz und so dürr wie das Skelett eines normalen Pferdes, tatsächlich sah es aus, als wären es nur Knochen, über die man eine schwarze Haut gespannt hatte. Thestrale. Lily hatte über sie gelesen, aber nicht gewusst, dass sie in Hogwarts vor die Kutschen gespannt wurden. So wenig wie Harry, Hermine und Ron sie beachteten, wussten sie nichts von ihrer Existenz. Sie hatten noch niemanden sterben sehen.
Lilys liebevoll auf die Tiere gerichteter Blick erstarrte.
Sie hatte auch niemanden sterben sehen. Noch nie. Ihr ganzes Leben hatte sie in den Bergen verbracht, zusammen mit ihrer Mutter. Ihr Vater war vor ihrer Geburt gestorben. In all den Jahren hatte sie nur so wenige andere Menschen gesehen, meist nur aus der Ferne. Und noch nie hatte sie gesehen, wie einer starb.
„Lily?", Hermines Stimme riss sie aus ihrer erschreckenden Erkenntnis, „Ist alles in Ordnung?"
Die Augen der Angesprochenen flatterten nach oben, wo Hermine ihr gerade die Tür zur Kutsche aufhielt. Sie war eine der letzten, die noch draußen standen.
Schnell trat sie in die dunkle, nach Moder und Stroh riechende Kutsche und nickte: „Ja, natürlich."
Während der Fahrt redeten Harry, Ron und Hermine weiter über Hagrid und seinen Drachen. Unbewusst wurde aus der Geschichte über Hagrid eine über den Stein der Weisen. Lily versuchte, sich in den chaotischen Erzählungen von dreiköpfigen Hunden, riesigen Schachbrettern, tödlichen Tränken und der List im Spiegel Nerhegeb zu verlieren, aber fünf Wörter hämmerten unaufhörlich in ihrem Kopf.
Wen habe ich sterben sehen?
„Lily, guck!", schrie Harry auf einmal und streckte selbst seinen Kopf aus dem Fenster, um das herannahende Schloss wieder zu sehen. Auch Lily beugte sich vor und sah Hogwarts zum ersten Mal.
Es war ein riesiges Schloss, das auf einer Anhöhe lag, an jeder erdenklichen Stelle waren Zinnen und Türme gebaut, von denen sich drei wie Nadeln in den Himmel streckten und die anderen überragten, Gryffindor, Ravenclaw und Astronomie. Kurz bevor sie das Haus im Gebirge verlassen hatte, hatte sie diese Stelle in Die Geschichte von Hogwarts gelesen. In vielen der Zimmern brannte Licht, so dass es aussah, als würden tausende von Lichtern im See schwimmen.
Sie passierten ein gewaltiges, geflügeltes Tor, das von zwei Ebern bewacht wurde, die Zufahrt von Hogwarts. Im Innenhof des Schlosses blieben die Kutschen stehen und die vier stiegen aus, genau wie die anderen waren sie wieder und wieder überwältigt von der Schönheit der Schule, auch wenn alle außer Lily das Schloss schon einmal gesehen hatten.
Das zweite Tor war genauso groß wie das Erste, viele Meter über ihren Köpfen schloss es sich wieder. Der Raum, in den sie traten, war riesig, aber die Halle rechts von ihnen, in die die Schüler nun herein strömten, war noch viel größer.
Eine hochgewachsene Frau mit strengem Gesicht und straff gebundenem Knoten in den Haaren stritt gerade mit einem Geist, einem Mann mit dunklen und gemein blickenden Augen, der mit Armen voller mit Wasser gefüllter Ballons bewaffnet war. Er zog schließlich mit missmutigem Gesicht wieder ab.
Die Frau eilte auf Hermine, Ron, Harry und Lily zu und scheuchte Ron mit einer harschen Handbewegung fort: „Mr Potter, Miss Granger und Miss Middletal, kommen Sie drei bitte einmal auf ein Gespräch in mein Büro. Weasley, Sie gehen in die Große Halle und warten dort."
Harry starrte die Lehrerin beunruhigt an. Sie gab ihm so oft das Gefühl, etwas Falsches getan zu haben.
Als sie seinen Blick bemerkte verzog sich ihr strenger Mund zu einem kleinen Lächeln: „Kein Grund, so besorgt zu gucken, Mr Potter. Sie haben nichts verbrochen, Madam Pomfrey möchte lediglich einige Worte mit Ihnen wechseln, aufgrund des Vorfalls im Zug."
Harrys Magen entkrampfte sich wieder, auch wenn er vor Scham rot anlief. Es war schon schlimm genug, dass er überhaupt das Bewusstsein verloren hatte, musste dann auch noch so ein Aufstand gemacht werden?
Professor McGonagall bugsierte ihn zusammen mit Lily und Hermine einige Treppen hinauf ihn ihr Büro, wo man ihre Liebe für karierte Tücher erkennen konnte. Harry redete während des gesamten Weges auf sie ein, sagte, dass er keine Hilfe brauche, dass schon alles Nötige getan sein, aber Professor McGonagall beachtete ihn nicht weiter. In dem Raum stand noch eine weitere Frau in Schwesternuniform, Madam Pomfrey.
Ein Blick auf Harry genügte, und sie stöhnte: „Du bist es? Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt? Etwas gefährliches, sicher."
McGonagall unterbrach ihr geschäftiges Treiben: „Es war ein Dementor, Poppy."
Madam Pomfrey erstarrte: „Ein Dementor? Wirklich, sollten angeblich die Schüler beschützen, nicht sie angreifen! Nun ja, aber er wird sicher nicht der erste sein, der zusammenklappt, wenn diese Monster hier herumschweben."
Sie tauschte einen finsteren Blick mit McGonagall und befühlte Harrys Stirn und murmelte dabei: „Vollkommen unterkühlt. Natürlich. Wo habe ich sie ...?"
Mit ihrem Zauberstab durchsuchte sie ihre Notfalltasche, die vor Tränken, Salben und Pülverchen nur so überquoll, bis sie einen braunen Riegel Schokolade gefunden hatte und ihn Harry hinhielt, der abwehrend die Hände hob: „Ich hab schon welche bekommen, Professor Lupin hat sie mir gegeben, nachdem ich .... nun ja... nachdem der Dementor gekommen ist."
„Professor Lupin?", Madam Pomfrey runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, „Nun ja, dann haben wir wohl endlich wieder einen Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste, der sein Fach versteht, nicht wahr, Minerva?"
Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, in dem Erinnerung mitklang.
McGonagall nickte knapp: „Mr Potter, gehen sie bitte hinunter in die Große Halle, ihre Freunde werden gleich nachkommen."
Harry verließ rasch den Raum und hastete den Weg zur Großen Halle hinunter.
Die Lehrerin wandte sich nun Lily zu: „Sie werden wissen, dass es ziemlich ungewöhnlich ist, im Dritten Jahr in Hogwarts einzusteigen? Diese Schule hat ein hohes Niveau, das nicht viele Eltern in ihrem Unterricht halten können."
Sie nickte: „Ja, aber ich bin mir sicher, dass ich alles nachholen kann, was ich verpasst habe."
„Davon gehe ich auch aus. Aber ich habe eher eine Frage an Sie: Wieso haben Sie überhaupt beschlossen, auf diese Schule zu gehen?"
„Ich habe das nicht beschlossen", sagte Lily und sah, wie McGonagalls Augenbrauen in die Höhe schossen, „Das war meine Mutter. Aber ich war auch glücklich einmal andere Hexen und Zauberer in meinem Alter zu treffen."
Die Professorin wirkte milde überrascht, sprach aber nicht weiter über diesen Punkt: „Ich habe gerade eben noch eine Eule von Ihrer Mutter erhalten, die Sie um Vorsicht bat und Ihnen widerrechtliche Spaziergänge auf dem Schulgelände und außerhalb des Schulgeländes verbot und die Lehrer bat, ein Auge auf Sie zu haben. Haben Sie eine Ahnung, wieso?"
In Lilys Kopf schwirrte es. Wieso bat ihre Mutter sie so zur Vorsicht? In den Bergen war sie oft viel weiter gegangen als gewöhnlich, und es hatte niemanden gestört. Sie schüttelte den Kopf, so dass ihre Locken wippten: „Ich wüsste nicht, wieso..."
Offenbar war McGonagall auch mit dieser Antwort zufrieden und schickte sie raus, wies sie aber an, auf sie zu warten. Nach wenigen Minuten trat Professor McGonagall zusammen mit Hermine wieder aus dem Büro, welche auch eilig in Richtung Halle lief, wie Harry einige Zeit zuvor. McGonagall wartete noch einige Augenblicke, bis Hermine außer Sicht war, und sah dann noch einmal Lily prüfend an. Ihre harten, grauen Augen musterten Lily, erst kalt und ernst, dann flammte ein Hauch von Überraschung hinter den quadratischen Brillengläsern auf, der aber sofort verschwand, so schnell, dass Lily beinahe glaubte, sie hätte es sich nur eingebildet.
„Kommen Sie, Miss Middletal. Die Zeremonie wird bald beginnen", sagte die Lehrerin ernst mit einem rauen Unterton, dann drehte sie sich um und ging ohne ein weiteres Wort die Gänge wieder hinunter.
In einer kleinen Kammer neben der Großen Halle stand ein Meer aus Köpfen in schwarzen Uniformen, das gerade dem letzten Geist dabei zusahen, wie er durch die Wand verschwand. Lily überragte jeden der Erstklässler, wenn aber auch nur knapp, die ihre Aufmerksamkeit nun alle langsam McGonagall zuwandten, die wartete, bis es so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen gehört.
„Willkommen in Hogwarts, einer der berühmtesten Schulen für junge Hexen und Zauberer auf der ganzen Welt", fing sie schließlich an, „In Kürze wird das Festmahl zu Beginn des Schuljahres anfangen, aber bevor Sie diesem beiwohnen können, muss jeder einzelne von Ihnen seinem oder ihrem jeweiligen Haus zugeordnet werden, eine sehr wichtige Zeremonie, denn das Haus hat während eurer Schulzeit den Status als Familie. Ihr werdet gemeinsam, und manchmal mit einem anderen Haus zusammen, Unterricht haben, an einem Tisch in der Großen Halle essen, im gleichen Schlafsaal schlafen und eure Freizeit im Gemeinschaftsraum verbringen.
Jedes der vier Häuser, Ravenclaw, Hufflepuff, Gryffindor und Slytherin, hat seine eigene, ehrenvolle Vergangenheit und hat bedeutende Hexen und Zauberer hervorgebracht. Wenn Sie sich während Ihrer Schulzeit anstrengen und gute Leistungen erbringen, werden ihrem Haus Punkte hinzugefügt, sollte einer von Ihnen aber Regeln missachten oder sonstige Frevel begehen, werden Ihrem Haus Punkte abgezogen. Das Haus, das am Ende des Schuljahres die meisten Punkte gesammelt hat, gewinnt den Hauspokal, eine große Ehre.
Ich hoffe jeder von Ihnen wird eine Bereicherung für sein Haus sein. In wenigen Minuten wird die Zeremonie beginnen, ich werde Sie holen, wenn alles bereit ist. Sorgen Sie in der Zwischenzeit dafür, dass sie ordentlich aussehen."
Ihr Blick ruhte einen Moment auf einem Mädchen mit wirren Haaren, die ihr wild ins Gesicht fielen und und einem Jungen, mit einem großen, braunen Fleck auf dem Pullunder.
Kaum hatte sie den Raum verlassen, fing bei einigen der Schüler wildes Getuschel an, während andere mit bleichem Gesicht und wackeligen Knien zur Türe starrten, während der Junge mit dem schmutzigen Oberteil verzweifelt versuchte, den Fleck loszuwerden, schien es das Mädchen nicht zu interessieren, wie ihre Haare aussahen.
„Kommst du auch in die erste Klasse?", fragte ein anderes Mädchen, groß für ihr Alter mit zwei dicken, braunen Zöpfen.
Lily schüttelte den Kopf: „Nein, in die dritte, ich bin bis jetzt zu Hause unterrichtet worden."
Der Junge kämpfte inzwischen mit den Tränen, weil der Schmutz nicht verschwand, sondern lediglich blasser wurde und noch mehr verwischte. Lily hob den Zauberstab einige Zentimeter, so dass niemand es bemerkte, und murmelte eine Formel, so leise, dass es kaum mehr als eine winzige Lippenbewegung war. Der Junge starrte entgeistert auf den nun wieder vollkommen sauberen, dunkelblauen Stoff.
„Wie Zauberei...", murmelte er. Anscheinend war er muggelstämmig und hatte sich noch nicht an die immer währende Magie gewöhnt. Einige der Erstklässler fingen an zu prahlen, was für große Zauberer sie werden wollten, und wurden dabei immer lauter.
„Ruhe", donnerte die Stimme der Lehrerin auf einmal und es wurde still, während sie an den Schülern vorbeimarschierte und sie alle eines schnellen Inspektion unterzog, „Stellen Sie sich bitte in einer Reihe auf. Miss Middletal, sie kommen zu mir."
Lily spürte, wie sie von einer seltsamen Aufregung gepackt wurde, einer Aufregung, die ihr bis jetzt fremd gewesen war. Auf einmal fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, das Angst hat, vor eine große Menge zu treten. Sie konnte nicht sagen, wie sehr sie das störte, deswegen hielt sie den Kopf demonstrativ gerade, als sie zur Spitze des Zuges ging, wo die Lehrerin ungeduldig auf eine goldene Uhr starrte. Als die Prozession aus ungefähr vierzig Schülern auf die gewaltige, doppelflüglige Türe zusteuerte, öffnete sie sich leise knarzend und ohne von jemandem bewegt zu werden.
Der Ort war fremdartig, aber fühlte sich auch auf seltsame Weise vertraut an. Die Decke war so hoch, dass sie gar nicht vorhanden schien, was durch den Zauber, der auf ihr lag, nur bestärkt wurde, denn anstatt dort oben Stein oder Holz zu erblicken, tummelten sich Sterne an der Decke. Vier große, lange Tische aus wuchtigem, dunkelbraunen Holz standen parallel zueinander, und an jedem saßen rund siebzig Schüler, die sich alle neugierig auf ihren Sitzen drehten, als die neuen Schüler eintraten. Vor jedem Schüler stand ein goldener Kelch und ein ebensolcher Teller, die im Licht von tausenden, frei in der Luft schwebenden Kerzen schimmerten. Am Ende der Halle stand leicht erhöht noch ein Tisch, der senkrecht zu den anderen stand und an dem die Lehrer saßen. Ein Flüstern ertönte von allen Seiten, Freunde stellten sich gegenseitig ihre Geschwister vor, man redete über Bekannte oder seine eigenen Auswahl. Und Lily hörte deutlich, wie man über sie redete.
Seit Jahrzehnten war niemand mehr nach dem ersten Schuljahr eingeschult worden. Alle Neuen gingen bis kurz vor das Podium, auf dem die Lehrer saßen und stellten sich links und rechts von einem Stuhl auf, auf dem ein alter Hut lag. Lily wusste, warum er dort war; er teilte die neuen Schüler in die Häuser ein.
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