Kapitel III

Lily wirkte, als wolle sie noch etwas erwidern, aber da kam der Zug auf einmal mit einem Ruck zum Stehen und Lily und Hermine, die nicht mit dem Rücken zur Lokomotive saßen, wurden tief in die plüschigen Sitze gedrückt, während Harry und Ron beinahe auf ihnen landeten. Der Kater fauchte und Pheen in ihrem geöffneten Käfig, der neben dem einer weißer Schneeeule stand, stieß einen empörten Schrei aus und flatterte aufgebracht mit den Flügeln.

Ron streckte sich auf seinem Sitz: „Endlich da! Ich habe einen riesigen Kohldampf... Ein Festmahl könnte ich jetzt gut gebrauchen." Lily richtete sich wieder gerade auf und blickte auf die silberne Scheibe an ihrem Handgelenk, die nur durch drei dünne silbergraue Bänder befestigt wurde. Die Zeiger auf dem Ziffernblatt zeigten gerade kurz nach sechs.

„Nein", murmelte sie beunruhigt, „Es ist noch eine Stunde bis nach Hogwarts, das hat auf jeden Fall meine Mutter gesagt." Auch Harry sah auf eine graue, ausgeleierte Armbanduhr und nickte: „Es ist zu früh. Vielleicht haben wir eine Panne."

Er richtete sich auf und zog die Türe auf, auf dem Gang erschienen weitere Köpfe, die auch wissen wollten, wieso der Zug angehalten hatte. Plötzlich ruckelte der Zug und alle, die gerade noch aus ihren Abteilen gesehen hatten, wurden wieder in sie hinein geschleudert. Die Türen fielen synchron und scheppernd wieder zu. Einige Koffer waren aus den Netzen gefallen und der von Lily, der immer noch auf dem Boden stand, fiel Hermine beinahe auf die Füße. Pheen flatterte empört aus dem Käfig mit den dünnen Silberstreben und landete wieder auf Lilys Schulter. Alle Lampen erloschen mit einem Schlag.

Eine schwarze Gestalt glitt an dem Fenster vorbei. Auch wenn es von Dunst beschlagen war, war den Vier klar, dass das Wesen keinesfalls menschlicher Herkunft sein konnte. Lily spürte ein seltsames, dumpfes Pochen in ihrem Magen, so als würde alles, was sie fühlte, mit einem Mal aus ihrem Körper gesaugt worden. Eisige Ruhe überkam sie, als auch die Sonne endgültig hinter den Wolken verschwand und alles schwarz wurde.

„Denkt ihr, was auch immer das ist, steigt gerade ein?", fragte Hermine piepsig. Im Gegensatz zu Lily zitterte sie wie Espenlaub. Der Zug ruckelte erneut. Lily nickte, auch wenn die anderen es in der Dunkelheit nicht sehen konnten, ihre Stimme war genauso hart und kalt wie sie sich fühlte: „Ja."

Die Tür des Abteils wurde aufgestoßen, und jemand stieß hart gegen Harrys Beine.

„Sorry, wollte ich nicht, wisst ihr was hier los ist?", ertönte eine, ein wenig plumpe und sehr aufgebrachte, Stimme.

„O, hallo Neville", murmelte Harry und tastete nach dem Stoff von Nevilles Umhang um diesen wieder auf die Beine zu ziehen.

„Harry bist du das?", wollte die Stimme wieder wissen. „Habt ihr eine Ahnung, warum wir anhalten?"

„Nein, aber setz dich erst einmal. Gleich geht es bestimmt weiter, wir haben wohl nur eine Panne", versuchte Ron Neville, und vor allem sich selbst, zu beruhigen. Ein wütendes Fauchen ertönte, als Neville der Aufforderung nachging. Anscheinend hatte er sich auf Hermines Kater setzen wollen.

„Ich gehe zum Lokführer", meinte Hermine bestimmt, aber ihre Stimme zitterte noch immer. Als sie die Türe öffnete, prallte ein Körper gegen sie. Hermine taumelte zurück und einzig die Tatsache, dass Lily den Saum ihrer Jacke festhielt, verhinderte, dass sie hinfiel. Seit die Lichter ausgegangen waren, stand sie schon fest und starr, wie eine Statur, der Zauberstab war nun nicht mehr in ihrem Jackenärmel verborgen, sondern lag in ihrer Hand. „Wer war das?", fauchte Hermine wütend.

„E – Entschuldige Hermine", wimmerte eine zittrige Stimmte.

„Ginny?", fragte Harry verwirrt, „Was machst du hier?"

Ginny hörte sich an, als könne sie nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken: „I – Ich suche R – Ron."

„Hier, setz dich", forderte ihr Bruder sie auf, mit einem beschützenden, besorgten Unterton auf. „Nein, nicht hier, hier bin ich", meinte er eine Sekunde darauf empört.

„Aua, nein, hier auch nicht!", rief Neville einen Moment danach. Lily griff mit ihrer Hand an die Stelle, wo sie Ginnys Arm vermutete, und zog diese auf den freien Platz hinter ihr. Harry hörte Hedwig laut schreien.

„Ruhe", zischte auf einmal eine leise, heisere Stimme. Alle erstarrten in der Bewegung. Ein Knistern ertönte, dann flammte etwas auf. Professor Lupin hatte sich aufgerichtet und seine linke Hand brannte, doch es schien ihm nichts auszumachen. Die Flammen beleuchteten sein Gesicht, es war von Falten durchzogen und gräulich, aber zweifellos noch nicht alt, auch wenn die grauen Strähnen in seinen braunen Haaren anderes zu sagen schienen. Trotz der Erschöpfung, die seine Körperhaltung ausstrahlte, glitzerten seine Augen wachsam und argwöhnisch. Sie schweiften über jeden der jungen Hexen und Zauberer, und blieben bei Harry und Lily einen Moment länger ruhen als bei den anderen.

„Bleibt wo ihr seid", sagte er leise und hielt die flammende Hand vor sich ausgestreckt. „Ich gehe zum Lokführer." Langsam ging er in Richtung der Tür. Aber sie glitt auf, bevor er sie erreicht hatte.

Das erste, was Lily von dem Wesen sah, das das Abteil betrat, war seine Hand. Sie war schwarz, und erinnerte an tastenden Spinnen, die den Rahmen der Türe umschlossen. Sie waren verschorft und wirkten verwest, als hätte sie schon Jahre unter der Erde gelegen und wäre wieder ausgegraben worden. Der Hand folgte eine weitere, und nun sah man die ersten Fetzen von einem schmutzig – schwarzen Umhang, von dem Lumpen voran wehten, danach einen Körper, dessen oberer Teil vielleicht menschlich wirken könnte, wäre der Kopf, der bis zur Decke reichte, nicht vollständig unter einer Kapuze verborgen, unter der rasselnde, keuchende Atemzüge hervordrangen. Anstatt Beinen besaß das Ding nur die über den Boden schwebenden Fetzen des Umhangs. Abgesehen von seinem rasselndem Atem machte er keine Geräusche. Eine der toten Hände streckten sich nach Harry aus, und Lily verspürte den Drang das Wesen von ihm weg zu ziehen, aber bevor sie es tatsächlich tat, zog sich die tastende Hand wieder unter den Umhang zurück.

Eine Wut durchströmte sie, als das Wesen, ein Dementor, sie wusste nicht, woher sie das Wort kannte, tief Luft holte, so als wollte er alle Luft in der Umgebung in sich saugen, und vielleicht nicht nur die Luft. Die Kälte durch den Dementor wurde noch stärker, undurchdringlicher, und Lily fühlte, wie sie sich auch in ihr ausbreitete, ihre Gedanken lähmte und Erinnerungen in ihre wach rief, die sie längst vergessen hatte, und auch jetzt nicht benennen konnte.

Ihre Wut, ein so untypisches Gefühl für sie, wuchs immer weiter und schien den Siedepunkt zu erreichen. In Lupins Augen spiegelte sich Leere, aber immer noch Gefühl, wenig, aber immer noch mehr als bei Ginny, Neville, Ron und Hermine, die vollkommen abwesend aussahen, während Harrys Augen sich nach innen drehten und sein Mund sich zu einem stummen Schrei öffnete, sein gesamter Körper zitterte. Dann kippte er um.

Das schien Lupin endlich aus seine Trance zu reißen, und er stieg über Harrys am Boden liegenden Körper, seine Stimme schien gedämpft in Lilys Ohren, während in einer Ecke ihres Kopfes Erinnerungen vorbeizogen, von deren Existenz sie nicht wusste, die aber eine so rasende Wut in ihr entflammten, dass sie sich der tauben Leere, die so erlösend und heil bringend erschien widersetzte.

„Keiner hier versteckt Sirius Black unter seinem Umhang. Geh", sein gezückter Zauberstab war auf den Dementor gerichtet, der sich nicht rührte. Sein unter der Kapuze verborgenes Gesicht wandte sich Lily zu. Hoffnungslosigkeit überflutete sie, aber etwas an in ihrer Brust schien ihr Mut zu geben, Kraft. Auch sie hob ihren Zauberstab, wusste nicht, was sie für Worte sprechen sollte, aber trotzdem öffnete sie den Mund, doch bevor ein Laut aus ihm entweichen konnte, hörte sie, wie Lupins heisere Stimme sprach: „Expecto Patronum."

Aus der Spitze seines Zauberstabes brach ein silbern und weiß schimmernder Wolf hervor, der sich auf den Dementor stürzte, und ihn mit seinen Klauen und Zähnen zurückzudrängen schien. Der Dementor verschwand. Lupin senkte seinen Zauberstab und richtete ihn auf die Lampe an der Decke, die wieder goldenes Licht spendete. Dann kniete er sich neben Harry. Die anderen erwachten langsam aus ihren Albträumen.

Ginny fand als erste die Sprache wieder: „Was ist mit ihm? Was war das da gerade?"

„Ein Dementor. Eine Wache aus Askaban. Er suchte Sirius Black", antwortete Lily, die Worte waren aus ihrem Mund gerutscht, bevor sie sie aufhalten konnte.

„Du... du meinst diese Wesen, die alles Glück aus einem heraussaugen?", fragte Hermine ängstlich.

„Genau die", erwiderte Lupin düster. Seine Augen waren weiterhin auf Harry geheftet. Langsam richtete er sich auf und fing an, in der Außentasche seines Koffers etwas zu suchen. Lily blinzelte einige Male, um sich wieder an das helle Licht zu gewöhnen. Erst in diesem Moment spürte sie sich wieder richtig. Mit leichtem Unbehagen fasste sie sich an ihren linken Unterarm, der einen stechenden Schmerz aussandte. Sie konzentrierte sich auf Harrys Gesicht, um sich von dem bekannten Ziehen abzulenken. Hermine richtete gerade ihren Zauberstab auf ihn und ließ ihn auf eine der Sitzbänke schweben. Professor Lupin hatte gefunden, was er gesucht hatte. Gerade flatterten Harrys Augenlider und Ron gab ihm eine schallende Ohrfeige. Harry öffnete die Augen ganz und fühlte, wie ihm kalter Schweiß über das Gesicht lief.

„Was...?", stieß er hervor, während er nach seiner Brille tastete, um wieder scharf zu sehen. Seine Umgebung vibrierte leicht und die Lampen brannten. Also fuhren sie wieder. Ron und Hermine hatten sich mit besorgten Gesichtern über ihn gebeugt und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Lily ihn anblickte, mit dunklen, leuchtenden Augen, die genau wie Rons und Hermines besorgt wirkten. Neville und Ginny standen einige Schritte vor ihr, auch sie wirkten entsetzt. Professor Lupin hantierte gerade an seinem Koffer herum.

„Geht es dir wieder besser?", fragte Hermine zitternd.

Harry nickte: „Ja. Ich denke schon. Wo ist... Was ist... dieses Wesen? Wer hat geschrien?"

„Geschrien?", fragte Hermine, ihr Gesicht wurde noch besorgter, „Niemand hat geschrien."

Er richtete sich aus seiner liegenden Position auf und blickte sich um. Niemand schien ihr zu widersprechen.

„Aber ich habe Schreie gehört", beharrte er. In seinem Kopf drehte sich alles und er dachte, gleich wieder umkippen zu müssen, erfüllt von tiefer Hoffnungslosigkeit, als ein süßlicher, warmer Geruch das Abteil erfüllte. Professor Lupin hatte eine gigantische Tafel Schokolade in Stücke gebrochen und reichte das größte Stück Harry. Er nahm es, aß aber nicht.

„Was war das für ein Ding?"

„Eine Wache aus Askaban. Ein Dementor", antworte der Mann, während er die restliche Schokolade den anderen reichte, „Entschuldigt mich, aber ich muss mit dem Lokführer sprechen."

Er wandte sich ab und ging. Kurz bevor er die Türe hinter sich schloss, sagte er noch einmal: „Iss. Die wird dir helfen."

„Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?", fragte Hermine misstrauisch.

„Nein. Seid ihr auch ohnmächtig geworden?", wollte Harry unvermittelt wissen.

Schweigen. Das war deutlicher als jede Antwort; Nein, niemand von ihnen war umgekippt. Trotzdem, keiner von ihnen sah besonders gut aus, Hermine und Ron waren bleich, Ginny wimmerte in eine Ecke zusammengekauert und schluchzte leise vor sich hin. Nevilles Hände zitterten und er wirkte, als würde er auch gleich umkippen. Einzig und allein Lily sah nicht aus, als wäre sie einem Zusammenbruch nah, sie saß gerade und war weiß im Gesicht, aber das war sie die ganze Zeit schon gewesen, die ganze Zeit hatte sie wie blutleer gewirkt. In ihren Augen hatte sich eine Mauer aufgebaut. Weder Neville noch Ginny fragten sie, wo sie herkam, Hermine schilderte so knapp wie möglich, was passiert war.

Nach einer knappen Viertelstunde stand Lily wortlos auf, und ging auf die Toilette, um sich umzuziehen Hermine folgte. Sie wirkte noch immer ungeheuer bleich.

„Die Uniformen sind schön, oder?", fragte Hermine auf dem Rückweg, scheinbar auf Ablenkung erpicht. Lily sah an sich herab, eine schwarze Hose, die unter den Knien weit ausgestellt war, bei Hermine aber nicht, ein weißes Hemd und darüber eine Jacke.

„Ja. Sehr schön. Ich frage mich schon, in welches Haus ich komme", murmelte Lily, auch wenn es ihr ziemlich egal war.

„Oh, hoffentlich nach Gryffindor!", meinte Hermine begeistert. Lily zuckte mit den Schultern.

Laut ihrer Uhr waren es nur noch zehn Minuten, bis zu ihrer Ankunft in Hogwarts, als Professor Lupin wieder in das Abteil trat. Als er das Stück Schokolade in Harrys Hand sah, das dieser immer noch umklammert hatte, lächelte er: „Glaub mir, ich habe die Schokolade nicht vergiftet..."

Zögernd nahm Harry ein Stück von der braunen Tafel, die von den Minuten in seiner Hand schon etwas matschig geworden war, und bemerkte überrascht, wie sich in seinem ganzen Körper ein wohliges Kribbeln ausbreitete, von den Fingerspitzen bis zu den Zehen und das kränkliche Gefühl in seinem Herz verschwinden ließen. Lupin nahm seinen Koffer und sagte, kurz bevor er das Abteil verließ: „In zehn Minuten sind wir da."

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