16.12

Regulus Black wusste nicht, warum er sich immer wieder in diese Situationen brachte. Das knirschende Geräusch der alten Stufen, die zum Eulenturm führten, hallte in der stillen Nacht wider. Es war fast Mitternacht, und er hätte längst im Bett liegen sollen, statt einen verbotenen Brief zu verschicken.

Mit zittrigen Händen hielt er die Pergamentrolle, die die Worte trug, die er nie laut aussprechen konnte. Es war ein Brief an niemanden, ein Versuch, seine Gedanken zu ordnen, ohne sie in seinem Kopf verharren zu lassen. Ein Trick, den er sich angewöhnt hatte, seit alles in seinem Leben so kompliziert geworden war.

Doch als er die letzte Stufe erreichte und die schwere Tür zum Eulenturm öffnete, erstarrte er.

James Potter stand da, von Mondlicht beleuchtet, die Arme locker verschränkt, als hätte er alle Zeit der Welt.

„Regulus," sagte James, und ein schiefes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Hast du dir verlaufen? Oder bist du wirklich hier, um mir einen Gute-Nacht-Brief zu schicken?"

Regulus' Gesicht verdüsterte sich sofort, und er steckte den Brief schnell hinter seinen Rücken. „Das geht dich nichts an, Potter."

James trat näher, seine braunen Augen funkelten neugierig. „Oh, aber es tut mir weh, wenn du Geheimnisse vor mir hast."

„Wir haben kein wir, Potter," entgegnete Regulus scharf, sein Blick wie eine kalte Klinge. „Du bist bloß ein aufgeblasener Gryffindor, der denkt, er hätte das Recht, überall reinzuplatzen."

James hob die Hände, als würde er sich ergeben. „Vielleicht. Oder vielleicht habe ich einfach gemerkt, dass du oft hier bist, wenn keiner hinsieht. Hast du so viel zu verbergen, Reg?"

„Nenn mich nicht so," knurrte Regulus, und seine Finger krampften sich um das Pergament.

„Warum nicht?" James' Stimme wurde weicher, und er machte noch einen Schritt nach vorne. „Es passt zu dir. Und es klingt besser als ‚Black'. Weißt du, das erinnert mich immer an deinen Bruder."

„Sirius hat nichts mit mir zu tun." Regulus' Stimme klang dünn, aber scharf.

„Das sehe ich anders." James lehnte sich gegen die hölzerne Brüstung, die von den Jahren gezeichnet war. „Ihr seid euch ähnlicher, als du denkst."

„Ich bin nichts wie er," fauchte Regulus und machte einen Schritt nach vorne, ehe er es sich anders überlegte. James lächelte wieder, dieses Grinsen, das Regulus aus der Fassung brachte.

„Nein, das bist du wirklich nicht," sagte James, leise diesmal.

Es entstand eine Spannung, die Regulus nur schwer ignorieren konnte. Seine Finger lockerten sich um den Brief, und er senkte den Blick. „Warum bist du überhaupt hier?"

James zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte ich dich sehen."

Regulus lachte kalt. „Ja, sicher. Und vielleicht bin ich hier, weil ich ein großer Fan von Mondscheinromantik bin."

„Sind wir das nicht alle?" James grinste, aber es hatte etwas Weiches, das Regulus nicht deuten konnte. „Sag mir etwas, Regulus: Was suchst du hier oben? Ehrlich."

Regulus öffnete den Mund, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er wollte lügen, aber James sah ihn an, als wüsste er längst die Wahrheit.

„Du verstehst es nicht," murmelte Regulus schließlich.

„Dann erklär's mir." James' Stimme klang sanft, fast flehend, und er trat noch näher. Jetzt war nur noch ein Schritt zwischen ihnen.

„Es gibt nichts zu erklären," sagte Regulus, aber er wich nicht zurück.

„Oh, ich glaube schon." James lächelte wieder, doch diesmal war es fast herausfordernd. „Du bist ein wandelndes Rätsel, Regulus Black. Und ich habe immer eine Schwäche für Rätsel gehabt."

Regulus wusste nicht, ob er lachen oder schreien sollte. Stattdessen schnaubte er nur und sagte: „Vielleicht bist du einfach nur ein Narr."

„Möglich." James' Stimme war leise, und dann tat er etwas, das Regulus völlig aus dem Konzept brachte: Er griff sanft nach der Hand, die den Brief hielt, und löste sie. Der Pergamentstreifen fiel zu Boden, vergessen.

„Was tust du?" fragte Regulus, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht," murmelte James, sein Blick wanderte zwischen Regulus' Augen hin und her. „Aber ich weiß, dass ich dich faszinierend finde. Und dass du mich in den Wahnsinn treibst."

Regulus konnte nicht antworten. Die Worte brannten wie Feuer, aber sie fühlten sich an, als gehörten sie in eine andere Welt.

„Und ich glaube, du weißt das auch," fügte James hinzu, bevor er sich leicht vorbeugte.

Regulus hatte genug Zeit, zurückzuweichen, ihn aufzuhalten – aber er tat es nicht. Stattdessen ließ er zu, wie James ihn küsste, zuerst sanft, dann etwas fester, als würde er testen, ob Regulus ihn wegstoßen würde. Doch das tat er nicht.

Als sie sich trennten, waren beide außer Atem, und James grinste. „Also? Hast du mich jetzt verflucht?"

„Vielleicht," murmelte Regulus, seine Lippen noch immer kribbelnd. „Aber vielleicht bin ich auch einfach nur zu müde, um es zu tun."

James lachte, leise, und zog sich etwas zurück. „Dann werde ich versuchen, dich noch ein bisschen müder zu machen."

„Du bist unerträglich," sagte Regulus, aber seine Stimme war weich, fast sanft.

„Ich weiß," antwortete James mit einem Augenzwinkern.

Und so blieben sie im Eulenturm, die Nacht schützend um sie gelegt, und die Welt fühlte sich für einen Moment weniger kompliziert an.

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