Harry Potter - 05 - Der Orden Des Phoenix_1
Inhalt
Dudley umnachtet .............................................................................7
Eulen über Eulen.............................................................................28
Die Vorhut .......................................................................................51
Grimmauldplatz Nummer zwölf .....................................................70
Der Orden des Phönix .....................................................................92
Das fürnehme und gar alte Haus der Blacks .................................112
Das Zaubereiministerium ..............................................................136
Die Anhörung................................................................................153
Mrs. Weasleys Wehklage ..............................................................169
Luna Lovegood .............................................................................199
Das neue Lied des Sprechenden Huts ...........................................221
Professor Umbridge .......................................................................243
Strafarbeit bei Dolores ..................................................................275
Percy und Tatze .............................................................................306
Die Großinquisitorin von Hogwarts ..............................................335
Im Eberkopf...................................................................................361
Ausbildungserlass Nummer vierundzwanzig................................382
Dumbledores Armee .....................................................................407
Der Löwe und die Schlange ..........................................................432
Hagrids Geschichte .......................................................................456
Das Auge der Schlange .................................................................479
St.-Mungo-Hospital für Magische Krankheiten und
Verletzungen..........................................................................506
Weihnachten auf der geschlossenen Station .................................534
Okklumentik ..................................................................................560
Der Käfer in der Klemme..............................................................589
Gesehen – unvorhergesehen..........................................................617
Der Zentaur und die Petze .............................................................647
Snapes schlimmste Erinnerung .....................................................674
Berufsberatung ..............................................................................703
Grawp ............................................................................................730
ZAGs .............................................................................................759
Aus dem Feuer ..............................................................................787
Kampf und Flucht..........................................................................810
Die Mysteriumsabteilung ..............................................................824
Jenseits des Schleiers ....................................................................842
Der Einzige, den er je fürchtete.....................................................870
Die verlorene Prophezeiung ..........................................................884
Der zweite Krieg beginnt ..............................................................911
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Dudley umnachtet
Der bislang heißeste Tag des Sommers neigte sich dem Ende zu
und eine schläfrige Stille lag über den großen wuchtigen Häusern des
Ligusterwegs. Autos, die normalerweise glänzten, standen staubig in
den Einfahrten, und Rasenflächen, die einst smaragdgrün waren, lagen
verdorrt und gelbstichig da – wegen der Dürre war es verboten
worden, sie mit Gartenschläuchen zu wässern. Die Bewohner des
Ligusterwegs, die sich nun nicht mehr wie üblich mit Autowaschen
und Rasenmähen die Zeit vertreiben konnten, hatten sich in die
Schatten ihrer kühlen Häuser zurückgezogen und die Fenster weit
aufgestoßen in der Hoffnung, eine vermeintliche Brise
hereinzulocken. Der einzige Mensch, der noch draußen war, ein
Teenager, lag in einem Blumenbeet vor Nummer vier flach auf dem
Rücken.
Es war ein schlaksiger, schwarzhaariger Junge mit Brille, der
ausgezehrt und leicht ungesund wirkte wie jemand, der in kurzer Zeit
recht schnell gewachsen war. Seine Jeans war dreckig und zerrissen,
sein T-Shirt ausgeleiert und verblichen, und die Sohlen seiner
Turnschuhe schälten sich vom Oberleder. Harry Potters Äußeres
machte ihn nicht lieb Kind bei den Nachbarn, jener Sorte von
Menschen, die meinten, Schmuddeligkeit gehöre gesetzlich bestraft,
doch da er sich an diesem Abend hinter einem großen
Hortensienbusch versteckt hatte, war er für Passanten gänzlich
unsichtbar. Tatsächlich konnten ihn nur Onkel Vernon und Tante
Petunia sehen, falls sie die Köpfe aus dem Wohnzimmerfenster
streckten und senkrecht nach unten ins Blumenbeet schauten.
Alles in allem, dachte Harry, konnte man ihm zu seiner Idee, sich
hier zu verstecken, nur gratulieren. Vie lleicht war es nicht sonderlich
bequem, wie er da auf der heißen, harten Erde lag, doch immerhin
stierte ihn niemand finster an und knirschte so laut mit den Zähnen,
dass er die Nachrichten nicht hören konnte, oder warf ihm gehässige
Fragen an den Kopf, wie es noch jedes Mal geschehen war, wenn er
versucht hatte, sich ins Wohnzimmer zu setzen und mit Tante und
Onkel fernzusehen.
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Als wäre Harrys Gedanke durchs offene Fenster geflattert, fing
Vernon Dursley, sein Onkel, plötzlich an zu reden.
»Bin froh, dass der Bursche nicht mehr versucht, sich hier breit zu
machen. Übrigens, wo steckt er eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Tante Petunia beiläufig. »Nicht im Haus
jedenfalls.«
Onkel Vernon grunzte.
»Die Nachrichten gucken …«, höhnte er. »Möchte wissen, was er
wirklich im Schilde führt. Ein normaler Junge pfeift doch drauf, was
in den Nachrichten kommt – Dudley hat keine Ahnung, was in der
Welt passiert. Bin mir nicht mal sicher, ob er weiß, wer der
Premierminister ist! Jedenfalls sieht's nicht so aus, als käme irgendwas
über seine Sippschaft in unseren Nachrichten …«
»Vernon, schhh!«, sagte Tante Petunia. »Das Fenster steht offen!«
»Oh – ja – Verzeihung, Liebling.«
Die Dursleys verstummten. Harry lauschte einem Werbesong für
Obst-und-Kleie -Frühstücksflocken, während er Mrs. Figg, eine
schrullige alte Dame aus dem nahen Glyzinenweg, langsam
vorbeitappen sah. Sie blickte finster drein und murmelte vor sich hin.
Harry war sehr froh, dass er hinter dem Busch versteckt lag, weil Mrs.
Figg ihn seit kurzem jedes Mal wenn sie ihn auf der Straße traf, zu
sich nach Hause zum Tee einlud. Sie war um die Ecke gebogen und
verschwunden, als Onkel Vernons Stimme erneut aus dem Fenster
schwebte.
»Duddy ist zum Tee eingeladen?«
»Bei den Polkissens«, sagte Tante Petunia liebevoll. »Er hat so
viele kleine Freunde, beliebt, wie er ist …«
Mit Mühe verkniff sich Harry ein Schnauben. Die Dursleys waren
wirklich erstaunlich dumm, wenn es um ihren Sohn Dudley ging. All
seine fadenscheinigen Lügen, er wäre jeden Abend der Sommerferien
bei einem anderen Typen aus seiner Gang zum Tee, hatten sie
geschluckt. Harry wusste genau, dass Dudley nirgends zum Tee war;
er und seine Gang verbrachten jeden Abend damit, den Spielplatz im
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Park zu demolieren, an Straßenecken zu rauchen und Steine auf
vorbeikommende Autos und Kinder zu werfen. Harry hatte sie
während seiner abendlichen Streifzüge durch Little Whinging dabei
beobachtet; er hatte den größten Teil der Ferien damit verbracht, durch
die Straßen zu ziehen und unterwegs Zeitungen aus den Mülleimern
zu klauben.
Als die ersten Töne der Melodie für die Sieben-Uhr-Nachrichten
an Harrys Ohr drangen, drehte sich ihm der Magen um. Vielleicht
heute Abend – nachdem er einen Monat gewartet hatte –, vielleicht
war es heute so weit.
»Während der Streik der spanischen Gepäckabfertiger in die
zweite Woche geht, sitzen so viele Urlauber wie noch nie auf den
Flughäfen fest …«
»Denen würde ich eine lebenslange Siesta verpassen, wenn du
mich fragst«, knurrte Onkel Vernon, kaum dass der Sprecher den Satz
vollendet hatte, und doch: Draußen im Blumenbeet schien sich Harrys
Magen wieder zu entspannen. Wenn irgendetwas passiert wäre, dann
hätten sie es sicher als Erstes in den Nachrichten gebracht; Tod und
Zerstörung waren wichtiger als gestrandete Urlauber.
Er atmete lange und ruhig aus und blickte in den strahlend blauen
Himmel. Diesen Sommer war es Tag für Tag das Gleiche gewesen:
die Spannung, die Erwartung, die zeitweilige Erleichterung und dann
erneut die wachsende Spannung … und stets drängender die Frage,
warum noch nichts passiert war.
Er lauschte weiter, nur für den Fall, dass es einen kleinen Hinweis
gab, dessen ganze Bedeutung den Muggeln entging – ein rätselhaftes
Verschwinden vielleicht, oder ein merkwürdiger Unfall … aber dem
Streik der Gepäckabfertiger folgte eine Meldung über die Dürre im
Südosten Englands (»Hoffentlich hört der nebenan zu!«, bellte Onkel
Vernon. »Der mit seinen Sprinklern, die er um drei Uhr morgens
anstellt!«), dann über einen Hubschrauber, der beinahe über einem
Feld in Surrey abgestürzt war, schließlich über die Scheidung einer
prominenten Schauspielerin von ihrem prominenten Mann (»Als ob
wir an deren schmutzigen Affären interessiert wären«, naserümpfte
Tante Petunia, die diesen Fall in jeder Illustrierten, die ihr unter die
knochigen Finger kam, gebannt verfolgte).
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Harry schloss die Augen vor dem jetzt flammenden Abendhimmel,
während der Sprecher sagte: »— und schließlich hat Wally der
Wellensittich sich etwas Neues einfallen lassen, wie er sich diesen
Sommer abkühlen kann. Wally, der auf den Five Feathers in Barnsley
lebt, hat Wasserski gelernt! Mary Dorkins hat sich dort für Sie
umgeschaut.«
Harry öffnete die Augen. Wenn sie schon bei Wasserski fahrenden
Wellensittichen waren, würde nichts Hörenswertes mehr kommen. Er
drehte sich vorsic htig auf den Bauch und stemmte sich auf Knie und
Ellbogen, um unter dem Fenster wegzukriechen.
Er hatte sich gerade mal fünf Zentimeter bewegt, als mehrere
Dinge in sehr rascher Folge passierten.
Ein lauter, widerhallender Knall zerriss die schläfrige Stille wie ein
Pistolenschuss; eine Katze sauste unter einem geparkten Wagen
hervor und stob davon; ein spitzer Schrei, ein gellender Fluch und das
Geräusch von zerbrechendem Porzellan drangen aus dem
Wohnzimmer der Dursleys. Als sei dies das Signal, auf das Harry
gewartet hatte, schnellte er hoch und zog einen dünnen hölzernen
Zauberstab aus seinem Jeansbund wie ein Schwert aus der Scheide –
doch bevor er sich ganz aufrichten konnte, krachte er mit der
Schädeldecke gegen das offene Fenster der Dursleys. Es rumste und
Tante Petunia kreischte noch lauter.
Harry hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf entzweigespalten.
Schwankend, mit tränenden Augen, versuchte er den Blick auf die
Straße zu richten, um die Quelle des Lärms auszumachen, doch kaum
hatte er sich stolpernd erhoben, langten zwei große, purpurrote Hände
durchs offene Fenster und schlossen sich fest um seine Kehle.
»Tu – das – Ding – weg!«, schnarrte Onkel Vernon in Harrys Ohr.
»Sofort! Bevor – es – jemand – sieht!«
»Lass – mich – los!«, keuchte Harry. Einige Sekunden lang rangen
sie miteinander. Harry, der mit der rechten Hand den erhobenen
Zauberstab fest umklammerte, zog mit der linken an den Wurstfingern
seines Onkels; dann, in dem Moment, als der Schmerz an Harrys
Schädeldecke besonders fies pochte, japste Onkel Vernon plötzlich
und ließ Harry los, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen
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hätte. Eine unsichtbare Kraft schien durch seinen Neffen pulsiert zu
sein, so dass er ihn unmöglich weiter festhalten konnte.
Keuchend fiel Harry bäuchlings über den Hortensienbusch, richtete
sich auf und spähte umher. Was den lauten Knall verursacht haben
könnte, war nicht im Entferntesten zu erkennen, aber inzwischen
lugten Gesichter aus einigen Fenstern in der Nachbarschaft. Harry
steckte hastig seinen Zauberstab in die Jeans und versuchte, eine
Unschuldsmiene aufzusetzen.
»Wunderbarer Abend!«, rief Onkel Vernon und winkte Mrs.
Nummer sieben von gegenüber zu, die durch ihre Netzvorhänge böse
herüberfunkelte. »Haben Sie eben diesen Auspuffknall gehört? Hat
Petunia und mir einen schönen Schreck eingejagt!«
Er grinste unentwegt auf schreckliche, besessene Art umher, bis all
die neugierigen Nachbarn von ihren Fenstern verschwunden waren,
dann winkte er Harry zu sich heran, und aus dem Grinsen wurde eine
wutentbrannte Grimasse.
Harry trat ein paar Schritte näher und achtete darauf, kurz vor dem
Punkt Halt zu machen, an dem Onkel Vernons ausgestreckte Hände
ihn wieder würgen konnten.
»Was zum Teufel soll das, Bursche?«, fragte Onkel Vernon mit
heiserer, vor Wut zitternder Stimme.
»Was soll was?«, sagte Harry kühl. Er blickte unablässig links und
rechts die Straße entlang, immer noch in der Hoffnung
herauszufinden, von wem der Knall stammte.
»Einen Lärm machen, als ginge eine Pistole los, und das direkt vor
unserem …«
»Den Lärm hab ich nicht gemacht«, sagte Harry entschieden.
Neben Onkel Vernons breitem, puterrotem Gesicht tauchte jetzt
Tante Petunias schmales Pferdegesicht auf. Sie war aschgrau.
»Warum hast du unter unserem Fenster herumgelungert?«
»Ja – ja, gute Frage, Petunia! Was hast du unter unserem
Fenstergetrieben, Bursche?«
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»Die Nachrichten gehört«, sagte Harry mit resignierter Stimme.
Tante und Onkel tauschten empörte Blicke.
»Die Nachrichten gehört! Schon wieder?«
»Na ja, es gibt doch jeden Tag neue, oder?«, sagte Harry.
»Spiel mir hier nicht den Neunmalklugen, Bursche! Ich will
wissen, was du wirklich im Schilde führst – und hör mir bloß auf mit
diesem Quatsch von wegen die Nachrichten hören! Du weißt genau,
dass deine Sippschaft …«
»Vorsicht, Vernon!«, hauchte Tante Petunia, und Onkel Vernon
senkte die Stimme, bis Harry ihn kaum noch hören konnte – »dass
deine Sippschaft nicht in unsere Nachrichten kommt!«
»Das meinst du wohl«, sagte Harry.
Die Dursleys glotzten ihn ein paar Sekunden an, dann schimpfte
Tante Petunia : »Du bist ein gemeiner kleiner Lügner. Was treiben
denn all diese …«, auch sie senkte die Stimme, so dass Harry das
nächste Wort von ihren Lippen ablesen musste, »… Eulen hier, wenn
sie dir keine Nachrichten bringen?«
»Aha!«, flüsterte Onkel Vernon triumphierend. »Jetzt lass dir dazu
mal eine Ausrede einfallen, Bursche! Als ob wir nicht wüssten, dass
du deine ganzen Nachrichten von diesen ekelhaften Vögeln
bekommst!«
Harry zögerte einen Moment. Es kostete ihn einige Überwindung,
diesmal die Wahrheit zu sagen, obwohl Onkel und Tante unmöglich
wissen konnten, wie schlimm es für ihn war, sie einzugestehen.
»Die Eulen … bringen mir keine Nachrichten«, antwortete er
tonlos.
»Das glaub ich nicht«, sagte Tante Petunia sofort.
»Und ich auch nicht«, bestätigte Onkel Vernon.
»Wir wissen, dass du irgendein krummes Ding vorhast«, sagte
Tante Petunia.
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»Wir sind schließlich nicht blöde, verstehst du«, sagte Onkel
Vernon.
»Na, das ist ja mal 'ne Neuigkeit«, erwiderte Harry mit
anschwellendem Zorn, und bevor die Dursleys ihn zurückrufen
konnten, wirbelte er herum, lief über den Rasen, sprang über die
niedrige Gartenmauer und ging mit großen Schritten die Straße
entlang davon.
Das gab Ärger, so viel war sicher. Er würde Onkel und Tante
später Rede und Antwort stehen und für seine Frechheit bezahlen
müssen, doch fürs Erste war ihm das ziemlich schnuppe; er hatte viel
dringendere Angelegenheiten im Kopf.
Harry war sich sicher, dass der Knall von jemandem herrührte, der
appariert oder disappariert war. Es war genau das Geräusch, das
Dobby der Hauself machte, wenn er ins Blaue hinein verschwand.
Konnte Dobby denn hier im Ligusterweg sein? Folgte ihm Dobby
vielleicht genau in diesem Moment? Bei diesem Gedanken schnellte
er herum und spähte zurück, doch der Ligusterweg schien
vollkommen ausgestorben, und Harry war sicher, dass Dobby nicht
wusste, wie man sich unsichtbar machte.
Er ging weiter und achtete dabei kaum auf den Weg, den er
einschlug, denn er hatte diese Straßen in letzter Zeit so oft
durchstreift, dass ihn seine Füße wie von allein zu seinen
Lieblingsplätzen trugen. Alle paar Schritte warf er einen Blick über
die Schulter. Ein magisches Wesen hatte sich in seiner Nähe
aufgehalten, als er zwischen Tante Petunias sterbenden Begonien
gelegen hatte, das war sicher. Warum hatte es ihn nicht angesprochen,
warum hatte es keine Verbindung aufgenommen, warum versteckte es
sich jetzt?
Und dann, als seine Enttäuschung ihren Höhepunkt erreicht hatte,
schwand plötzlich diese Gewissheit.
Vielleicht war es doch kein magisches Geräusch gewesen.
Vielleicht wartete er nur so verzweifelt auf das kleinste Zeichen aus
einer Welt, in die er gehörte, dass er bei ganz gewöhnlichen
Geräuschen einfach überreagierte. Konnte er sicher sein, dass der
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Lärm nicht daher rührte, dass in einem Nachbarhaus etwas zu Bruch
gegangen war?
Harry hatte ein dumpfes, flaues Gefühl im Magen, und
unversehens überfiel ihn wieder die Hoffnungslosigkeit, die ihn den
ganzen Sommer über geplagt hatte.
Morgen früh um fünf würde der Wecker ihn aus dem Schlaf reißen,
damit er die Eule bezahlen konnte, die ihm den Tagespropheten
brachte – aber hatte es noch einen Zweck, ihn weiter zu beziehen?
Harry schaute dieser Tage nur kurz auf die Titelseite und warf ihn
dann beiseite; wenn diese Trottel von der Zeitung endlich erkannt
hatten, dass Voldemort zurück war, würde das Schlagzeilen machen,
und nur solche Nachrichten scherten Harry.
Zwar kamen, wenn er Glück hatte, auch Eulen mit Briefen von
seinen besten Freunden Ron und Hermine, aber all seine Erwartungen,
dass ihre Briefe Neuigkeiten für ihn enthalten würden, waren schon
lange zunichte.
Wir können nicht viel über Du-weißt-schon-was sagen, verstehst
du … Man hat uns gesagt, dass wir nichts Wichtiges schreiben dürfen,
falls unsere Briefe in die falschen Hände gelangen … Wir sind
ziemlich beschäftigt, aber ich kann dir hier nichts Genaues schreiben
… Es geht einiges ab, wir erzählen dir alles, wenn wir dich treffen …
Aber wann würden sie ihn treffen? Niemand schien sich groß um
einen festen Termin zu kümmern. Ich denke, wir besuchen dich
ziemlich bald, hatte Hermine auf seine Geburtstagskarte geschrieben,
aber wie bald war bald? Soviel Harry aus den vagen Hinweisen in
ihren Briefen schließen konnte, waren Hermine und Ron am selben
Ort, vermutlich im Haus von Rons Eltern. Er konnte es kaum ertragen,
daran zu denken, wie die beiden im Fuchsbau ihren Spaß hatten,
während er im Ligusterweg festsaß. Tatsächlich war er so sauer auf
sie, dass er die beiden Schachteln mit Schokolade aus dem Honigtopf,
die sie ihm zum Geburtstag geschickt hatten, ungeöffnet weggeworfen
hatte. Später hatte er es bereut, nach dem welken Salat, den Tante
Petunia am selben Abend noch zum Essen aufgetischt hatte.
Womit waren Ron und Hermine eigentlich so beschäftigt? Und
warum war er, Harry, nicht beschäftigt? Hatte er nicht bewiesen, dass
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er mit viel mehr fertig werden konnte als sie? Hatten sie alle
vergessen, was er getan hatte? War es nicht er gewesen, der diesen
Friedhof betreten und gesehen hatte, wie Cedric ermordet wurde, und
der an diesen Grabstein gefesselt wurde und fast umgebracht worden
wäre?
Denk nicht drüber nach, ermahnte sich Harry streng und zum
hundertsten Mal in diesem Sommer. Schlimm genug, dass er den
Friedhof in seinen Alpträumen immer wieder besuchte, da brauchte er
in seinen wachen Momenten nicht auch noch darüber nachzubrüten.
Er bog um eine Ecke und war nun auf dem Magnolienring; auf
halbem Weg die Straße entlang kam er an der schmalen Gasse vorbei,
die an einer Garage entlangführte und in der er zum ersten Mal seinen
Paten gesehen hatte. Sirius zumindest schien zu verstehen, wie Harry
sich fühlte. Zugegeben, seine Briefe enthielten ebenso wenig
handfeste Neuigkeiten wie die von Ron und Hermine, aber wenigstens
schrieb er ihm zur Vorsicht mahnende und tröstende Worte statt
quälender Andeutungen: Ich weiß, das muss frustrierend für dich sein
… Halt die Ohren steif dann wird schon alles gut gehen … Sei
vorsichtig und tu nichts Unbesonnenes …
Immerhin, dachte Harry, während er den Magnolienring
überquerte, in die Magnolienstraße einbog und auf den nun schon im
Dunkeln liegenden Park mit dem Spielplatz zuging, immerhin hatte er
(im Wesentlichen) befolgt, was Sirius ihm geraten hatte. Zumindest
hatte er der Versuchung widerstanden, den Koffer an seinen Besen zu
binden und sich auf eigene Faust auf die Reise zum Fuchsbau zu
machen. Im Grunde hatte er sich sehr gut verhalten, wenn er
überlegte, wie enttäuscht und zornig er darüber war, so lange im
Ligusterweg festzusitzen, wo er nichts weiter unternehmen konnte, als
sich in Blumenbeeten zu verstecken, in der Hoffnung, einen Hinweis
darauf zu erlauschen, was Lord Voldemort gerade machte. Dennoch
wurmte es ihn, dass ihn ausgerechnet ein Mann vor Unbesonnenheiten
warnte, der zwölf Jahre im Zauberergefängnis von Askaban gesessen
hatte, der entkommen war, daraufhin den Mord begehen wollte, für
den man ihn ursprünglich verurteilt hatte, und schließlich mit einem
gestohlenen Hippogreif geflohen war.
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Harry schwang sich über das geschlossene Parktor und überquerte
den verdorrten Rasen. Der Park war so menschenleer wie die Straßen
in der Nachbarschaft. Er erreichte die Schaukeln und ließ sich auf
einer davon nieder, der letzten, die Dudley und seine Freunde noch
nicht demoliert hatten, schlang einen Arm um die Kette und starrte
trübsinnig auf die Erde. Im Blumenbeet der Dursleys würde er sich
nicht mehr verstecken können. Morgen musste er sich etwas Neues
einfallen lassen, wie er die Nachrichten hören konnte. Bis dahin hatte
er nichts, auf das er sich freuen konnte, nur eine weitere unruhige,
sorgenvoll durchwälzte Nacht, denn selbst wenn er von Alpträumen
um Cedric verschont blieb, plagten ihn schreckliche Träume von
langen schwarzen Korridoren, die alle an Mauern und verschlossenen
Türen endeten, was, wie er vermutete, etwas zu tun hatte mit dem
Gefühl, in der Falle zu sitzen, das ihn am Tage quälte. Seine alte
Stirnnarbe ziepte oft unangenehm, aber Ron oder Hermine oder Sirius,
da machte er sich nichts vor, würden dies nicht mehr sonderlich
spannend finden. Früher hatten ihn die Narbenschmerzen gewarnt,
wenn Voldemort wieder stärker wurde, doch nun, da Voldemort
zurückgekehrt war, würden seine Freunde ihm wohl nur zu verstehen
geben, dass es sie nicht überraschte, wenn die Narbe ständig gereizt
war … kein Grund zur Sorge … Schnee von gestern …
Das Gefühl, wie ungerecht das alles war, staute sich in ihm auf,
und er hätte am liebsten vor Wut geschrien. Wenn er nicht gewesen
wäre, hätte überhaupt niemand erfahren, dass Voldemort zurück war!
Und zur Belohnung saß er vier geschlagene Wochen lang in Little
Whinging, völlig abgeschnitten von der magischen Welt, dazu
verurteilt, zwischen welken Begonien zu kauern, nur um Neuigkeiten
über Wasserski fahrende Wellensittiche zu hören. Wie konnte
Dumbledore ihn nur einfach so vergessen? Wieso hatten Ron und
Hermine sich getroffen, ohne ihn einzuladen? Wie lange noch musste
er sich von Sirius sagen lassen, er solle die Ohren steif halten und ein
braver Junge sein; oder der Versuchung widerstehen, an den blöden
Tagespropheten zu schreiben und denen klar zu machen, dass
Voldemort zurückgekehrt war? Solch wilde Gedanken wirbelten
durch Harrys Kopf, und seine Eingeweide verknoteten sich vor Zorn,
während eine schwüle, samtene Nacht sich über ihn senkte, in der die
Luft schwer war vom Geruch warmen, trockenen Grases und einzig
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das leise Rauschen des Verkehrs auf der Straße hinter den Parkgittern
zu hören war.
Er wusste nicht, wie lange er auf der Schaukel gesessen hatte, als
das Geräusch von Stimmen seine Grübeleien unterbrach und er
aufblickte. Die Laternen der angrenzenden Straßen spendeten
dunstiges Licht, stark genug, um die Umrisse einer Gruppe von
Leuten hervortreten zu lassen, die auf dem Weg durch den Park
waren. Einer von ihnen sang ein lautes und wüstes Lied. Die anderen
lachten. Ein leises Ticken kam von mehreren teuren Rennrädern, die
sie mit sich schoben.
Harry wusste, wer diese Leute waren. Die Gestalt vorne war
unverkennbar sein Cousin Dudley Dursley auf dem Weg nach Hause,
begleitet von seiner treuen Gang.
Dudley hatte so gewaltige Maße wie eh und je, doch ein Jahr
strenger Diät und die Entdeckung eines neuen Talents hatten seine
Statur deutlich verändert. Wie Onkel Vernon allen, die es hören
wollten, entzückt erzählte, war Dudley vor kurzem bei den
Schulmeisterschaften im Südwesten der Boxchampion im
Juniorenschwergewicht geworden. »Der edle Sport«, wie Onkel
Vernon ihn nannte, hatte aus Dudley eine noch furchterregendere
Gestalt gemacht, als er es zu Harrys Grundschulzeit gewesen war, wo
er als Dudleys erster Punchingball hatte herhalten müssen. Harry hatte
nicht die geringste Angst mehr vor seinem Cousin, doch wollte er
trotzdem nicht glauben, dass ein Dudley, der lernte, noch härter und
gezielter zuzuschlagen, ein Grund zum Feiern sein sollte. In der
ganzen Nachbarschaft hatten die Kinder fürchterliche Angst vor ihm –
sogar mehr noch als vor »diesem Potter-Jungen«, der, wie man sie
gewarnt hatte, ein abgebrühter Hooligan war und ins St.-Brutus-
Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen ging.
Harry beobachtete, wie die dunklen Gestalten den Rasen
überquerten, und fragte sich, wen sie heute Abend verprügelt hatten.
Schaut euch um, fuhr es Harry unwillkürlich durch den Kopf, während
er ihnen mit den Augen folgte. Kommt schon … schaut euch um … ich
sitze hier ganz allein … kommt und zeigt's mir …
Wenn Dudleys Freunde ihn hier sitzen sähen, würden sie sicher
geradewegs auf ihn losgehen, und was würde Dudley dann tun? Vor
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seiner Gang wollte er gewiss nicht das Gesicht verlieren, aber er
würde schreckliche Angst haben, Harry zu provozieren … wie
herrlich es wäre, Dudley so hin- und hergerissen zu sehen, ihn zu
reizen, zu beobachten, wie er die Kraft nicht aufbrachte, ihm etwas
entgegenzusetzen … und falls einer der anderen versuchte, Harry zu
schlagen, war er vorbereitet – er hatte seinen Zauberstab. Sollten sie
doch kommen … liebend gern würde er ein wenig von seinem Frust
an den Jungen auslassen, die sein Leben einst zur Hölle gemacht
hatten.
Aber sie drehten sich nicht um, sie sahen ihn nicht, hatten fast
schon das Gitter erreicht. Harry bezwang den Impuls, ihnen
nachzurufen … eine Schlägerei anzuzetteln, war nicht klug … er
durfte seine magischen Kräfte nicht einsetzen … er würde wieder
einmal den Rauswurf riskieren.
Die Stimmen von Dudleys Gang erstarben; die Jungen waren außer
Sicht, auf dem Weg die Magnolienstraße entlang.
Da siehst du's mal, Sirius, dachte Harry dumpf. Nichts
Unbesonnenes. Hab die Ohren steif gehalten. Genau das Gegenteil
von dem, was du getan hättest.
Er hüpfte von der Schaukel und streckte sich. Tante Petunia und
Onkel Vernon schienen der Meinung, wann auch immer Dudley
auftauchte, sei die richtige Zeit, um nach Hause zu kommen, und alles
danach sei viel zu spät. Onkel Vernon hatte gedroht, Harry im
Schuppen einzusperren, wenn er je wieder nach Dudley heimkam, und
so unterdrückte Harry ein Gähnen und machte sich mit immer noch
finsterer Miene auf den Weg zum Parktor.
Die Magnolienstraße war wie der Ligusterweg gesäumt von
großen, wuchtigen Häusern mit tadellos manikürten Rasenstücken,
alle von dicken, vierschrötigen Eigenheimbesitzern gemäht, die sehr
saubere Autos ähnlich dem von Onkel Vernon fuhren. Harry war
Little Whinging am Abend lieber, wenn die gardinenbewehrten
Fenster juwelenhelle Farbflecke in die Dunkelheit tupften und er nicht
Gefahr lief, missbilligendes Murmeln über seine
»Sträflingserscheinung« zu hören, wenn er an den Hausbesitzern
vorbeikam. Er ging rasch, so dass auf halber Strecke durch die
Magnolienstraße Dudleys Gang wieder in Sicht kam; sie
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verabschiedeten sich an der Einmündung zum Magnolienring. Harry
trat in den Schatten eines großen Fliederbusches und wartete.
»… hat gequiekt wie 'ne Sau, was?«, sagte Malcolm unter dem
schallenden Gelächter der anderen.
»Hübscher rechter Haken, Big D«, sagte Piers.
»Morgen selbe Zeit?«, sagte Dudley.
»Dann bei mir, meine Eltern gehen aus«, sagte Gordon.
»Also bis dann«, sagte Dudley.
»Tschüss, Dud!«
»Wir sehn uns, Big D!«
Harry blieb noch stehen, bis der Rest der Gang weitergelaufen war.
Als ihre Stimmen wieder leiser geworden waren, bog er um die Ecke
in den Magnolienring, und da er sehr rasch ging, kam er bald in
Rufweite zu Dudley, der selbstzufrieden einherschlenderte und
melodielos vor sich hin summte.
»Hey, Big D!«
Dudley drehte sich um.
»Oh«, grunzte er. »Du bist's.«
»Seit wann bist du eigentlich ›Big D‹?«, sagte Harry.
»Klappe«, raunzte Dudley und wandte sich ab.
»Cooler Name«, sagte Harry grinsend und holte seinen Cousin ein.
»Aber für mich wirst du immer der ›putzige Duddywutz‹ sein.«
»KLAPPE, hab ich gesagt!«, blaffte Dudley, die schinkengleichen
Hände zu Fäusten geballt.
»Wissen die Jungs nicht, dass deine Mami dich so nennt?«
»Halt die Fresse.«
»Du sagst ihr doch auch nicht, dass sie die Fresse halten soll. Was
ist mit ›Mausebär‹ und ›süßer Duddymatz‹, darf ich dich auch so
nennen?«
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Dudley sagte nichts. Die Anstrengung, sich zu zwingen, Harry
nicht zu schlagen, schien all seine Selbstbeherrschung zu erfordern.
»Und wen hast du heute Abend verprügelt?«, fragte Harry und sein
Grinsen schwand. »Wieder einen Zehnjährigen? Vorgestern hast du's
Mark Evans besorgt, das weiß ich …«
»Er hat's nicht anders gewollt«, schnarrte Dudley.
»Ach ja?«
»Ist frech geworden.«
»Jaah? Hat er gesagt, du siehst aus wie ein Schwein, dem man
beigebracht hat, auf den Hinterbeinen zu laufen? Das ist aber nicht
frech, das ist die Wahrheit.«
An Dudleys Kinnlade zuckte ein Muskel. Er war wütend und Harry
sah es mitenormer Genugtuung; ihm war, als würde er allen Ärger an
seinem Cousin auslassen, dem Einzigen, der dafür herhalten konnte.
Sie bogen nach rechts in die Abkürzung zwischen Magnolienring
und Glyzinenweg ein, in die schmale Gasse, wo Harry Sirius zum
ersten Mal gesehen hatte. Sie war menschenleer und dunkler als die
Straßen, die sie verband, denn es gab keine Laternen. Garagenwände
auf der einen, ein hoher Zaun auf der anderen Seite dämpften das
Geräusch ihrer Schritte.
»Kommst dir wohl mächtig stark vor mit dem Ding, das du
rumträgst, stimmt's?«, sagte Dudley nach einigen Sekunden.
»Welchem Ding?«
»Diesem – diesem Ding, das du versteckt hältst.«
Harry grinste erneut.
»Nicht so doof, wie du aussiehst, was, Dud? Aber wenn du's wärst,
glaub ich, könntest du nicht gleichzeitig gehen und reden.«
Harry zog seinen Zauberstab. Er sah, wie Dudley ihn scheel
beäugte.
»Das darfst du nicht«, sagte Dudley prompt. »Ich weiß es. Die
werfen dich aus dieser Beklopptenschule, auf die du gehst.«
- 21 -
»Woher willst du wissen, dass sie die Vorschriften nicht geändert
haben, Big D?«
»Haben sie nicht«, sagte Dudley, obwohl er dabei nicht
vollkommen überzeugt klang.
Harry lachte leise.
»Du hast doch Schiss, es ohne dieses Ding mit mir aufzunehmen,
oder?«, fauchte Dudley.
»Und du brauchst vier Kumpel hinter dir, bevor du einen
Zehnjährigen verprügeln kannst. Dieser Boxtitel übrigens, mit dem du
dauernd angibst – wie alt war dein Gegner? Sieben? Acht?«
»Er war sechzehn, wenn du's genau wissen willst«, fauchte
Dudley, »und als ich mit dem fertig war, lag er noch zwanzig Minuten
halb tot rum, und der war doppelt so schwer wie du. Wart nur, bis ich
Dad erzähle, dass du dieses Ding rausgezogen hast …«
»Jetzt rennst du zu Daddy, was? Hat sein Putzi-Putzi-
Boxchampion Angst vor Harrys bösem Zauberstab?«
»Nachts bist du nicht so mutig, stimmt's?«, höhnte Dudley.
»Es ist Nacht, Duddymatz. So nennt man es nämlich, wenn es
überall dunkel wird wie jetzt.«
»Ich mein, wenn du im Bett bist!«, fauchte Dudley.
Er war stehen geblieben. Auch Harry blieb stehen und starrte
seinen Cousin an.
Soweit er Dudleys breites Gesicht erkennen konnte, hatte er eine
merkwürdig triumphierende Miene aufgesetzt.
»Was soll das heißen, ich bin nicht mutig, wenn ich im Bett bin?«,
sagte Harry völlig verdutzt. »Wovor soll ich Angst haben, vor Kissen
vielleicht?«
»Ich hab dich gestern Nacht gehört«, sagte Dudley atemlos. »Hast
im Schlaf geredet. Gejammert.«
- 22 -
»Was soll das heißen?«, sagte Harry erneut, doch mit einem kalten,
flauen Gefühl im Magen. Gestern Nacht hatte er in seinen Träumen
wieder den Friedhof besucht.
Dudley lachte harsch und bellend auf und nahm eine spitze,
wimmernde Stimme an.
»›Lass Cedric leben! Lass Cedric leben!‹ Wer ist Cedric – dein
Freund?«
»Ich – du lügst«, sagte Harry unwillkürlich. Doch sein Mund war
trocken geworden. Dudley log nicht, das wusste er – wie sonst konnte
er von Cedric erfahren haben?
»›Dad! Hilf mir, Dad! Er wird mich umbringen, Dad! Uuh huu!‹«
»Hör auf«, sagte Harry leise. »Hör auf, Dudley, ich warne dich!«
»›Komm und hilf mir, Dad! Mum, komm und hilf mir! Er hat
Cedric getötet! Dad, hilf mir! Er wird mich –‹ Nimm das Ding
runter!«
Dudley wich an die Mauer der Gasse zurück. Harry richtete den
Zauberstab direkt auf Dudleys Herz. Er konnte vierzehn Jahre Hass
auf Dudley in seinen Adern hämmern spüren – was würde er nicht
dafür geben, jetzt zuzuschlagen, Dudley so gründlich durchzuhexen,
dass er wie ein Insekt nach Hause krabbeln musste, stumm und blind
geschlagen, mit ausgestreckten Fühlerchen …
»Fang nie wieder davon an«, fauchte Harry. »Hast du mich
verstanden?«
»Halt das Ding woandershin!«
»Ich hab gesagt, hast du mich verstanden?«
»Halt es woandershin!«
»HAST DU MICH VERSTANDEN?«
»TU DAS DING WEG …«
Dudley keuchte, eigenartig schaudernd, als wäre er in Eiswasser
getaucht worden.
- 23 -
Etwas war mit der Nacht geschehen. Der sternübersäte indigoblaue
Nachthimmel war plötzlich pechschwarz und lichtlos – die Sterne, der
Mond, die dunstigen Straßenlichter zu beiden Enden der Gasse waren
verschwunden. Das ferne Rauschen der Autos und das Flüstern der
Bäume waren verstummt. Der milde Abend war plötzlich stechend
und beißend kalt. Sie waren von völliger, undurchdringlicher, stiller
Dunkelheit umgeben, als hätte ein Riese einen dicken, eiskalten
Mantel über die ganze Gasse geworfen, der ihnen jegliche Sicht nahm.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Harry, er hätte
versehentlich gezaubert, obwohl er das Verlangen mit aller Kraft
unterdrückt hatte – dann zog sein Verstand mit seinen Sinnen gleich –
er hatte nicht die Macht, die Sterne zum Erlöschen zu bringen. Er
drehte den Kopf hin und her und versuchte, etwas zu erkennen, doch
die Dunkelheit drückte auf seine Augen wie ein schwereloser Schleier.
Dudleys angsterfüllte Stimme drang in Harrys Ohr.
»W-was machst du d-da? Hö-hör auf d-damit!«
»Ich mach gar nichts! Sei still und beweg dich nicht!«
»Ich k-kann nichts sehen! Ich b-bin blind! Ich …«
»Still, hab ich gesagt!«
Harry stand stocksteif da und wandte seine blinden Augen nach
links und nach rechts. Die Kälte war so heftig, dass er am ganzen Leib
zitterte; eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme, und seine
Nackenhaare sträubten sich – er riss die Augen auf, so weit er konnte,
und starrte leer und blind umher.
Es war unmöglich … sie konnten nicht hier sein … nicht in Little
Whinging … er lauschte angestrengt … er würde sie hören, bevor er
sie sah …
»Ich s-sag's Dad!«, wimmerte Dudley. »W-wo bist du? Was
machst d-du da …?«
»Hältst du endlich die Klappe?«, zischte Harry. »Ich versuch was
zu hö…«
Doch er verstummte. Er hatte genau das gehört, wovor es ihn
gegraust hatte.
- 24 -
Außer ihnen war da noch etwas in dieser Gasse, etwas, das lange,
heisere, rasselnde Atemzüge tat. Harry, der zitternd in der eisigen Luft
stand, spürte, wie ihn eine grauenhafte Angst durchfuhr.
»L-lass das sein! H-hör auf damit! Ich h-hau dich, ich schwör's!«
»Dudley, halt die …«
WUMM.
Eine Faust traf Harry seitlich am Kopf und riss ihn von den Füßen.
Kleine weiße Lichter tauchten vor seinen Augen auf. Zum zweiten
Mal in einer Stunde hatte Harry das Gefühl, sein Kopf wäre
mittendurch gespalten; im nächsten Moment schlug er hart auf dem
Boden auf und der Zauberstab flog ihm aus der Hand.
»Du Schwachkopf, Dudley!«, schrie Harry. Tränen schossen ihm
in die Augen vor Schmerz, während er sich auf Hände und Knie
hochrappelte und hektisch in der schwarzen Dunkelheit umhertastete.
Er hörte Dudley davonstolpern, gegen den Zaun stoßen, taumeln.
»DUDLEY, KOMM ZURÜCK! DU LÄUFST GENAU DRAUF
ZU!«
Ein fürchterlicher, quietschender Schrei war zu hören und Dudleys
Schritte hielten inne. Im selben Moment spürte Harry eine kriechende
Kälte hinter sich, die nur eines bedeuten konnte. Da war mehr als
einer.
»DUDLEY, MACH NICHT DEN MUND AUF! WAS IMMER
DU TUST, MACH NICHT DEN MUND AUF! Zauberstab!«,
murmelte Harry hektisch, seine Hände huschten über den Boden wie
Spinnen. »Wo ist – Zauberstab – komm schon – lumos!«
Er sprach das Zauberwort unwillkürlich aus, so verzweifelt
brauchte er Licht, das ihm bei der Suche half – und zu seiner
ungläubigen Erleichterung flammte nicht weit von seiner rechten
Hand entfernt Licht auf – die Spitze des Zauberstabs leuchtete. Harry
klaubte ihn auf, rappelte sich hoch und blickte hinter sich.
Ihm drehte sich der Magen um.
- 25 -
Eine mächtige Gestalt, in einen Kapuzenumhang gehüllt, unter
dem weder Füße noch Gesicht zu erkennen waren, glitt sanft über den
Boden schwebend auf ihn zu und sog die Nacht in sich ein.
Harry stolperte zurück und hob den Zauberstab.
»Expecto patronum!«
Ein silbriger Dunstfaden schoss aus der Spitze des Zauberstabs und
der Dementor wurde langsamer, doch der Zauber hatte nicht richtig
gewirkt. Der Dementor neigte sich zu Harry hinunter, und Harry wich,
über seine eigenen Füße strauchelnd, weiter zurück, während Panik
ihm das Gehirn vernebelte – konzentrier dich.
Ein graues, schleimiges, schorfiges Paar Hände glitt aus dem
Umhang des Dementors hervor und langte nach ihm. Ein Rauschen
erfüllte Harrys Ohren.
»Expecto patronum!«
Seine Stimme klang matt und fern. Wieder schwebte ein Faden
silbrigen Rauchs, schwächer als der letzte, aus dem Zauberstab – er
konnte es nicht mehr, der Zauber gelang ihm nicht.
In seinem Kopf erklang ein Lachen, ein schrilles, überdrehtes
Lachen … er konnte den widerlichen, todeskalten Atem des
Dementors riechen, der seine Lungen füllte, ihn ertränkte – denken …
an etwas Glückliches …
Doch es war kein Glück in ihm … die eisigen Finger des
Dementors schlossen sich um seine Kehle – das schrille Lachen wurde
immer lauter, eine Stimme sprach in seinem Kopf: »Verneige dich vor
dem Tod, Harry … er mag sogar schmerzlos sein … ich kann es nicht
wissen … ich bin nie gestorben …«
Er würde Ron und Hermine nie mehr sehen.
Und während er nach Atem rang, traten ihre Gesichter jäh und klar
in sein Bewusstsein.
»EXPECTO PATRONUM!«
Ein gewaltiger silberner Hirsch brach aus der Spitze von Harrys
Zauberstab hervor; seine Geweihenden trafen den Dementor dort, wo
- 26 -
das Herz hätte sein sollen; er wurde zurückgestoßen, schwerelos wie
die Dunkelheit, und als der Hirsch zum Angriff ansetzte, huschte der
Dementor, fledermausgleich, geschlagen davon.
»DORTHIN!«, rief Harry dem Hirsch zu. Er wirbelte herum und
rannte, den leuchtenden Stab erhoben, die Gasse entlang. »DUDLEY?
DUDLEY!«
Er hatte kaum ein Dutzend Schritte getan, da war er schon bei ihm:
Dudley lag zusammengerollt auf dem Boden, die Arme aufs Gesicht
gedrückt. Ein zweiter Dementor kauerte dicht über ihm, umklammerte
mit schleimigen Händen Dudleys Handgelenke, zog sie langsam, fast
liebevoll auseinander und senkte seine Kapuze auf Dudleys Gesicht,
als wollte er ihn küssen.
»PACK IHN!«, brüllte Harry, und mit rauschendem, donnerndem
Lärm kam der silberne Hirsch, den er heraufbeschworen hatte, an ihm
vorbeigaloppiert. Das augenlose Gesicht des Dementors war nur noch
Zentimeter von Dudleys Gesicht entfernt, als das silberne Geweih ihn
erfasste; das Wesen wurde in die Luft geschleudert, und wie sein
Gefährte huschte es davon und verschmolz mit der Dunkelheit; der
Hirsch lief in kurzem Galopp zum Ende der Gasse und löste sich in
silbrigen Dunst auf.
Mond, Sterne und Straßenlaternen erwachten wieder zum Leben.
Eine warme Brise strich durch die Gasse. Bäume raschelten in den
benachbarten Gärten und das alltägliche Geräusch von Autos auf dem
Magnolienring erfüllte wieder die Luft.
Harry stand vollkommen reglos da, mit vibrierenden Sinnen, und
gewöhnte sich an die jäh zurückgekehrte Normalität. Nicht lange,
dann wurde ihm bewusst, dass sein T-Shirt an ihm klebte; er war
schweißnass.
Er konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Dementoren
hier, in Little Whinging.
Dudley lag eingerollt auf dem Boden, wimmernd und zitternd.
Harry beugte sich zu ihm hinunter, um zu sehen, ob er die Kraft hatte
aufzustehen, doch dann hörte er laute, rennende Schritte hinter sich.
Instinktiv hob er erneut den Zauberstab und wirbelte auf den Fersen
herum, bereit, wem auch immer entgegenzutreten.
- 27 -
Mrs. Figg, ihre schrullige alte Nachbarin, kam, schwer atmend, in
Sicht. Ihr grau meliertes Haar löste sich aus dem Haarnetz, ein
klackerndes Einkaufsnetz schwang an ihrem Handgelenk und ihre
Füße steckten mehr schlecht als recht in ihren schottengemusterten
Puschen. Harry wollte seinen Zauberstab rasch verschwinden lassen,
aber …
»Nicht wegstecken, du dummer Junge!«, kreischte sie. »Was, wenn
noch mehr von denen in der Gegend sind? Oh, dieser Mundungus
Fletcher, den bring ich um!«
- 28 -
Eulen über Eulen
»Was?«, sagte Harry verblüfft.
»Er ist fort!«, sagte Mrs. Figg händeringend. »Er ist fort, weil er
sich mit jemand treffen wollte wegen ein paar Kesseln, die von einem
Besen hinten runtergefallen sind! Wenn du jetzt gehst, hab ich zu ihm
gesagt, zieh ich dir bei lebendigem Leib die Haut ab, und jetzt haben
wir's! Dementoren! Ein Glück nur, dass ich Mr. Tibbles auf den Fall
angesetzt habe! Aber was stehen wir hier nochrum! Beeilung, du
musst zurück ins Haus! Oh, das wird Ärger geben! Ich bring ihn um!«
»Aber …« Die Tatsache, dass diese schrullige, katzenvernarrte alte
Nachbarin wusste, was Dementoren waren, versetzte Harry einen
kaum minder großen Schock als die zwei leibhaftigen Exemplare,
denen er eben in der Gasse begegnet war. »Sie sind – Sie sind eine
Hexe?«
»Ich bin eine Squib, wie Mundungus sehr genau weiß, und wie um
alles in der Welt sollte ich dir also helfen, die Dementoren zu
vertreiben? Er hat dich vollkommen ohne Bewachung gelassen,
obwohl ich ihn gewarnt hab …«
»Dieser Mundungus ist mir gefolgt? Ach so – der war das! Er ist
vor meinem Haus disappariert!«
»Ja, ja, ja, aber glücklicherweise hab ich Mr. Tibbles unter einem
Auto postiert, nur für alle Fälle, und Mr. Tibbles kam und hat mich
gewarnt, aber bis ich dann bei euch war, warst du verschwunden – und
jetzt – oh, was wird bloß Dumbledore dazu sagen? Du!«, kreischte sie
Dudley an, der immer noch rücklings in der Gasse lag. »Heb deinen
fetten Hintern, aber schnell!«
»Sie kennen Dumbledore?«, sagte Harry und starrte sie an.
»Natürlich kenn ich Dumbledore, wer kennt Dumbledore nicht?
Aber nun komm schon – ich bin dir keine Hilfe, wenn sie
zurückkommen, ich hab in meinem ganzen Leben noch nicht mal
einen Teebeutel verwandelt.«
- 29 -
Sie bückte sich, packte einen von Dudleys massigen Armen mit
ihren schrumpligen Händen und zerrte daran.
»Steh auf, du nutzloser Kloß, steh auf!«
Aber Dudley konnte oder wollte sich nicht rühren. Er blieb am
Boden liegen, zitternd und aschfahl, den Mund fest zugepresst.
»Ich mach das schon.« Harry nahm Dudleys Arm und zog an ihm.
Unter gewaltiger Mühe schaffte er es, ihn auf die Beine zu hieven.
Dudley schien drauf und dran, ohnmächtig zu werden. Seine kleinen
Augen rollten in ihren Höhlen und Schweiß perlte ihm übers Gesicht;
sobald Harry ihn losließ, fing er bedrohlich an zu wanken.
»Beeilt euch!«, drängelte Mrs. Figg aufgeregt.
Harry legte sich einen von Dudleys massigen Armen über die
Schulter und schleifte ihn, unter dem Gewicht leicht einknickend, zur
Straße. Mrs. Figg wackelte vor ihnen her und spähte ängstlich um die
Ecke.
»Behalt den Zauberstab in der Hand«, ermahnte sie Harry, als sie
den Glyzinenweg betraten. »Das Geheimhaltungsstatut kannst du
vergessen, man wird uns sowieso die Hölle heiß machen, jetzt müssen
wir in den bitteren Kürbis beißen. Von wegen Vernunftgemäße
Beschränkung der Zauberei Minderjähriger … das war genau das, was
Dumbledore befürchtet hat – was ist das am Ende der Straße? Oh, es
ist nur Mr. Prentice … nicht den Zauberstab wegstecken, Junge, hab
ich dir nicht gesagt, dass ich zu nichts nütze bin?«
Es war nicht leicht, den Zauberstab gerade zu halten und zugleich
Dudley mitzuschleppen. Harry versetzte seinem Cousin einen
ungeduldigen Stoß in die Rippen, aber Dudley schien alle Lust
verloren zu haben, sich eigenständig zu bewegen. Er hing wie ein
Sack über Harrys Schulter und seine großen Füße schleiften über den
Boden.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie eine Squib sind, Mrs.
Figg?«, fragte Harry und keuchte vor Anstrengung, Schritt um Schritt
weiterzugehen. »Ich hab Sie doch so oft zu Hause besucht – warum
haben Sie nie was gesagt?«
- 30 -
»Anweisung von Dumbledore. Ich sollte ein Auge auf dich haben,
aber nichts sagen, du warst noch zu jung. Tut mir Leid, dass ich dir
das Leben so schwer gemacht hab, Harry, aber die Dursleys hätten
dich nie zu mir gehen lassen, wenn sie geglaubt hätten, es würde dir
Freude machen. Es war nicht leicht, musst du wissen … aber du meine
Güte«, sagte sie mit tragischer Miene und rang erneut die Hände,
»wenn Dumbledore davon erfährt – wie konnte Mundungus denn nur
weggehen, er sollte doch bis Mitternacht im Dienst sein – wo steckt
er? Wie soll ich Dumbledore mitteilen, was passiert ist? Ich kann nicht
apparieren.«
»Ich hab eine Eule, die können Sie sich ausleihen.« Harry stöhnte
und fragte sich, ob sein Rückgrat unter Dudleys Last brechen würde.
»Harry, du verstehst nicht! Dumbledore wird so schnell wie
möglich handeln müssen, das Ministerium hat seine eigenen
Methoden, um Minderjährigenzauberei festzustellen, die werden's
jetzt schon wissen, das kannst du mir glauben.«
»Aber ich hab mir die Dementoren vom Hals geschafft, ohne
Zauberei ging das nicht – die machen sich doch sicher mehr darüber
Sorgen, was diese Dementoren überhaupt im Glyzinenweg
rumzuschweben hatten?«
»Oh, mein Lieber, ich wünschte, das wäre so, aber ich fürchte –
MUNDUNGUS FLETCHER, ICH BRING DICH UM!«
Es gab einen lauten Knall und ein starker Schnapsgestank,
vermischt mit schalem Tabakgeruch, lag plötzlich in der Luft, als ein
untersetzter, unrasierter Mann in zerschlissenem Mantel vor ihnen
Gestalt annahm. Er hatte kurze Säbelbeine, langes, widerspenstiges
rotbraunes Haar und blutunterlaufene Augen mit schlaffen
Tränensäcken, die ihm den traurigen Ausdruck eines Dackels
verliehen. Er hielt ein silbriges Bündel in der Hand, das Harry sofort
als Tarnumhang erkannte.
»Wa'n los, Figgy?«, sagte er und starrte abwechselnd Mrs. Figg,
Harry und Dudley an. »Nix mehr mit Undercover und so?«
»Ich steck dich gleich undercover!«, schrie Mrs. Figg.
»Dementoren, du nichtsnutziger, drückebergerischer Tagedieb!«
- 31 -
»Dementoren?«, wiederholte Mundungus verdattert. »Dementoren,
hier?«
»Ja, hie r, du wertloser Haufen Fledermausmist!«, kreischte Mrs.
Figg. »Dementoren, die den Jungen angreifen, den du bewachen
sollst!«
»Meine Fresse«, sagte Mundungus matt und blickte von Mrs. Figg
zu Harry und wieder zurück. »Meine Fresse, ich …«
»Und du bist unterwegs, geklaute Kessel kaufen! Hab ich dir nicht
gesagt, du sollst hier bleiben? Oder was?«
»Ich – na ja, ich …« Mundungus schien es äußerst unwohl in
seiner Haut zu sein. »Es – es war die Gelegenheit für 'n richtiges
Schnäppchen, weißt du …«
Mrs. Figg hob den Arm mit dem daran baumelnden Einkaufsnetz
und pfefferte es Mundungus um Gesicht und Nacken; nach dem
Klackern zu schließen, war es voller Katzenfutter.
»Autsch – lass mich – lass mich, du verrückte alte Fledermaus!
Jemand muss es Dumbledore sagen!«
»Ja – allerdings!«, schrie Mrs. Figg und schleuderte das Netz mit
dem Katzenfutter gegen alles, was sie von Mundungus erwischen
konnte. »Und – das – machst – am – besten – du – und – du – kannst –
ihm – auch – gleich – sagen – warum – du – nicht – da – warst – und –
ihm – geholfen – hast!«
»Pass auf dein Haarnetz auf!«, rief Mundungus, duckte sich und
hielt die Arme über den Kopf. »Ich geh ja schon, ich geh ja schon!«
Und mit einem zweiten lauten Knall verschwand er.
»Ich hoffe nur, Dumbledore bringt ihn um!«, sagte Mrs. Figg
wütend. »Nun komm schon, Harry, worauf wartest du?«
Harry beschloss, seine verbleibende Puste nicht damit zu
verschwenden, ihr zu erklären, dass er unter Dudleys Last kaum gehen
konnte. Er hievte den halb ohnmächtigen Dudley ein Stück höher und
wankte weiter.
- 32 -
»Ich bring dich bis zur Tür«, sagte Mrs. Figg, als sie in den
Ligusterweg einbogen. »Nur für den Fall, dass noch mehr von denen
in der Gegend sind … o meine Güte, was für eine Katastrophe … und
du hast sie ganz allein abwehren müssen … und Dumbledore hat
gesagt, wir sollen dich um jeden Preis am Zaubern hindern … nun ja,
zu spät zum Jammern, das Kind ist schon in den Kessel gefallen …
aber der Wichtel ist jetzt auf dem Dach.«
»Also«, keuchte Harry, »hat Dumbledore … mich … beschatten
lassen?«
»Natürlich«, sagte Mrs. Figg ungeduldig. »Hast du geglaubt, er
lässt dich alleine rumstromern, nach dem, was im Juni passiert ist?
Mein Gott, Junge, die haben mir gesagt, du hättest Grips … da sind
wir … geh rein und bleib drin«, sagte sie, als sie Nummer vier
erreichten. »Ich denke, jemand wird sich recht bald bei dir melden.«
»Was machen Sie jetzt?«, fragte Harry rasch.
»Ich geh gleich heim«, sagte Mrs. Figg, spähte die dunkle Straße
entlang und schauderte. »Ich muss auf weitere Anweisungen warten.
Bleib ja im Haus. Gute Nacht.«
»Warten Sie, noch einen Moment! Ich will wissen …«
Aber Mrs. Figg war schon mit schlappenden Puschen und
klackerndem Netz davongetrottet.
»Warten Sie!«, rief ihr Harry nach. Er hatte tausend Fragen an
jeden, der in Verbindung mit Dumbledore stand, doch Sekunden
später hatte die Dunkelheit Mrs. Figg verschluckt. Missmutig rückte
Harry Dudley auf seiner Schulter zurecht und machte sich auf den
langwierigen, schmerzhaften Weg durch den Vorgarten von Nummer
vier.
Im Flur brannte Licht. Harry steckte den Zauberstab in den
Hosenbund seiner Jeans, läutete und sah, wie Tante Petunias Umriss
größer und größer wurde, merkwürdig verzerrt durch das geriffelte
Glas der Haustür.
»Diddy! Wird auch langsam Zeit, ich hab mir schon große – große
– Diddy, was ist mit dir?«
- 33 -
Harry beobachtete Dudley aus den Augenwinkeln und tauchte
gerade noch rechtzeitig unter seinem Arm weg. Dudley schwankte
einen Moment lang, das Gesicht blassgrün … dann öffnete er den
Mund und erbrach sich mitten über die Türmatte.
»DIDDY! Diddy, was ist los mit dir? Vernon? VERNON!«
Harrys Onkel kam aus dem Wohnzimmer gestampft, und wie
immer, wenn er aufgeregt war, flatterte sein Walross-Schnurrbart in
alle Richtungen. Er stürmte vor und half Tante Petunia, den
knieweichen Dudley über die Schwelle zu bugsieren, ohne in die
Pfütze aus Erbrochenem zu treten.
»Er ist krank, Vernon!«
»Was ist los mit dir, mein Sohn? Was ist passiert? Hat Mrs. Polkiss
dir was Ausländisches zum Tee serviert?«
»Warum bist du völlig verdreckt, Liebling? Hast du auf dem
Boden gelegen?«
»Hör mal – du bist doch nicht überfallen worden, oder, mein
Sohn?«
Tante Petunia kreischte.
»Ruf die Polizei, Vernon! Ruf die Polizei! Diddy, Schatz, sag's
Mami! Was haben sie dir angetan?«
In dem ganzen Tumult hatte offenbar niemand Notiz von Harry
genommen und ihm war das gerade recht. Er schaffte es, ins Haus zu
schlüpfen, kurz bevor Onkel Vernon die Tür zuschlug, und während
die Dursleys ihre lärmende Prozession durch den Flur zur Küche
unternahmen, stahl sich Harry vorsichtig und leise zur Treppe.
»Wer war das, mein Sohn? Nenn uns die Namen. Keine Sorge, wir
kriegen sie.«
»Schhh! Er will uns was sagen, Vernon! Was ist es, Diddy? Sag's
Mami!«
Harry hatte den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als Dudley seine
Stimme wiederfand.
»Der da.«
- 34 -
Harry erstarrte – den Fuß auf der Treppe, das Gesicht verzerrt –
und machte sich auf eine Explosion gefasst.
»BURSCHE! KOMM HER!«
Zornig und zugleich voller Angst nahm Harry langsam den Fuß
von der Treppe, drehte sich um und folgte den Dursleys.
Die peinlich saubere Küche hatte nach der Dunkelheit draußen
einen seltsam unwirklichen Glanz. Tante Petunia setzte Dudley auf
einen Stuhl; noch immer wirkte er sehr grün und klamm. Onkel
Vernon stand am Abtropfbrett und funkelte Harry mit kleinen, zu
Schlitzen verengten Augen an.
»Was hast du meinem Sohn getan?«, knurrte er drohend.
»Nichts«, sagte Harry und wusste genau, dass Onkel Vernon ihm
nicht glauben würde.
»Was hat er dir getan, Diddy?«, sagte Tante Petunia mit zitternder
Stimme, während sie Dudley Erbrochenes vorn von seiner Lederjacke
wischte. »War es – war es Du-weißt-schon-was, Liebling? Hat er –
sein Ding benutzt?«
Dudley nickte langsam und schlotterte.
»Hab ich nicht!«, sagte Harry scharf, während Tante Petunia eine
Wehklage anstimmte und Onkel Vernon die Fäuste reckte. »Ich hab
ihm nichts getan, ich war's nicht, es war …«
Doch just in diesem Moment segelte eine Kreischeule durch das
Küchenfenster herein. Sie verfehlte Onkel Vernons Haarspitzen
knapp, schwebte durch die Küche, ließ einen großen
Pergamentumschlag, den sie im Schnabel trug, zu Harrys Füßen
fallen, legte eine elegante Kurve hin, wobei sie mit den Flügelspitzen
sacht den Kühlschrank streifte, sauste wieder hinaus und entschwand
über dem Garten.
»EULEN!«, bellte Onkel Vernon, und die schwer mitgenommene
Ader an seiner Schläfe pulsierte zornig, während er das Küchenfenster
zuschlug. »SCHON WIEDER EULEN! ICH DULDE KEINE EULEN
MEHR IN MEINEM HAUS!«
- 35 -
Doch Harry, dem das Herz irgendwo in der Gegend des
Adamsapfels pochte, riss bereits den Umschlag auf und zog den Brief
heraus.
Sehr geehrter Mr. Potter, wir haben Information erhalten, wonach
Sie den Patronus-Zauber heute Abend um dreiundzwanzig Minuten
nach neun in einem Muggelwohngebiet und in Gegenwart eines
Muggels ausgeführt haben.
Die Schwere dieser Verletzung des Erlasses zur Vernunftgemäßen
Beschränkung der Zauberei Minderjähriger hat zu Ihrem Verweis von
der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei geführt. Beauftragte
des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem Wohnort
aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören.
Da Sie bereits eine offizielle Verwarnung aufgrund eines früheren
Vergehens gemäß Abschnitt 13 des Geheimhaltungsabkommens der
Internationalen Zauberervereinigung erhalten haben, bedauern wir
Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Anwesenheit bei einer
disziplinarischen Anhörung im Zaubereiministerium am zwölften
August um neun Uhr verlangt ist.
In der Hoffnung, dass Sie wohlauf sind,
mit freundlichen Grüßen
Mafalda Hopfkirch
Abteilung für unbefugte Zauberei
Zaubereiministerium
Harry las den Brief zweimal durch. Nur verschwommen nahm er
wahr, dass Onkel Vernon und Tante Petunia redeten. In seinem Kopf
war alles eisig und taub. Eine Tatsache hatte sic h in sein Bewusstsein
gebohrt wie ein lähmender Pfeil. Sie hatten ihn von Hogwarts
verwiesen. Alles war zu Ende. Er würde nie zurückkehren.
Er blickte zu den Dursleys hoch. Onkel Vernon, purpurrot im
Gesicht, die Fäuste immer noch gereckt, schrie andauernd; Tante
Petunia hatte die Arme um Dudley gelegt, der von neuem würgte.
Harrys zeitweilig betäubtes Gehirn schien wieder zu erwachen.
Beauftragte des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem
- 36 -
Wohnort aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören. Da gab es nur
eines. Er musste fliehen – und zwar sofort. Wohin, wusste Harry
nicht, doch so viel war sicher: Ob er in Hogwarts war oder nicht,
seinen Zauberstab brauchte er. Fast traumwandlerisch zog er ihn
heraus und wandte sich zum Gehen.
»Wo willst du hin?«, rief Onkel Vernon. Als Harry nicht
antwortete, stampfte er durch die Küche und versperrte die Tür zum
Flur. »Ich bin noch nicht fertig mit dir, Bursche!«
»Geh mir aus dem Weg«, sagte Harry leise.
»Du bleibst hier und erklärst, wie mein Sohn …«
»Wenn du nicht aus dem Weg gehst, verhex ich dich«, sagte Harry
und hob den Zauberstab.
»Darauf fall ich nicht rein!«, schnarrte Onkel Vernon. »Ich weiß,
dass du ihn nicht außerhalb dieser Beklopptenanstalt benutzen darfst,
die ihr Schule nennt!«
»Die Beklopptenanstalt hat mich rausgeschmissen«, sagte Harry.
»Also kann ich tun, was ich will. Du hast drei Sekunden. Eins – zwei
…«
Ein schallender KNALL erfüllte die Küche. Tante Petunia
kreischte, Onkel Vernon schrie und duckte sich, und zum dritten Mal
an diesem Abend suchte Harry nach dem Ursprung eines Lärms, den
er nicht verursacht hatte. Er sah ihn sofort: Eine Schleiereule saß
draußen auf dem Küchenfenstersims, benommen und zerzaust, da sie
eben gegen das geschlossene Fenster gekracht war.
Harry stürmte durch die Küche, ohne auf Onkel Vernons
ängstlichen »EULEN!«-Schrei zu achten, und riss das Fenster auf. Die
Eule streckte ihr Bein vor, an das eine kleine Pergamentrolle
gebunden war, schüttelte die Federn und flog davon, kaum dass Harry
den Brief geborgen hatte. Mit zitternden Händen entrollte er die
zweite Botschaft, die sehr hastig und verkleckst in schwarzer Tinte
geschrieben war.
Harry …
- 37 -
Dumbledore ist eben im Ministerium eingetroffen und versucht,
alles wieder ms Lot zu bringen. VERLASS DAS HAUS VON
TANTE UND ONKEL NICHT. GEBRAUCH KEINEN ZAUBER
MEHR. GIB DEINEN ZAUBERSTAB NICHT AB. Arthur Weasley.
Dumbledore versuchte alles wieder ins Lot zu bringen … was
sollte das heißen? Hatte Dumbledore Macht genug, das
Zaubereiministerium zum Rückzug zu zwingen? Gab es also eine
Chance, dass er doch nach Hogwarts zurück durfte? Ein kleiner
Hoffnungsfunke flammte in Harrys Brust auf, gleich wieder erstickt
von Panik – wie sollte er sich weigern, seinen Zauberstab abzugeben,
ohne einen Zauber zu gebrauchen? Er würde sich mit den
Ministeriumsleuten duellieren müssen, und wenn er das tat, konnte er
von Glück reden, wenn sie ihn nicht nach Askaban steckten, vom
Rauswurf ganz zu schweigen.
Seine Gedanken rasten … er konnte fliehen und dabei Gefahr
laufen, vom Ministerium geschnappt zu werden, oder aber bleiben und
warten, bis sie ihn hier kriegten. Dann lieber fliehen, aber er wusste,
dass Mr. Weasley nur sein Bestes am Herzen lag … und schließlich
hatte Dumbledore schon viel Schlimmeres wieder eingerenkt.
»Na gut«, sagte Harry. »Ich hab's mir anders überlegt. Ich bleibe.«
Schwungvoll setzte er sich auf einen Stuhl am Küchentisch und sah
Dudley und Tante Petunia geradeheraus an. Den Dursleys schien es
angesichts dieses plötzlichen Sinneswandels die Sprache verschlagen
zu haben. Tante Petunia linste verzweifelt zu Onkel Vernon hinüber.
Die Ader an seiner roten Schläfe pochte heftiger denn je.
»Wo kommen all die verdammten Eulen her?«, knurrte er.
»Die erste war aus dem Zaubereiministerium, die kam mit dem
Rauswurf«, sagte Harry gelassen. Er spitzte die Ohren, um etwaige
Geräusche draußen zu hören. Vielleicht waren ja die
Ministeriumsleute im Anmarsch, und es war einfacher und weniger
lärmträchtig, Onkel Vernons Fragen zu beantworten, als ihn erneut in
brüllende Rage zu versetzen. »Die zweite war vom Vater meines
Freundes Ron, der im Ministerium arbeitet.«
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»Zaubereiministerium?«, brüllte Onkel Vernon. »Leute wie ihr in
der Regierung? Oh, das erklärt alles, alles, kein Wunder, dass das
Land vor die Hunde geht.«
Da Harry nicht antwortete, starrte ihn Onkel Vernon funkelnd vor
Zorn an, bevor er wieder losspuckte: »Und wieso haben sie dich
rausgeworfen?«
»Weil ich gezaubert hab.«
»AHA!«, röhrte Onkel Vernon und schlug mit der Faust auf den
Kühlschrank. Die Tür sprang auf und einige von Dudleys
fettreduzierten Snacks kullerten heraus und barsten auf dem Boden.
»Also gibst du es zu! Was hast du Dudle}' angetan?«
»Nichts«, sagte Harry, nicht mehr ganz so gelassen. »Das war ich
nicht …«
»Doch«, murmelte Dudley unerwartet. Onkel Vernon und Tante
Petunia wedelten sofort aufgeregt mit den Händen, um Harry zum
Schweigen zu bringen, und beugten sich tief über Dudley.
»Weiter, mein Sohn«, sagte Onkel Vernon, »was hat er getan?«
»Sag's uns, Liebling«, flüsterte Tante Petunia.
»Seinen Zauberstab auf mich geric htet«, murmelte Dudley.
»Jaah, stimmt, aber ich hab ihn nicht benutzt …«, begann Harry
zornig, doch …
»MAUL HALTEN!«, donnerten Onkel Vernon und Tante Petunia
im Chor.
»Weiter, Sohn«, wiederholte Onkel Vernon mit wild flatterndem
Schnurrbart.
»Alles ist dunkel geworden«, sagte Dudley heiser und
erschauderte. »Alles dunkel. Und dann h-hab ich … Dinge gehört. In
m-meinem Kopf.«
Onkel Vernon und Tante Petunia tauschten von äußerstem
Entsetzen erfüllte Blicke. Wenn es etwas gab, das sie am meisten
verabscheuten, dann war es die Magie – direkt gefolgt von den
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Nachbarn, die beim verbotenen Rasensprengen trickreicher waren als
sie. Aber auch Leute, die Stimmen hörten, waren eindeutig unter den
Top Ten der Missliebigkeiten. Offensichtlich glaubten sie, Dudley
würde den Verstand verlieren.
»Was für Dinge hast du gehört, Schätzchen?«, hauchte Tante
Petunia, ganz weiß im Gesicht und mit Tränen in den Augen.
Doch Dudley schien es nicht sagen zu können. Wieder schauderte
er und schüttelte seinen großen Blondkopf. Trotz des Gefühls von
dumpfem Grauen, das sich seit Ankunft der ersten Eule über Harry
gelegt hatte, spürte er eine gewisse Neugier. Dementoren zwangen
einen Menschen, die schlimmsten Momente seines Lebens noch
einmal zu durchleben. Was hatte wohl ein verzogener und
verhätschelter Quälgeist wie Dudley hören müssen? »Weshalb bist du
hingefallen, Sohn?«, fragte Onkel Vernon mit unnatürlich leiser
Stimme, als ob er am Bett eines sehr kranken Menschen sprechen
würde. »Ge-gestolpert«, sagte Dudley zittrig. »Und dann —« Er fuhr
sich mit der Hand an die massige Brust. Harry begriff. Dudley
erinnerte sich an die klamme Kälte, die einem die Lunge durchdrang,
während die Dementoren Hoffnung und Glück aus einem
heraussogen. »Schrecklich«, krächzte Dudley. »Kalt. Total kalt.«
»Okay«, sagte Onkel Vernon mit gezwungen ruhiger Stimme,
während Tante Petunia ängstlich die Hand auf Dudleys Stirn legte, um
zu fühlen, ob er Fieber hatte. »Was ist dann passiert, Duddy?«
»Mir war … mir war … als ob … als ob … als ob …«
»Als ob du nie mehr glücklich sein würdest«, half Harry tonlos
nach.
»Ja«, flüsterte Dudley unentwegt zitternd.
»So!«, sagte Onkel Vernon, die Stimme zu voller und
beträchtlicher Lautstärke erhoben, und richtete sich auf. »Du hast
meinen Sohn mit irgendeinem verrückten Fluch belegt, damit er
Stimmen hörte und glaubte, er sei – zum Elend verdammt oder so was,
stimmt's?«
»Wie oft muss ich es dir noch erklären?«, sagte Harry und mit der
Wut schwoll auch seine Stimme an. »Ich war es nicht! Es war ein Paar
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Dementoren!« »Ein Paar – was für 'n Quatsch?« »De – men – to –
ren«, sagte Harry langsam und deutlich. »Zwei davon.« »Und was
zum Teufel noch mal sind Dementoren?« »Die bewachen Askaban,
das Zauberergefängnis«, sagte Tante Petunia.
Zwei Sekunden dröhnender Stille traten auf diese Worte hin ein,
dann schlug Tante Petunia die Hand vor den Mund, als ob ihr ein
abscheuliches Schimpfwort entfahren wäre. Onkel Vernon glotzte sie
an. Harry drehte sich alles im Kopf. Mrs. Figg, na gut – aber Tante
Petunia?
»Woher weißt du das?«, fragte er verblüfft. Tante Petunia schien
über sich selbst haltlos entsetzt. Sie äugte in ängstlicher Abbitte zu
Onkel Vernon hinüber, dann ließ sie die Hand ein wenig sinken und
entblößte ihre Pferdezähne. »Ich hab – diesen schlimmen Jungen – vor
Jahren gehört – wie er ihr – davon erzählt hat«, sagte sie stoßweise.
»Wenn du meine Mum und meinen Dad meinst, warum nennst du
sie nicht beim Namen?«, sagte Harry laut, doch Tante Petunia achtete
nicht auf ihn. Sie schien fürchterlich durcheinander zu sein.
Harry war entgeistert. Vor Jahren hatte Tante Petunia einmal einen
Gefühlsausbruch gehabt und geschrien, dass Harrys Mutter eine
Missgeburt gewesen sei, doch seither hatte er sie nie wieder ihre
Schwester erwähnen hören. Dass sie diesen Wissensfetzen über die
magische Welt so lange in Erinnerung behalten hatte, verblüffte ihn,
wo sie doch sonst immer nach Kräften so tat, als existierte diese Welt
überhaupt nicht.
Onkel Vernon öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn
erneut, schloss ihn, und dann, indem er sich offenbar mühselig daran
erinnerte, wie man spricht, öffnete er ihn ein drittes Mal und krächzte:
»Also – die – ähm – gibt's – ähm – wirklich, ja, diese – ähm – Demenwie-
war-das?«
Tante Petunia nickte.
Onkel Vernon sah abwechselnd Tante Petunia und Dudley und
Harry an, als hoffte er, jemand würde »April, April!« rufen. Da es
niemand tat, öffnete er wieder den Mund, doch das Ringen um weitere
Worte wurde ihm erspart durch die Ankunft der dritten Eule an
diesem Abend. Sie schoss wie eine gefiederte Kanonenkugel durch
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das immer noch offene Fenster, landete klackernd auf dem
Küchentisch und ließ alle Dursleys vor Schreck zusammenfahren.
Harry zog einen zweiten amtlich wirkenden Umschlag aus dem
Schnabel der Eule und riss ihn auf, während die Eule in die Nacht
entschwebte.
»Mir reicht's mit diesen – ekligen – Eulen«, murmelte Onkel
Vernon verstört, stampfte hinüber zum Fenster und schlug es wieder
zu.
Sehr geehrter Mr. Potter,
in Bezug auf unseren Brief vor annähernd zweiundzwanzig
Minuten hat das Zaubereiministerium seine Entscheidung, Ihren
Zauberstab unverzüglich zu zerstören, aufgehoben. Es ist Ihnen
gestattet, den Zauberstab bis zu Ihrer disziplinarischen Anhörung am
zwölften August zu behalten, bei der eine offizielle Entscheidung
getroffen werden wird. Infolge der Konsultationen mit dem Leiter der
Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei hat das Ministerium sich
einverstanden erklärt, über die Frage Ihres Schulverweises ebenfalls
zu besagtem Termin zu entscheiden. Bis zum Abschluss des
schwebenden Untersuchungsverfahrens sollten Sie sich daher als von
der Schule suspendiert betrachten. Mit den besten Wünschen und
freundlichen Grüßen
Mafalda Hopfkirch
Abteilung für unbefugte Zauberei Zaubereiministerium Harry las
diesen Brief dreimal in rascher Folge durch. Dass er noch nicht
endgültig von der Schule verwiesen war, erleichterte ihn, und der
quälende Knoten in seiner Brust löste sich ein wenig, doch seine
Befürchtungen waren keineswegs gebannt. Alles schien von dieser
Anhörung am zwölften August abzuhängen.
»Nun?«, sagte Onkel Vernon und holte Harry wieder in seine
Umgebung zurück. »Was jetzt? Haben sie dich zu irgendwas
verurteilt? Gibt's bei eurer Sippschaft eigentlich die Todesstrafe?«,
fügte er hoffnungsvoll hinzu.
»Ich muss zu einer Anhörung«, sagte Harry.
»Und da verurteilen sie dich?«
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»Ich nehm an.«
»Dann würd ich nicht die Hoffnung aufgeben«, sagte Onkel
Vernon gehässig.
»Tja, wenn das alles ist«, sagte Harry und stand auf. Er wünschte
sich verzweifelt, endlich alleine zu sein, nachzudenken, vielleicht
einen Brief an Ron, Hermine und Sirius zu schicken.
»NEIN, DAS IST VERDAMMT NOCH MAL NICHT ALLES!«,
blökte Onkel Vernon. »SETZ DICH WIEDER HIN!«
»Was noch?«, fragte Harry unwirsch.
»DUDLEY!«, dröhnte Onkel Vernon. »Ich will genau wissen, was
mit meinem Sohn passiert ist!«
»SCHÖN!«, schrie Harry, und in seiner Wut schossen rote und
goldene Funken aus der Spitze des Zauberstabs, den er immer noch
umklammert hielt. Alle drei Dursleys zuckten mit ängstlichem Blick
zurück.
»Dudley und ich waren in der Gasse zwischen Magnolienring und
Glyzinenweg«, sagte Harry schnell, er konnte nur mühsam seine
Gereiztheit zügeln. »Dudley hat geglaubt, er kann frech werden, ich
hab den Zauberstab gezogen, ihn aber nicht benutzt. Dann sind die
zwei Dementoren aufgetaucht …«
»Aber was SIND denn Dementöre?«, fragte Onkel Vernon fuchsig.
»Was MACHEN die?«
»Ich hab's dir doch gesagt – die saugen alles Glück aus dir raus«,
sagte Harry, »und wenn sie es schaffen, dann küssen sie dich …«
»Küssen mich?«, sagte Onkel Vernon mit leicht vorquellenden
Augen. »Küssen mich?«
»Das nennt man so, wenn sie dir die Seele aus dem Mund saugen.«
Tante Petunia stieß einen leisen Schrei aus.
»Seine Seele? Die haben doch nicht seine – er hat doch noch …«
Sie packte Dudley an den Schultern und schüttelte ihn, wie um zu
prüfen, ob sie seine Seele innen drin scheppern hören konnte.
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»Natürlich haben sie seine Seele nicht gekriegt, das würdest du
merken«, sagte Harry genervt.
»Du hast sie fortgejagt, ja, mein Sohn?«, sagte Onkel Vernon laut,
mit der Miene eines Mannes, der versucht das Gespräch auf eine
Ebene zurückzuholen, auf der er mitreden kann. »Hast denen hübsch
eingeschenkt, links, rechts, wie immer?«
»Einem Dementor kann man nicht links, rechts einschenken«, sagte
Harry mit zusammengebissenen Zähnen.
»Und warum ist er dann in Ordnung?«, brauste Onkel Vernon auf.
»Warum ist er dann nicht völlig leer?«
»Weil ich den Patronus …«
WUUSCH. Klackernd, mit Flügelgeflatter und einem kleinen
Staubschauer kam eine vierte Eule aus dem Küchenkamin geschossen.
»UM GOTTES WILLEN!«, röhrte Onkel Vernon und zog große
Haarbüschel aus seinem Schnurrbart, wozu er sich seit langem nicht
mehr hatte hinreißen lassen. »ICH WILL HIER KEINE EULEN
HABEN, ICH WERDE DAS NICHT ZULASSEN, SAG ICH DIR!«
Aber Harry zog schon eine Pergamentrolle vom Bein der Eule. Er
war so überzeugt, dass dieser Brief von Dumbledore sein musste und
alles erklärte – die Dementoren, Mrs. Figg, was das Ministerium
vorhatte, wie er, Dumbledore, alles wieder ins Lot bringen wollte –,
dass er zum ersten Mal im Leben enttäuscht war, Sirius' Handschrift
zu sehen. Er hörte nicht auf Onkel Vernons andauerndes Geschimpfe
über Eulen, kniff stattdessen, weil die bislang letzte Eule gerade
wieder den Schornstein hoch entfleuchte, die Augen vor einer
weiteren Staubwolke zu schmalen Schlitzen zusammen und las Sirius'
Nachricht:
Arthur hat mir eben erzählt, was passiert ist. Was immer du tust,
verlass auf keinen Fall mehr das Haus.
Harry hielt das für eine so unpassende Antwort auf alles, was heute
Abend geschehen war, dass er das Pergamentblatt umdrehte und nach
dem Rest des Briefes suchte, doch da stand nichts weiter.
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Und jetzt stieg erneut die Wut in ihm hoch. Konnte nicht
irgendjemand »gut gemacht« sagen, wo er doch zwei Dementoren
eigenhändig in die Flucht geschlagen hatte? Mr. Weasley und Sirius
taten gerade so, als ob er sich danebenbenommen hätte und sie nur
noch abwarteten, bis sie klären konnten, wie viel Schaden er
angerichtet hatte, ehe sie ihn zurechtstutzten.
»… Dieser Käfig – ich meine – dieses Haus ist kein Eulenkäfig.
Damit muss Schluss sein, Bursche, endgültig …«
»Ich kann die Eulen nicht aufhalten«, fauchte Harry und zerknüllte
Sirius' Brief in der Faust.
»Ich will die Wahrheit wissen über das, was heute Abend passiert
ist!«, bellte Onkel Vernon. »Wenn das Dementöre waren, die Dudley
wehgetan haben, warum bist du dann rausgeschmissen worden? Du
hast Du-weißt-schon-was gemacht, du hast es selbst zugegeben!«
Harry tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. Sein Kopf begann
wieder zu schmerzen. Er wollte nichts sehnlicher als aus der Küche
verschwinden, weg von den Dursleys.
»Ich hab den Patronus-Zauber eingesetzt, um die Dementoren
loszuwerden«, sagte er und zwang sich ruhig zu bleiben. »Das ist das
Einzige, was gegen die wirkt.«
»Aber was hatten diese Demontöre überhaupt in Little Whinging
zu suchen?«, sagte Onkel Vernon empört.
»Kann ich dir nicht sagen«, sagte Harry matt. »Keine Ahnung.«
Die gleißenden Lichtleisten ließen seinen Kopf dröhnen.
Allmählich ebbte seine Wut ab. Er fühlte sich ausgelaugt und
erschöpft. Die Dursleys starrten ihn an.
»Wegen dir«, sagte Onkel Vernon auftrumpfend. »Das hat was mit
dir zu tun, Bursche, ich weiß es. Weshalb sollten die sonst hier
auftauchen? Weshalb sollten die sonst in diese Gasse kommen? Du
musst der einzige – der einzige …« Offensichtlich brachte er es nicht
über sich, »Zauberer« zu sagen. »Der einzige Du-weißt-schon-was
meilenweit sein.«
»Ich weiß nicht, warum die hier waren.«
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Doch bei Onkel Vernons Worten begann Harrys erschöpftes
Gehirn wieder zu arbeiten. Weshalb waren die Dementoren nach
Little Whinging gekommen? Konnte es wirklich Zufall sein, dass sie
in der Gasse aufgetaucht waren, in der Harry unterwegs war? Hatte
jemand sie geschickt? Hatte das Zaubereiministerium die Kontrolle
über die Dementoren verloren? Hatten sie Askaban verlassen und sich
Voldemort angeschlossen, wie es Dumbledore vorausgesagt hatte?
»Diese Demontöre bewachen irgend so ein Spinnergefängnis?«,
fragte Onkel Vernon nachdenklich, als dümpele er in Harrys
Gedankenstrom.
»Ja«, sagte Harry.
Wenn ihm nur der Kopf nicht mehr wehtun würde, wenn er doch
nur aus der Küche und auf sein dunkles Zimmer gehen und
nachdenken könnte …
»Oho! Die sind gekommen, um dich zu verhaften!«, sagte Onkel
Vernon mit der siegessicheren Miene eines Mannes, der zu einem
unanfechtbaren Schluss gelangt ist. »Das ist es, stimmt's, Bursche? Du
bist auf der Flucht vor dem Gesetz!«
»Natürlich nicht«, erwiderte Harry und schüttelte den Kopf, wie
um eine Fliege zu verscheuchen, während sich seine Gedanken
überschlugen.
»Warum dann …?«
»Er muss sie geschickt haben«, sagte Harry leise, mehr zu sich
selbst als zu Onkel Vernon.
»Was soll das heißen? Wer muss sie geschickt haben?«
»Lord Voldemort«, sagte Harry.
Dumpf bemerkte er, wie seltsam es war, dass die Dursleys, die
zuckten, zitterten und zeterten, wenn sie nur Worte wie »Zauberer«,
»Magie« oder »Zauberstab« hörten, den Namen des bösesten
Zauberers aller Zeiten ohne das leiseste Schaudern ertragen konnten.
»Lord – wart mal«, sagte Onkel Vernon mit angespannter Miene
und in seinen Schweinsäuglein begann es zu dämmern. »Den Namen
hab ich schon mal gehört … das war doch derjenige, der …«
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»Meine Eltern umgebracht hat, ja«, sagte Harry.
»Aber der ist weg«, entgegnete Onkel Vernon ungeduldig und
ohne das geringste Zeichen, dass der Mord an Harrys Eltern vielleicht
ein schmerzliches Thema sein könnte. »Dieser riesenhafte Kerl hat es
gesagt. Er ist weg.«
»Er ist zurück«, sagte Harry mit schwerer Stimme.
Es kam ihm unwirklich vor, wie er da in Tante Petunias klinisch
sauberer Küche stand, neben dem Premium-Kühlschrank und dem
Breitbildfernseher, und sich mit Onkel Vernon gelassen über Lord
Voldemort unterhielt. Mit der Ankunft der Dementoren in Little
Whinging schien die große, unsichtbare Mauer durchbrochen worden
zu sein, welche die gnadenlos nichtmagische Welt des Ligusterwegs
und die Welt jenseits von ihr getrennt hatte. Harrys zwei Leben hatten
sich gleichsam verschmolzen und alles war auf den Kopf gestellt; die
Dursleys fragten nach Einzelheiten über die magische Welt und Mrs.
Figg kannte Albus Dumbledore; Dementoren schwirrten in Little
Whinging umher und er selbst würde vielleicht nie mehr nach
Hogwarts zurückkehren. In Harrys Kopf pochte es noch
schmerzhafter.
»Zurück?«, flüsterte Tante Petunia.
Sie sah Harry an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte . Und
schlagartig, zum ersten Mal in seinem Leben, wurde Harry voll und
ganz bewusst, dass Tante Petunia die Schwester seiner Mutter war. Er
hätte nicht sagen können, warum ihn das in diesem Augenblick traf
wie ein heftiger Schlag. Er wusste nur, dass er nicht der einzige
Mensch in der Küche war, der eine leise Ahnung davon hatte, was es
bedeuten könnte, dass Lord Voldemort zurück war. Tante Petunia
hatte ihn noch nie im Leben auf diese Weise angesehen. Ihre großen,
blassen Augen (denen der Schwester so unähnlich) waren nicht in
Abneigung oder Zorn verengt, sie waren geweitet und angsterfüllt.
Die Fassade, die Tante Petunia während all der Zeit mit Harry wild
entschlossen aufrechterhalten hatte – wonach es keine Magie und
keine andere Welt als die gab, die sie mit Onkel Vernon bewohnte –,
diese Fassade war offenbar zusammengebrochen.
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»Ja«, sagte Harryjetzt direkt an Tante Petunia gewandt. »Er ist vor
einem Monat zurückgekehrt. Ich hab ihn gesehen.«
Ihre Hände suchten Dudleys massige, lederbewehrte Schultern und
klammerten sich daran fest.
»Wart mal«, sagte Onkel Vernon und blickte abwechselnd seine
Frau und Harry an, durch das unerhörte Verständnis, das zwischen den
beiden erwacht war, offenbar völlig verdattert und konfus. »Wart mal.
Dieser Lord Waldimord ist zurück, sagst du.«
»Ja.«
»Der deine Eltern umgebracht hat.«
»Ja.«
»Und jetzt jagt er dir Demontoren auf den Hals?«
»Sieht so aus«, sagte Harry.
»Verstehe«, sagte Onkel Vernon, blickte von seiner bleichen Frau
zu Harry und zog sich die Hosen zurecht. Er schien anzuschwellen,
sein großes, purpurrotes Gesicht schien vor Harrys Augen immer
breiter zu werden. »Nun, damit ist der Fall klar«, sagte er, und sein
Hemd spannte sich, während er sich aufplusterte. »Du kannst aus
diesem Haus verschwinden, Bursche!«
»Was?«, sagte Harry.
»Du hast mich gehört – RAUS!«, bellte Onkel Vernon und selbst
Tante Petunia und Dudley schraken zusammen. »RAUS! RAUS! Das
hätt ich schon vor Jahren tun sollen! Eulen betrachten mein Haus als
Erholungsheim, Nachspeisen explodieren, das halbe Wohnzimmer
wird demoliert, Dudleys Schwanz, Magda hüpft an der Decke rum
und dieser fliegende Ford Anglia – RAUS! RAUS! Das reicht jetzt!
Du kannst verschwinden! Du wirst nicht hier bleiben, wenn irgendein
Irrer hinter dir her ist, du wirst meine Frau und meinen Sohn nicht
gefährden und du wirst uns keine Scherereien machen. Wenn du den
gleichen Weg gehst wie deine nutzlosen Eltern, dann soll's mir recht
sein! RAUS!«
Harry stand da wie angewurzelt. Die Briefe vom Ministerium, von
Mr. Weasley und Sirius steckten zerknüllt in seiner linken Hand. Was
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immer du tust, verlass auf keinen Fall mehr das Haus. VERLASS
DAS HAUS VON TANTE UND ONKEL NICHT.
»Du hast mich verstanden!«, sagte Onkel Vernon und beugte sich
vor, bis sein feistes purpurrotes Gesicht dem von Harry so nahe kam,
dass er tatsächlich Spucketröpfchen auf der Haut spürte. »Auf geht's!
Vor 'ner halben Stunde warst du noch ganz wild drauf, abzuhauen!
Nur zu! Raus hier, und setz nie wieder einen Fuß auf unsere
Türschwelle! Keine Ahnung, warum wir dich überhaupt
aufgenommen haben, Magda hatte Recht, du hättest ins Waisenhaus
gehört. Wir waren verflucht noch mal zu nachgiebig, haben nicht an
uns gedacht, meinten, wir könnten's aus dir rausquetschen, meinten,
wir könnten einen normalen Jungen aus dir machen, aber du warst von
Anfang an verdorben, und ich hab die Schnauze voll – Eulen!«
Die fünfte Eule stieß den Kamin herab, so schnell, dass sie erst
einmal auf den Boden krachte, bevor sie mit einem lauten Schrei
wieder in die Luft flatterte. Harry hob die Hand, um den Brief zu
schnappen, der in einem scharlachroten Umschlag steckte, doch er
schwebte direkt über seinen Kopf hinweg und auf Tante Petunia zu,
die aufschrie, die Arme übers Gesicht hielt und sich wegduckte. Die
Eule ließ den roten Umschlag auf ihren Kopf fallen, machte kehrt und
flog geradewegs den Kamin wieder hoch.
Harry stürzte vor, um den Brief aufzuheben, doch Tante Petunia
war schneller.
»Du kannst ihn aufmachen, wenn du willst«, sagte Harry, »aber ich
hör trotzdem, was drinsteht. Das ist ein Heuler.«
»Lass ihn los, Petunia«, donnerte Onkel Vernon. »Rühr ihn nicht
an, er könnte gefährlich sein!«
»Er ist an mich adressiert«, sagte Tante Petunia mit zitternder
Stimme. »Er ist an mich adressiert, Vernon, sieh nur! Mrs. Petunia
Dursley, Die Küche, Ligusterweg Nummer vier …«
Sie hielt den Atem an, starr vor Entsetzen. Der rote Umschlag hatte
zu kokeln begonnen.
»Mach ihn auf!«, drängte Harry. »Bring's hinter dich. Es passiert
sowieso.«
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»Nein.«
Tante Petunias Hand zitterte. Sie blickte wild in der Küche umher,
als ob sie nach einem Fluchtweg suchte, doch zu spät – der Umschlag
ging in Flammen auf. Tante Petunia kreischte und ließ ihn fallen.
Eine schreckliche Stimme, die aus dem brennenden Brief auf dem
Tisch drang, erfüllte die Küche und hallte in dem engen Raum wider.
»Denk an meinen letzten, Petunia.«
Tante Petunia schien am Rande der Ohnmacht. Sie sank, das
Gesicht in den Händen, auf den Stuhl neben Dudley. In der Stille
verschmorten die Überreste des Umschlags zu Asche.
»Was ist das?«, sagte Onkel Vernon heiser. »Was – was soll das –
Petunia?« Tante Petunia schwieg. Dudley starrte stumpfsinnig und mit
offenem Mund seine Mutter an. Die Stille schraubte sich ins
Unerträgliche. Völlig entgeistert und mit zum Bersten hämmerndem
Kopf beobachtete Harry seine Tante. »Petunia, Liebling?«, sagte
Onkel Vernon ängstlich. »P-Petunia?« Sie hob den Kopf. Sie zitterte
noch immer. Sie schluckte. »Der Junge – der Junge muss hier bleiben,
Vernon«, sagte sie matt. »W-was?« »Er bleibt«, sagte sie. Sie sah
Harry nicht an. Sie stand auf. »Er … aber Petunia …« »Wenn wir ihn
rauswerfen, reden die Nachbarn«, sagte sie. Rasch gewann sie ihre
übliche forsche, bissige Art zurück, auch wenn sie immer noch sehr
blass war. »Die werden peinliche Fragen stellen und wissen wollen,
wo er hin ist. Wir müssen ihn behalten.«
Onkel Vernon entwich die Luft wie einem alten Reifen.
»Aber Petunia – Liebling …«
Tante Petunia achtete nicht auf ihn. Sie wandte sich an Harry.
»Du bleibst in deinem Zimmer«, sagte sie. »Du verlässt das Haus
nicht. Jetzt geh zu Bett.« Harry rührte sich nicht. »Von wem war
dieser Heuler?« »Stell keine Fragen«, schnappte Tante Petunia. »Hast
du Verbindung zu Zauberern?« »Ich hab dir doch gesagt, du sollst zu
Bett gehen!«
»Was sollte das heißen? Denk an meinen letzten – was?«
»Geh zu Bett!«
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»Wieso?«
»DU HAST GEHÖRT, WAS DEINE TANTE GESAGT HAT,
JETZT GEH ZU BETT!«
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Die Vorhut
Ich bin gerade von Dementoren angegriffen worden und werde
vielleicht von Hogwarts verwiesen. Ich will wissen, was vor sich geht
und wann ich hier rauskomme.
Harry schrieb diese Worte auf drei verschiedene Pergamentblätter,
sobald er den Schreibtisch in seinem dunklen Zimmer erreicht hatte.
Er adressierte das erste Blatt an Sirius, das zweite an Ron und das
dritte an Hermine. Hedwig, seine Eule, war draußen auf Jagd; ihr
Käfig stand leer auf dem Tisch. Harry ging im Zimmer auf und ab und
wartete auf ihre Rückkehr, mit hämmerndem Kopf, das Gehirn zu
wach zum Schlafen, obwohl ihm die Augen tränten und brannten vor
Müdigkeit. Sein Rücken tat weh von der Anstrengung, Dudley nach
Haus zu schleppen, und die zwei Beulen am Kopf, wo das Fenster und
Dudleys Faust ihn getroffen hatten, pochten schmerzhaft.
Immer wieder ging er im Zimmer auf und ab, zornig und
enttäuscht, knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und warf jedes
Mal, wenn er am Fenster vorbeikam, wütende Blicke hinaus auf den
leeren, sternübersäten Himmel. Dementoren waren hinter ihm her,
Mrs. Figg und Mundungus Fletcher beschatteten ihn heimlich, dann
ein vorläufiges Schulverbot für Hogwarts und eine Anhörung im
Zaubereiministerium – und immer noch sagte ihm keiner, was
eigentlich los war.
Und worum, worum war es bei diesem Heuler gegangen? Wessen
Stimme war so grausig, so bedrohlich durch die Küche gehallt?
Warum saß er immer noch ohne Neuigkeiten hier fest?
Warum behandelten ihn alle wie ein ungezogenes Kind? Gebrauch
keinen Zauber mehr, bleib im Haus …
Im Vorbeigehen trat er gegen seinen Schulkoffer, was jedoch
keineswegs seinen Zorn linderte, es ging ihm nur noch schlechter,
weil ihm neben all den anderen Schmerzen in seinem Körper jetzt
auch noch ein heftiges Stechen im Zeh zu schaffen machte.
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Gerade war er am Fenster vorbeigehumpelt, da schwebte Hedwig,
leise mit den Flügeln raschelnd, wie ein kleines Gespenst herein.
»Wird auch Zeit«, fauchte Harry, als sie sanft auf ihrem Käfig
landete. »Leg den weg, ich hab Arbeit für dich!«
Hedwigs große, runde Bernsteinaugen starrten ihn vorwurfsvoll
über den toten Frosch in ihrem Schnabel hinweg an.
»Komm her«, sagte Harry, nahm die drei kleinen Pergamentrollen
und einen Lederriemen und schnürte die Rollen an ihrem schuppigen
Bein fest. »Bring die sofort zu Sirius, Ron und Hermine, und komm
nicht ohne gute, ausführliche Antworten zurück. Hack auf ihnen rum,
wenn nötig, bis sie ordentlich lange Antworten geschrieben haben.
Verstanden?«
Hedwig, immer noch den Frosch im Schnabel, stieß einen
erstickten Schrei aus.
»Na dann los«, sagte Harry.
Sie flog auf der Stelle davon. Kaum war sie verschwunden, ließ
sich Harry ohne sich auszuziehen aufs Bett fallen und starrte hoch an
die dunkle Decke. Elend, wie ihm ohnehin schon zumute war, fühlte
er sich jetzt auch noch schuldig, dass er gemein zu Hedwig gewesen
war; sie war die einzige Freundin, die er im Ligusterweg Nummer vier
hatte. Er wollte es wieder gutmachen, wenn sie mit den Antworten
von Sirius, Ron und Hermine zurückkam.
Sie mussten unbedingt schnellstens antworten; einen
Dementorenangriff konnten sie unmöglich ignorieren. Wahrscheinlich
würde er morgen aufwachen und drei dicke Briefe voller Mitgefühl
und Pläne für einen sofortigen Umzug in den Fuchsbau vorfinden.
Und bei dieser tröstlichen Vorstellung wogte der Schlaf über ihn hin
und ertränkte alle weiteren Gedanken.
Doch Hedwig kehrte am nächsten Morgen nicht zurück. Harry
verbrachte den Tag in seinem Zimmer und verließ es nur, um ins Bad
zu gehen. Dreimal schob Tante Petunia an diesem Tag Essen durch
die Katzenklappe, die Onkel Vernon drei Sommer zuvor angebracht
hatte. Jedes Mal wenn Harry sie kommen hörte, machte er den
Versuch, von ihr etwas über den Heuler zu erfahren, aber er hätte
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genauso gut den Türknauf befragen können, so viel Auskunft bekam
er. Ansonsten hielten sich die Dursleys völlig seinem Zimmer fern.
Harry wiederum hielt es für sinnlos, ihnen seine Gesellschaft
aufzuzwingen. Noch ein Streit würde nichts bewirken und ihn
womöglich so in Rage versetzen, dass er schon wieder rechtswidrige
Zauber gebrauchte.
So ging es ganze drei Tage lang. Mal war Harry von einer rastlosen
Energie durchdrungen, die es ihm unmöglich machte, sich mit etwas
zu beschäftigen, die ihn durchs Zimmer trieb, voll Wut auf die ganze
Bagage, die sich nicht um ihn scherte und ihn jetzt in seinem Elend
schmoren ließ; dann wieder erfasste ihn eine so ausweglose Trägheit,
dass er eine geschlagene Stunde auf dem Bett liegen konnte, benebelt
ins Leere starrend und gepeinigt von Angst vor der Anhörung im
Ministerium.
Was, wenn sie ihn verurteilten? Was, wenn sie ihn tatsächlich
rauswarfen und seinen Zauberstab entzweibrachen? Was sollte er dann
machen, wohin sollte er gehen? Jetzt, da er die andere Welt kannte,
die Welt, in die er wirklich gehörte, konnte er nicht einfach so bei den
Dursleys weiterleben. Konnte er vielleicht in Sirius' Haus ziehen, wie
Sirius es ihm vor einem Jahr vorgeschlagen hatte, bevor ihn das
Ministerium zur Flucht gezwungen hatte? Würde man Harry gestatten,
dort allein zu leben, obwohl er doch immer noch minderjährig war?
Oder würde man bald für ihn entscheiden, wohin er zu gehen hätte?
War seine Verletzung des Internationalen Geheimhaltungsabkommens
so schwer gewesen, dass er in einer Zelle in Askaban landen würde?
Immer wenn er daran dachte, glitt Harry unwillkürlich vom Bett und
ging erneut im Zimmer auf und ab.
Es war die vierte Nacht, seit Hedwig fort war, Harry lag wieder
einmal stumpf und teilnahmslos auf dem Bett und starrte erschöpft
und mit vollkommen leerem Kopf an die Decke, als sein Onkel ins
Zimmer trat. Harry drehte sich langsam zu ihm um. Onkel Vernon
trug seinen besten Anzug und eine mächtig blasierte Miene.
»Wir gehen aus«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Wir – das heißt deine Tante, Dudley und ich – wir gehen aus.«
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»Schön«, sagte Harry dumpf und sah wieder zur Decke.
»Du bleibst in deinem Zimmer, während wir weg sind.«
»Okay.«
»Du rührst den Fernseher, die Stereoanlage und auch keine anderen
Sachen von uns an.«
»Gut.«
»Du stiehlst kein Essen aus dem Kühlschrank.«
»Okay.«
»Ich schließe deine Tür ab.«
»Tu das.«
Onkel Vernon, offenbar argwöhnisch, weil Harry sich nicht
wehrte, warf ihm einen bösen Blick zu, dann stampfte er aus dem
Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Harry hörte, wie sich der
Schlüssel im Schloss drehte und Onkel Vernon schweren Schrittes die
Treppe hinunterging. Ein paar Minuten später hörte er Autotüren
knallen, einen Motor aufbrummen und das unverwechselbare
Geräusch eines Autos, das aus der Einfahrt brauste.
Dass die Dursleys wegfuhren, kümmerte Harry nicht sonderlich.
Ihm war es gleichgültig, ob sie zu Hause waren oder nicht. Er brachte
nicht einmal die Kraft auf, vom Bett aufzustehen und das Licht
anzumachen. Im Zimmer wurde es allmählich dunkel, und er kg da
und lauschte den nächtlichen Geräuschen, die durchs Fenster wehten,
das er immer offen ließ in der sehnlichen Hoffnung, Hedwig würde
endlich zurückkehren.
Das leere Haus knarzte um ihn her. Die Rohre gurgelten. Harry lag
wie betäubt da, in Trübsal versunken, und dachte an nichts.
Dann, ganz deutlich, hörte er unten in der Küche ein Klirren.
Schlagartig saß er kerzengerade im Bett und lauschte angestrengt.
Die Dursleys konnten noch nicht zurück sein, es war viel zu früh und
außerdem hatte er ihren Wagen nicht gehört.
Für einige Sekunden trat Stille ein, dann vernahm er Stimmen.
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Einbrecher, dachte er und glitt vom Bett – doch eine Sekunde
später schoss ihm durch den Kopf, dass Einbrecher leise reden
würden, und wer immer sich in der Küche herumtrieb, machte sich
offenbar darüber keine Gedanken.
Er griff nach seinem Zauberstab auf dem Nachttisch, fixierte reglos
die Zimmertür und lauschte, so gut er konnte. Im nächsten Moment
zuckte er zusammen, als das Schloss laut klickte und seine Tür
aufschwang.
Harry blieb starr stehen, spähte durch die offene Tür auf den
dunklen oberen Treppenabsatz und horchte angespannt nach weiteren
Geräuschen, doch er hörte nichts. Nach kurzem Zögern huschte er
geräuschlos aus dem Zimmer zur Treppe hinaus.
Das Herz sprang ihm bis an die Kehle. Unten, im düsteren Flur,
standen Leute. Die Straßenbeleuchtung, die durch die Glastür
schimmerte, ließ nur ihre Umrisse erkennen; acht oder neun waren es,
und soweit er sehen konnte, blickten alle zu ihm hoch.
»Den Zauberstab runter, Junge, bevor du jemandem das Auge
ausstichst«, sagte eine dunkle, knurrende Stimme.
Harrys Herz fing wild an zu klopfen. Er kannte diese Stimme, aber
den Zauberstab ließ er nicht sinken.
»Professor Moody?«, sagte er unsicher.
»Den ›Professor‹ lass mal stecken«, knurrte die Stimme, »bin nie
groß zum Unterrichten gekommen, oder? Nun aber runter hier, wir
wollen dich richtig sehen.«
Harry ließ den Zauberstab ein wenig sinken, hielt ihn aber weiter
fest umklammert und rührte sich auch nicht. Er hatte allen Grund,
misstrauisch zu sein. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er neun
Monate in der vermeintlichen Gesellschaft von Mad-Eye Moody
verbracht, um schließlich festzustellen, dass es überhaupt nicht Moody
gewesen war, sondern ein Doppelgänger; ein Doppelgänger überdies,
der Harry hatte töten wollen, bevor er enttarnt wurde. Doch ehe Harry
wusste, was er als Nächstes tun sollte, schwebte eine zweite, ein
wenig heisere Stimme treppauf.
»Schon in Ordnung, Harry. Wir sind hier, um dich abzuholen.«
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Harrys Herz machte einen Satz. Auch diese Stimme kannte er,
obwohl er sie seit über einem Jahr nicht mehr gehört hatte.
»P-Professor Lupin?«, sagte er ungläubig. »Sind Sie das?«
»Warum stehen wir alle im Dunkeln rum?«, sagte eine dritte
Stimme, diesmal eine gänzlich unvertraute, die einer Frau. »Lumos.«
Die Spitze eines Zauberstabs flammte auf und tauchte den Flur in
magisches Licht. Harry blinzelte. Die Leute unten standen dicht
beieinander am Fuß der Treppe und spähten gebannt zu ihm hoch,
manche reckten den Kopf, um ihn besser zu sehen.
Remus Lupin stand ihm am nächsten. Er sah immer noch recht
jung aus, wirkte aber müde und angeschlagen; seit Harry sich das
letzte Mal von ihm verabschiedet hatte, hatte er noch mehr graue
Haare bekommen, sein Umhang hatte einige zusätzliche Flicken und
war schäbiger denn je. Dennoch lächelte er Harry breit an, und Harry
versuchte, so erschrocken er auch war, das Lächeln zu erwidern.
»Oooh, er sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hab«,
sagte die Hexe, die den leuchtenden Zauberstab emporhielt. Sie schien
die Jüngste dort unten zu sein und hatte ein blasses, herzförmiges
Gesicht, dunkle, funkelnde Augen und kurzes Stachelhaar in wildem
Violett. »Schön, dich zu sehen, Harry!«
»Ja, jetzt versteh ich, was du meinst, Remus«, sagte ein
kahlköpfiger schwarzer Zauberer, der ganz hinten stand – er hatte eine
tiefe, bedächtige Stimme und trug einen goldenen Ring im Ohr – »er
sieht genau wie James aus.«
»Nur die Augen nicht«, sagte ein silberhaariger Zauberer mit
pfeifender Stimme. »Lilys Augen.«
Mad-Eye Moody hatte langes grau meliertes Haar und an seiner
Nase fehlte ein großes Stück; mit seinen ungleichen Augen schielte er
Harry argwöhnisch an. Das eine Auge war klein, dunkel und
perlschimmernd, das andere groß, rund und strahlend blau – es war
das magische Auge, das durch Wände, Türen und in Moodys eigenen
Kopf hineinsehen konnte.
»Bist du ganz sicher, dass er's ist, Lupin?«, knurrte er. »War doch
'ne schöne Bescherung, wenn wir 'nen Todesser mitbringen würden,
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der seine Gestalt angenommen hat. Wir sollten ihn was fragen, das nur
der echte Potter wissen kann. Oder hat jemand zufällig Veritaserum
dabei?«
»Harry, welche Gestalt nimmt dein Patronus an?«, fragte Lupin.
»Die von einem Hirsch«, sagte Harry nervös.
»Er ist es, Mad-Eye«, sagte Lupin.
Während er deutlich spürte, dass er immer noch von allen
angestarrt wurde, stieg Harry die Treppe hinunter und schob
unterwegs den Zauberstab in die hintere Tasche seiner Jeans.
»Steck den Zauberstab nicht da rein, Junge«, donnerte Moody.
»Was, wenn er losgeht? Gab schon bessere Zauberer als dich, die 'ne
Pobacke verloren haben, sag ich dir!«
»Wen kennst du, der 'ne Pobacke verloren hat?«, fragte die Frau
mit den violetten Haaren neugierig.
»Tut jetzt nichts zur Sache, der Zauberstab gehört jedenfalls nicht
in die Hosentasche!«, knurrte Mad-Eye. »Die einfachsten
Sicherheitsregeln, und keinen kümmert's heutzutage mehr.« Er
stampfte zur Küche hinüber. »Und das hab ich auch gesehen«, setzte
er säuerlich hinzu, als die Frau die Augen verdrehte.
Lupin trat vor und schüttelte Harry die Hand.
»Wie geht's dir?«, fragte er und musterte ihn aufmerksam.
»G-gut …«
Harry konnte kaum glauben, dass dies wirklich geschah. Vier
Wochen lang nichts, nicht die kleinste Andeutung eines Plans, ihn aus
dem Ligusterweg zu holen, und plötzlich stand da eine ganze Horde
Zauberer völlig gelassen bei ihm im Haus, als wäre das alles schon
lange so verabredet gewesen. Er musterte die Leute um Lupin
flüchtig; sie starrten ihn immer noch begierig an. Ihm wurde peinlich
bewusst, dass er seit vier Tagen seine Haare nicht mehr gekämmt
hatte.
»Ich – ihr habt wirklich Glück, dass die Dursleys nicht da sind …«,
murmelte er.
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»Glück, ha!«, sagte die Frau mit den violetten Haaren.
»Weggelockt hab ich sie. Hab ihnen per Muggelpost einen Brief
geschickt, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass sie in der Endauswahl
im Wettbewerb um den bestgepflegten Kleinstadtrasen Englands sind.
Sie sind gerade auf dem Weg zur Preisverleihung … oder glauben das
wenigstens.«
Harry sah undeutlich Onkel Vernons Gesicht vor sich, in dem
Moment, da diesem klar wurde, dass es keinen Wettbewerb um den
bestgepflegten Kleinstadtrasen Englands gab.
»Wir gehen weg von hier, ja?«, fragte er. »Bald?«
»Jeden Moment«, sagte Lupin, »wir warten nur noch auf das
Okay.«
»Wo gehen wir hin? Zum Fuchsbau?«, fragte Harry hoffnungsvoll.
»Nein, nicht zum Fuchsbau«, sagte Lupin und wies Harry in
Richtung Küche; die kleine Schar Zauberer, die Harry noch immer
neugierig beäugte, folgte ihnen. »Zu riskant. Wir haben das
Hauptquartier an einem unaufspürbaren Ort aufgeschlagen. Das hat
uns einige Zeit gekostet …«
Mad-Eye Moody hockte inzwischen am Küchentisch und trank mit
kräftigen Schlucken aus einem Flachmann, rollte sein Auge in alle
Richtungen und begutachtete die vielen arbeitssparenden
Gerätschaften der Dursleys.
»Das ist Alastor Moody, Harry«, sagte Lupin und wies auf Moody.
»Ja, weiß ich«, sagte Harry unangenehm berührt. Es mutete ihn
seltsam an, jemandem vorgestellt zu werden, den er ein Jahr lang zu
kennen geglaubt hatte.
»Und das ist Nymphadora …«
»Nenn mich nicht Nymphadora, Remus«, sagte die junge Hexe
schaudernd, »nur Tonks.«
»Nymphadora Tonks, die lieber nur bei ihrem Nachnamen genannt
sein will«, schloss Lupin.
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»Das war dir auch lieber, wenn deine Närrin von Mutter dich
Nymphadora getauft hätte«, murmelte Tonks.
»Und das ist Kingsley Shacklebolt.« Er deutete auf den großen
schwarzen Zauberer, der sich verbeugte. »Elphias Doge.« Der
Zauberer mit der pfeifenden Stimme nickte. »Dädalus Diggel …«
»Wir kennen uns schon«, quiekte der quirlige Diggel und der
violette Zylinder fiel ihm vom Kopf.
»Emmeline Vance.« Eine stämmig wirkende Hexe mit
smaragdgrünem Schal verneigte sich. »Sturgis Podmore.« Ein
Zauberer mit kantigem Unterkiefer und dichtem strohblondem Haar
zwinkerte. »Und Hestia Jones.« Eine schwarzhaarige Hexe mit rosa
Wangen, die neben dem Toaster stand, winkte herüber.
Harry nickte allen, wie sie der Reihe nach vorgestellt wurden,
verlegen zu. Er wünschte, sie würden jemand anderen ansehen – ihm
war zumute, als wäre er plötzlich auf eine Bühne geschoben worden.
Außerdem fragte er sich, warum so viele von ihnen hier waren.
»Es haben sich überraschend viele freiwillig gemeldet, um dich
abzuholen«, sagte Lupin, als hätte er Harrys Gedanken gelesen; seine
Mundwinkel zuckten leicht.
»Tja, je mehr, desto besser«, sagte Moody finster. »Wir sind deine
Leibgarde, Potter.«
»Wir warten nur noch auf das Signal, dass es sicher ist,
aufzubrechen«, sagte Lupin und warf einen Blick aus dem
Küchenfenster. »Wir haben noch etwa fünfzehn Minuten.«
»Sehr reinlich, nicht wahr, diese Muggel?«, sagte die Hexe namens
Tonks, die sich mit großem Interesse in der Küche umsah. »Mein Dad
ist ein Muggelstämmiger und er ist 'ne richtige alte Pottsau. Ist wohl
ganz unterschiedlich, genau wie bei Zauberern?«
»Ähm – ja«, sagte Harry. »Hören Sie …«, er wandte sich wieder
an Lupin, »was ist eigentlich los, mir hat keiner was gesagt, was
macht Vol…?«
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Ein paar Hexen und Zauberer stießen merkwürdige Zischgeräusche
aus; Dädalus Diggel fiel wieder der Zylinder herunter und Moody
knurrte: »Sei still!«
»Was?«, sagte Harry.
»Hier wird nichts beredet, das ist zu riskant«, sagte Moody und
drehte sein normales Auge Harry zu. Sein magisches Auge war auf die
Decke gerichtet. »Verfluchtes Ding«, fügte er zornig hinzu und fuhr
mit der Hand an das Auge, »bleibt dauernd stecken – seit dieser
Schweinehund es getragen hat.«
Und mit einem widerlichen Glucksgeräusch, ganz ähnlich dem
eines Stöpsels, der aus dem Waschbecken gezogen wird, quetschte er
sein Auge heraus.
»Mad-Eye, du weißt, dass das eklig ist, ja?«, sagte Tonks
nachsichtig.
»Hol mir doch mal ein Glas Wasser, Harry«, verlangte Moody.
Harry ging hinüber zum Geschirrspüler, nahm ein sauberes Glas
heraus und füllte es am Küchenbecken mit Wasser, immer noch
neugierig beobachtet von der Zaubererschar. Ihr dauerndes Starren
ging ihm allmählich auf die Nerven.
»Danke«, sagte Moody, als Harry ihm das Glas reichte. Er ließ den
magischen Augapfel ins Wasser fallen und stupste ihn auf und ab; das
Auge wirbelte umher und starrte sie alle der Reihe nach an. »Auf der
Rückreise will ich dreihundertsechzig Grad Sicht haben.«
»Wie kommen wir hin – wohin auch immer?«, fragte Harry.
»Besen«, sagte Lupin. »Geht nicht anders. Du bist zu jung zum
Apparieren, die werden das Flohnetzwerk überwachen, und wir wären
lebensmüde, wenn wir einen nicht genehmigten Portschlüssel
aufbauen würden.«
»Remus meint, du kannst gut fliegen«, sagte Kingsley Shacklebolt
mit seiner tiefen Stimme.
»Blendend«, warf Lupin ein und sah auf die Uhr. »Jedenfalls gehst
du jetzt besser und packst deine Sachen, Harry, wir wollen startbereit
sein, wenn das Signal kommt.«
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»Ich komm mit und helf dir«, sagte Tonks und strahlte.
Sie folgte Harry hinaus auf den Flur und die Treppe hoch und sah
sich neugierig und interessiert um.
»Komisches Haus«, sagte sie. »Ein bisschen zu sauber, wenn du
mich fragst. Bisschen unnatürlich. Oh, das ist besser«, fügte sie hinzu,
als sie Harrys Zimmer betraten und er das Licht anmachte.
Sein Zimmer war tatsächlich viel unordentlicher als das übrige
Haus. Vier Tage war er schlecht gelaunt eingesperrt gewesen und
hatte sich nicht die Mühe gemacht aufzuräumen. Die meisten Bücher,
die er besaß, lagen auf dem Boden verstreut, überall dort, wo er
versucht hatte, sich mit einem nach dem anderen abzulenken, und sie
dann beiseite geworfen hatte; Hedwigs Käfig fing an zu muffeln und
musste geputzt werden; sein Koffer lag offen da und um ihn herum ein
Sammelsurium von Muggelklamotten und Zaubererumhängen, die er
auf den Boden geschmissen hatte.
Harry fing an, seine Bücher aufzulesen und sie hastig in den Koffer
zu werfen. Tonks hielt am offenen Schrank inne und betrachtete sich
kritisch im Spiegel an der Innenseite der Tür.
»Ehrlich gesagt, ich glaub nicht, dass Violett wirklich zu mir
passt«, sagte sie nachdenklich und zupfte an einem Büschel
Stachelhaar. »Findest du nicht, ich seh damit 'n bisschen ungesund
aus?«
»Ähm …«, sagte Harry und blickte über den Rand von Quidditch-
Mannschaften Britanniens und Irlands zu ihr hoch.
»Ja, eindeutig«, sagte Tonks bestimmt. Sie kniff die Augen mit
angestrengter Miene zusammen, als versuchte sie sich mühsam an
etwas zu erinnern. Eine Sekunde später war ihr Haar bonbonrosa.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Harry und starrte sie mit
offenem Mund an, während sie die Augen wieder öffnete.
»Ich bin ein Metamorphmagus«, sagte sie, warf einen Blick zurück
auf ihr Spiegelbild und drehte den Kopf so, dass sie ihr Haar von allen
Seiten sehen konnte. »Das heißt, ich kann meine Erscheinung allein
mit meinem Willen verändern«, fügte sie hinzu, als sie Harrys
verdutzte Miene im Spiegel hinter sich bemerkte. »Bin schon so
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geboren. Bei der Aurorenschulung habe ich Spitzennoten in Tarnung
und Maskierung gekriegt, ohne dass ich überhaupt dafür gelernt hab,
das war toll.«
»Sie sind ein Auror?«, fragte Harry beeindruckt. Ein Jäger
schwarzer Magier zu werden war bisher das Einzige, was er sich für
die Zeit nach Hogwarts vorgestellt hatte.
»Jaah«, sagte Tonks stolz. »Kingsley auch, er ist allerdings ein
wenig ranghöher als ich. Ich hab erst vor einem Jahr den Abschluss
gemacht. Bin in Verheimlichen und Aufspüren fast durchgerasselt. Ich
bin so was von schusselig. Hast du gehört, wie ich den Teller
runtergeschmissen hab, als wir unten ankamen?«
»Metamorphmagus – kann man das lernen?«, fragte Harry und
richtete sic h auf, das Kofferpacken hatte er schon völlig vergessen.
Tonks gluckste.
»Wette, du würdest diese Narbe gelegentlich gern mal verstecken,
was?«
Ihr Blick fiel auf die blitzförmige Narbe auf Harrys Stirn.
»Nein, das würde ich nicht«, murmelte Harry und wandte sich ab.
Er mochte es nicht, wenn die Leute seine Narbe anstarrten.
»Naja, du wirst es auf die harte Tour lernen müssen, fürchte ich«,
sagte Tonks. »Metamorphmagi sind ziemlich selten, sie werden als
solche geboren und nicht dazu ausgebildet. Die meisten von uns
brauchen ihren Zauberstab oder Zaubertränke, um ihre Erscheinung zu
ändern. Aber wir müssen uns beeilen, Harry, wir sollten eigentlich
packen«, fügte sie mit schuldbewusster Miene hinzu und ließ den
Blick über das Sammelsurium am Boden schweifen.
»Oh – ja«, sagte Harry und griff hastig nach ein paar Büchern.
»Blödsinn, es geht viel schneller, wenn ich – packe!«, rief Tonks
und schwenkte ihren Zauberstab mit einer ausladenden, schwebenden
Bewegung über den Boden.
Bücher, Kleider, Teleskop und Waage schossen in die Luft und
flogen in den Koffer, durcheinander wie Kraut und Rüben.
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»Das ist nicht besonders ordentlich«, sagte Tonks, ging hinüber
und blickte hinab auf das Durcheinander im Koffer. »Meine Mutter
hat den Dreh raus, wie sich die Klamotten tipptopp von alleine ordnen
– die bringt sogar die Socken dazu, sich selbst zu falten – aber ich hab
nie rausgekriegt, wie sie's schafft – muss irgendwie locker aus dem
Handgelenk kommen …« Hoffnungsvoll schnippte sie mit ihrem
Zauberstab.
Einer von Harrys Socken schwänzelte schwächlich und flappte
dann wieder auf den kunterbunten Haufen im Koffer zurück.
»Na gut«, sagte Tonks und schlug den Kofferdeckel zu,
»wenigstens ist alles drin. Der da könnte auch ein wenig Reinemachen
vertragen.« Sie richtete den Zauberstab auf Hedwigs Käfig.
»Ratzeputz.« Ein paar Federn und ein wenig Mist verschwanden. »Na,
immerhin ein bisschen besser – ich hab mich mit diesen
Haushaltszaubern nie richtig anfreunden können. Schön – hast du
alles? Kessel? Besen? Aber hallo – ein Feuerblitz?«
Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick auf den Besen in Harrys
rechter Hand fiel. Er war sein ganzer Stolz, ein Geschenk von Sirius,
ein Besen von internationalem Standard.
»Und ich flieg immer noch einen Komet Zwei-Sechzig«, sagte
Tonks neidisch. »Naja … Zauberstab noch in der Jeans? Beide
Pobacken noch dran? Okay, gehen wir. Locomotor Koffer.«
Harrys Koffer hob sich einige Zentimeter in die Luft. Tonks trug
Hedwigs Käfig in der Linken, in der Rechten hielt sie den Zauberstab
wie einen Taktstock und ließ den Koffer voraus durch das Zimmer
und zur Tür hinaus schweben. Harry trug seinen Besen und folgte ihr
die Treppe hinunter.
In der Küche hatte Moody inzwischen sein Auge wieder eingesetzt,
und nach der Reinigung rotierte es so schnell, dass Harry vom
Zusehen schlecht wurde. Kingsley Shacklebolt und Sturgis Podmore
untersuchten die Mikrowelle, und Hestia Jones lachte über einen
Kartoffelschäler, auf den sie beim Stöbern in den Schubladen
gestoßen war. Lupin versiegelte einen an die Dursleys adressierten
Brief.
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»Bestens«, sagte Lupin und blickte auf, als Tonks und Harry
eintraten. »Wir haben noch ungefähr eine Minute, denke ich.
Vielleicht sollten wir raus in den Garten, damit wir bereit sind. Harry,
ich lass einen Brief an Tante und Onkel hier, damit sie sich keine
Sorgen …«
»Tun die sowieso nicht«, sagte Harry.
»… dass du in Sicherheit bist …«
»Das deprimiert sie nur.«
»… und dass du sie nächsten Sommer wieder besuchst.«
»Muss das sein?«
Lupin lächelte, antwortete aber nicht.
»Komm her, Junge«, sagte Moody ruppig und winkte Harry mit
dem Zauberstab zu sich. »Ich muss dich desillusionieren.«
»Sie müssen was?«, sagte Harry nervös.
»Desillusionierungszauber«, sagte Moody und hob den Zauberstab.
»Lupin meint, du hast einen Tarnumhang, aber der flattert weg,
während wir fliegen; das hier verbirgt dich besser. Los geht's …«
Er klopfte ihm hart auf den Kopf, und Harry hatte das komische
Gefühl, als hätte Moody gerade ein Ei darauf aufgeschlagen; von dort,
wo der Zauberstab ihn getroffen hatte, schienen kalte Tropfen seinen
Körper hinunterzurinnen.
»Der kam gut, Mad-Eye«, sagte Tonks anerkennend und starrte auf
Harrys Brustkorb.
Harry blickte an seinem Körper hinab, oder vielmehr an seinem
ehemaligen Körper, denn er sah nicht mehr aus wie der seine. Er war
nicht unsichtbar; er hatte schlicht und einfach die gleiche Farbe und
Maserung wie der Küchenschrank hinter ihm angenommen. Er schien
ein menschliches Chamäleon geworden zu sein.
»Komm«, sagte Moody und entriegelte die Hintertür mit seinem
Zauberstab.
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Sie traten alle nach draußen auf Onkel Vernons wunderschön
gepflegten Rasen.
»Klare Nacht«, brummte Moody und suchte den Himmel mit
seinem magischen Auge ab. »Ein paar mehr Wolken als Deckung
wär'n nicht schlecht gewesen. Jetzt hör mal«, blaffte er Harry an, »wir
fliegen in enger Formation. Tonks fliegt direkt vor dir, bleib dicht an
ihrem Schweif. Lupin deckt dich von unten. Ich bin hinter dir. Die
andern umkreisen uns. Wir bleiben um jeden Preis zusammen,
verstanden? Wenn einer von uns getötet wird …«
»Kann das passieren?«, fragte Harry besorgt, doch Moody
überhörte ihn.
»… fliegen die andern weiter, stoppen nicht, bleiben in Formation.
Wenn sie uns alle ausknipsen und du überlebst, Harry, steht die
Nachhut bereit und übernimmt; flieg weiter Richtung Osten, dort
werden sie dich in Empfang nehmen.«
»Nur nicht so gut gelaunt, Mad-Eye, er wird noch denken, wir
nehmen das nicht ernst«, sagte Tonks, während sie Harrys Koffer und
Hedwigs Käfig in einem Geschirr festzurrte, das an ihrem Besen hing.
»Ich erklär dem Jungen nur den Plan«, grollte Moody. »Unser Job
ist es, ihn sicher im Hauptquartier abzuliefern, und wenn wir bei dem
Unternehmen sterben …«
»Niemand wird sterben«, sagte Kingsley Shacklebolt mit seiner
tiefen, beruhigenden Stimme.
»Rauf auf die Besen, das ist das erste Signal!«, sagte Lupin scharf
und deutete auf den Himmel.
Hoch, hoch über ihnen war ein roter Funkenschauer zwischen den
Sternen aufgeflackert. Harry erkannte sofort, dass es
Zauberstabfunken waren. Er schwang das rechte Bein über den
Feuerblitz, packte ihn entschlossen am Stiel und spürte ihn ganz leicht
vibrieren, als wäre er ebenso wild darauf wie Harry, wieder in der Luft
zu sein.
»Zweites Signal, los geht's!«, sagte Lupin laut, als erneut hoch über
ihnen Funken explodierten, diesmal waren es grüne.
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Harry stieß sich kräftig vom Boden ab. Die kühle Nachtluft
rauschte ihm durchs Haar, die ordentlichen quadratischen Gärten des
Ligusterwegs sanken in die Tiefe und schrumpften rasch zu einem
Flickenteppich aus dunklen Grün- und Schwarztönen, und jeder
Gedanke an die Anhörung im Ministerium war weggewischt, als ob
der Fahrtwind ihn aus seinem Kopf geblasen hätte. Ihm war, als würde
sein Herz vor Freude explodieren; er flog wieder, flog weg vom
Ligusterweg, wie er es sich den ganzen Sommer über erträumt hatte,
er war auf dem Weg nach Hause … für ein paar glückselige Momente
schienen all seine Probleme nichtig geworden, bedeutungslos in
diesem weiten, sternübersäten Himmel.
»Scharf links, scharf links, da schaut ein Muggel hoch!«, rief
Moody hinter ihm. Tonks riss den Besen herum, und Harry folgte ihr,
seinen Koffer im Blick, der unter ihrem Besen heftig hin und her
schaukelte. »Wir müssen höher … noch 'ne Viertelmeile!«
Harrys Augen wurden feucht vor Kälte, als sie nach oben
schnellten; in der Tiefe konnte er nun nichts mehr erkennen außer den
winzigen Stecknadellichtern der Autoscheinwerfer und
Straßenlaternen. Zwei dieser winzigen Lichter gehörten vielleicht zu
Onkel Vernons Wagen … die Dursleys waren jetzt wohl auf der
Rückfahrt zu ihrem leeren Haus, wütend wegen des angeblichen
Rasenwettbewerbs … und Harry lachte laut bei diesem Gedanken,
auch wenn seine Stimme erstickt wurde vom Flattern der Umhänge,
vom Knarren der Gurte, die seinen Koffer und den Käfig hielten, und
vom Pfeifen des Windes in seinen Ohren, während sie durch die Luft
schossen. Seit einem Monat hatte er sich nicht mehr so lebendig
gefühlt und auch nicht so glücklich.
»Südlich halten!«, rief Mad-Eye. »Stadt voraus!«
Sie schwenkten nach rechts, um nicht direkt über das glitzernde
Spinnennetz aus Lichtern in der Tiefe zu fliegen.
»Nach Südosten und höher steigen, da ist eine niedrige Wolke
voraus, in der wir verschwinden können!«, rief Moody.
»Wir fliegen nicht durch Wolken!«, rief Tonks erbost. »Da werden
wir pitschnass, Mad-Eye!«
- 67 -
Harry war erleichtert, das zu hören; seine Hände am Stiel des
Feuerblitzes wurden allmählich taub. Hätte er nur daran gedacht, einen
Mantel anzuziehen; er fing an zu zittern.
Immer wieder änderten sie nach Mad-Eyes Anweisungen ihren
Kurs. Harry kniff im eisigen Windzug, der ihm allmählich auch in den
Ohren schmerzte, die Augen zu. Nur einmal, erinnerte er sich, war
ihm auf dem Besen so kalt gewesen, während des Quidditch-Spiels
gegen Hufflepuff in seinem dritten Jahr, als es gestürmt hatte. Seine
Bewacher um ihn her kreisten unablässig wie riesige Raubvögel.
Harry verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Er fragte sich, wie lange
sie geflogen waren, es musste mindestens eine Stunde gewesen sein.
»Nach Südwest drehen!«, rief Moody. »Wir wollen die Autobahn
umgehen!«
Harry war jetzt so durchgefroren, dass er sehnsüchtig an die
behaglichen, trockenen Innenräume der Autos dachte, die unten
dahinströmten, und dann, noch sehnsüchtiger, an das Reisen mit
Flohpulver; es war vielleicht unbequem, in Kaminen umherzuwirbeln,
aber in den Flammen war es wenigstens warm … Kingsley
Shacklebolt schwirrte um ihn herum, sein kahler Schädel und der
Ohrring schimmerten schwach im Mondlicht … jetzt war Emmeline
Vance zu seiner Rechten, sie hielt den Zauberstab erhoben und wandte
den Kopf nach rechts und links … dann flog auch sie über ihn hinweg
und Sturgis Podmore nahm ihre Position ein.
»Wir sollten ein Stück zurückfliegen, nur um sicherzugehen, dass
wir nicht verfolgt werden!«, rief Moody.
»BIST DU VERRÜCKT, MAD-EYE?«, schrie Tonks von der
Spitze her. »Wir sind allesamt an den Besen festgefroren! Wenn wir
andauernd vom Kurs abweichen, brauchen wir noch 'ne Woche!
Außerdem sind wir jetzt fast da!«
»Zeit zum Landeanflug!«, ertönte Lupins Stimme. »Halt dich an
Tonks, Harry!«
Harry folgte Tonks in die Tiefe. Sie flogen auf die größte
Ansammlung von Lichtern zu, die er je gesehen hatte, eine riesige,
unter ihm ausgebreitete, kreuz und quer verlaufende Masse aus
glitzernden Gittern und Linien, gesprenkelt mit Flecken aus tiefstem
- 68 -
Schwarz. Tiefer und tiefer sanken sie, bis Harry einzelne Scheinwerfer
und Straßenlaternen, Kamine und Fernsehantennen sehen konnte. Es
verlangte ihn heftig, wieder auf dem Boden zu sein, doch war er sich
sicher, dass jemand ihn vom Besen loseisen musste.
»Na endlich!«, rief Tonks und ein paar Sekunden später war sie
gelandet.
Harry setzte gleich hinter ihr auf einem ungepflegten Flecken Gras
in der Mitte eines kleinen Platzes auf. Tonks schnallte bereits seinen
Koffer los. Zitternd blickte Harry sich um. Die schmutzigen Fassaden
der Häuser rundum wirkten nicht gerade einladend; manche hatten
zerbrochene Fensterscheiben, die im Licht der Straßenlaternen stumpf
schimmerten, von vielen Türen blätterte die Farbe und neben etlichen
Vortreppen lagen Abfallhaufen.
»Wo sind wir?«, fragte Harry, doch Lupin sagte leise: »Moment
noch.«
Moody stöberte in seinem Mantel, seine knorrigen Hände waren
klamm vor Kälte.
»Hab es«, murmelte er, hob etwas empor, das aussah wie ein
silbernes Feuerzeug, und ließ es klicken.
Mit einem Plopp ging die nächstgelegene Straßenlaterne aus.
Wieder klickte er mit dem Entleuchter; eine weitere Laterne erlosch;
er klickte weiter, bis alle Lampen am Platz gelöscht waren und das
einzig verbliebene Licht aus Fenstern mit zugezogenen Vorhängen
und von der Mondsichel am Himmel stammte.
»Hab ich mir von Dumbledore geborgt«, knurrte Moody und
steckte den Ausschalter ein. »Damit wir keine Probleme mit Muggeln
haben, die vielleicht aus dem Fenster gucken, kapiert? Jetzt kommt,
rasch.«
Er nahm Harry am Arm und führte ihn von dem Grasfleck weg,
über die Straße und auf den Gehweg; Lupin und Tonks, die zwischen
sich Harrys Koffer trugen, folgten ihnen, und der Rest der Leibgarde
flankierte sie, die Zauberstäbe im Anschlag.
Das dumpfe Wummern einer Musikanlage drang aus dem oberen
Fenster des nächsten Hauses. Beißender Gestank nach faulendem
- 69 -
Abfall stieg aus den überquellenden Mülleimern gleich hinter dem
kaputten Tor.
»Hier«, murmelte Moody, hielt Harrys desillusionierter Hand ein
Pergamentblatt entgegen und beleuchtete die Schrift mit der
entflammten Spitze seines Zauberstabs. »Rasch lesen und einprägen.«
Harry blickte auf das Blatt. Die enge Handschrift kam ihm vage
bekannt vor. Die Worte lauteten:
Das Hauptquartier des Phönixordens befindet sich am
Grimmauldplatz Nummer zwölf, London.
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Grimmauldplatz Nummer zwölf
»Was ist der Phönixor …?«, fing Harry an.
»Nicht hier, Junge!«, knurrte Moody. »Warte, bis wir drin sind!«
Er riss Harry das Pergament aus der Hand und setzte es mit der
Spitze seines Zauberstabs in Brand. Während es in Flammen aufging,
kringelte es sich ein und schwebte zu Boden. Harry drehte sich wieder
zur Häuserfront um. Sie standen vor Nummer elf; er blickte nach links
und sah Nummer zehn; zur Rechten allerdings war Nummer dreizehn.
»Aber wo ist …?«
»Denk an das, was du dir gerade eingeprägt hast«, sagte Lupin
leise.
Harry ließ sich Wort für Wort durch den Kopf gehen, und kaum
war er zu Grimmauldplatz Nummer zwölf gelangt, erschien aus dem
Nichts zwischen Nummer elf und Nummer dreizehn eine ramponierte
Tür, rasch gefolgt von dreckigen Mauern und schmierigen Fenstern.
Es war, als hätte sich ein zusätzliches Haus aufgeblasen und die
beiden Häuser an seinen Seiten weggeschoben. Harry starrte es mit
offenem Mund an. Die Musik in Nummer elf wummerte weiter.
Offenbar hatten die Muggel dort drin überhaupt nichts mitbekommen.
»Los, beeil dich«, knurrte Moody und stupste Harry in den
Rücken.
Harry stieg die abgenutzten Steinstufen hinauf und starrte auf die
Tür, die eben Gestalt angenommen hatte. Ihr schwarzer Anstrich war
verblichen und zerkratzt. Der silberne Türklopfer hatte die Form einer
gewundenen Schlange. Ein Schlüsselloch oder einen Briefkasten gab
es nicht.
Lupin zückte seinen Zauberstab und pochte einmal gegen die Tür.
Harry hörte viele laute, metallische Klickgeräusche und etwas, das
wie das Rasseln einer Kette klang. Knarrend öffnete sich die Tür.
»Schnell da rein, Harry«, flüsterte Lupin, »aber geh drinnen nicht
weit und rühr nichts an.«
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Harry trat über die Schwelle in die fast vollkommene Dunkelheit
der Eingangshalle. Er konnte Feuchtigkeit, Staub und einen süßlichen
Modergeruch wahrnehmen; ihm war, als befände er sich in einem
zerfallenen Gebäude. Harry blickte über die Schulter und sah seine
Begleiter nacheinander hereinkommen, Lupin und Tonks trugen
seinen Koffer und Hedwigs Käfig. Moody stand oben auf der
Vortreppe und ließ die Lichtbälle frei, die der Ausschalter den
Straßenlaternen gestohlen hatte; sie flogen zu ihren Glühbirnen zurück
und schon lag wieder das orange Schimmern über dem Platz. Moody
humpelte herein, schloss die Tür und die Dunkelheit in der Halle war
nun vollkommen.
»Hier …«
Er klopfte Harry mit dem Zauberstab fest auf den Kopf; diesmal
hatte Harry das Gefühl, als würde etwas Heißes seinen Rücken
hinabtröpfeln, und er wusste, dass der Desillusionierungszauber nun
aufgehoben war.
»Niemand rührt sich, bis ich uns ein wenig Licht hier drin
verschafft hab«, flüsterte Moody.
Die verhaltenen Stimmen der anderen gaben Harry ein seltsames
Gefühl dunkler Vorahnung; es war, als hätten sie eben das Haus eines
Sterbenden betreten. Er hörte ein leises Zischen, dann entflammten
altmodische Gaslaternen unter spotzenden Geräuschen entlang den
Wänden. Sie warfen ein flackerndes, spärliches Licht über die sich
abschälenden Tapeten und den verschlissenen Teppich einer langen,
düsteren Eingangshalle, an deren Decke ein von Spinnweben
überzogener Kronleuchter glomm und an deren Wänden schiefe,
altersgeschwärzte Porträts hingen. Harry hörte hinter der Fußleiste
etwas davonrascheln. Der Kronleuchter und auch der Kandelaber auf
einem wackligen Tisch in der Nähe hatten die Gestalt von Schlangen.
Hastige Schritte waren zu hören, und Rons Mutter, Mrs. Weasley,
erschien in einer Tür am anderen Ende der Halle. Sie eilte auf sie zu
und hieß sie strahlend willkommen, und doch fiel Harry auf, dass sie
merklich dünner und blasser geworden war, seitdem er sie das letzte
Mal gesehen hatte.
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»Oh, Harry, wie schön dich zu sehen!«, flüsterte sie und zog ihn in
eine Umarmung, die ihm fast die Rippen brach, bevor sie ihn auf
Armeslänge von sich hielt und ihn kritisch musterte. »Du siehst
schmal aus; wir müssen dich ein wenig aufpäppeln, aber ich fürchte,
du musst ein bisschen warten, bis es Abendessen gibt.«
An die Zaubererschar hinter ihm gewandt, flüsterte sie
eindringlich: »Er ist gerade angekommen, die Versammlung hat
begonnen.«
Die Zauberer in Harrys Rücken tuschelten neugierig und aufgeregt
und eilten einer nach dem anderen an ihm vorbei auf die Tür zu, durch
die Mrs. Weasley eben gekommen war. Harry wollte gerade Lupin
folgen, als Mrs. Weasley ihn zurückhielt.
»Nein, Harry, die Versammlung ist nur für Mitglieder des Ordens.
Ron und Hermine sind oben, du kannst mit ihnen gemeinsam warten,
bis die Versammlung zu Ende ist, dann gibt es Abendessen. Und sei
leise, wenn du in der Halle bist«, fügte sie eindringlich hinzu.
»Warum?«
»Ich will nicht, dass jemand aufwacht.«
»Was haben Sie …?«
»Erklär ich dir später, ich muss mich beeilen, weil ich auch zur
Versammlung muss – ich zeig dir nur rasch, wo du schläfst.«
Sie legte einen Finger an die Lippen und führte Harry auf
Zehenspitzen an einem Paar langer, mottenzerfressener Vorhänge
vorbei, hinter denen Harry eine weitere Tür vermutete, und nachdem
sie einen großen Schirmständer umrundet hatten, der aussah, als wäre
er aus einem abgetrennten Trollbe in gefertigt, stiegen sie die dunkle
Treppe empor, vorbei an einer Reihe von Schrumpfköpfen, die auf
Tafeln an der Wand befestigt waren. Bei näherem Hinsehen stellte
Harry fest, dass es die Köpfe von Hauselfen waren. Alle hatten die
gleiche, ziemlich schnauzenähnliche Nase.
Mit jeder neuen Stufe wuchs Harrys Verwirrung. Was um alles in
der Welt taten sie in einem Haus, das aussah, als würde es dem
schwärzesten aller Magier gehören?
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»Mrs. Weasley, warum …?«
»Ron und Hermine werden dir alles erklären, mein Lieber, ich
muss mich wirklich sputen«, flüsterte Mrs. Weasley zerstreut. »Hier
…«, sie hatten den zweiten Treppenabsatz erreicht, »… die rechte Tür
ist deine. Ich ruf dich, wenn wir fertig sind.«
Und sie eilte die Treppe wieder hinunter.
Harry überquerte den schäbigen Treppenabsatz, drehte den Knauf
an der Schlafzimmertür, der wie ein Schlangenkopf geformt war, und
öffnete die Tür.
Er erhaschte einen kurzen Blick auf ein hohes, düsteres Zimmer
mit zwei Betten; dann hörte er ein lautes Zwitschern, gefolgt von
einem noch lauteren Schrei, und schließlich raubte ihm eine
Riesenmenge sehr buschiger Haare vollkommen die Sicht. Hermine
hatte sich auf ihn gestürzt und ihn so heftig umarmt, dass es ihn fast
zu Boden geworfen hätte, während Rons kleine Eule, Pigwidgeon,
fortwährend aufgeregt um ihre Köpfe flatterte.
»HARRY! Ron, er ist da, Harry ist da! Wir haben dich nicht
kommen hören! Oh, wie geht es dir? Alles in Ordnung mit dir? Warst
du sauer auf uns? Bestimmt, unsere Briefe waren nutzlos – aber wir
konnten dir nichts erzählen. Dumbledore hat uns schwören lassen,
dass wir schweigen, oh, wir haben dir so viel zu erzählen, und du
musst uns auch einiges erzählen – die Dementoren! Als wir das
erfahren haben – und von dieser Anhörung im Ministerium – das ist
einfach empörend, ich hab alles nachgeschlagen, die können dich
nicht rauswerfen, das können sie einfach nicht, es gibt im Erlass zur
Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger nämlich
eine Ausnahmeregelung für den Fall lebensbedrohlicher Situationen
…«
»Lass ihn doch mal zu Puste kommen, Hermine«, sagte Ron
grinsend und schloss die Tür hinter Harry. Er schien in dem Monat, in
dem sie getrennt gewesen waren, um einige Zentimeter gewachsen zu
sein und wirkte noch größer und schlaksiger, aber die lange Nase, das
leuchtend rote Haar und die Sommersprossen waren unverändert.
Hermine strahlte unentwegt und ließ von Harry ab, doch bevor sie
noch ein weiteres Wort sagen konnte, war ein leises Rauschen zu
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hören, und etwas Weißes schoss von einem dunklen Schrank herab
und landete sanft auf Harrys Schulter.
»Hedwig!«
Die Schneeeule klackerte mit dem Schnabel und knabberte zärtlich
an seinem Ohr, während Harry ihr das Gefieder streichelte.
»Die war vielleicht seltsam drauf«, sagte Ron. »Hat uns bald
totgepickt, als sie deine letzten Briefe gebracht hat, sieh dir das mal an
…«
Er hielt Harry den Zeigefinger seiner rechten Hand hin, der einen
halb verheilten, aber offenbar tiefen Schnitt aufwies.
»Oh«, sagte Harry. »Das tut mir Leid, aber ich wollte Antworten
haben, versteht ihr …«
»Die wollten wir dir auch geben, Mann«, sagte Ron. »Hermine war
fast ausgetickt, dauernd hat sie gesagt, du würdest 'ne Dummheit
machen, wenn du dort ganz allein festsitzt ohne Neuigkeiten, aber
Dumbledore hat uns …«
»… schwören lassen, dass ihr mir nichts erzählt«, ergänzte Harry.
»Ja, das hat Hermine schon gesagt.«
Die warme Glut, die in ihm aufgeflammt war beim Anblick seiner
beiden besten Freunde, verlosch in etwas Eisigem, das ihm durch den
Magen strömte. Mit einem Mal – nachdem er sich einen geschlagenen
Monat lang danach gesehnt hatte, sie zu treffen – hatte er das Gefühl,
es wäre ihm lieber, Ron und Hermine würden ihn allein lassen.
Eine gespannte Stille trat ein, während deren Harry Hedwig
geistesabwesend streichelte und die beiden anderen nicht ansah.
»Er glaubte wohl, das war das Beste«, sagte Hermine ziemlich
atemlos. »Dumbledore, meine ich.«
»Ach so«, sagte Harry. Ihm fiel auf, dass auch ihre Hände Spuren
von Hedwigs Schnabel trugen, und er merkte, dass es ihm überhaupt
nicht Leid tat.
»Ich glaub, er dachte, du wärst bei den Muggeln am sichersten
aufgehoben …«, fing Ron an.
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»Jaah?«, sagte Harry und hob die Augenbrauen. »Ist einer von
euch diesen Sommer vielleicht von Dementoren angegriffen worden?«
»Na ja, nein – aber darum hat er dic h ja ständig durch Leute vom
Orden des Phönix beschatten lassen …«
Harry spürte, wie seine Eingeweide einen mächtigen Satz machten,
als ob er gerade eine Stufe treppab verpasst hätte. Also hatten alle
gewusst, dass er beschattet wurde, nur er nicht.
»Hat aber nicht besonders gut geklappt, oder?«, erwiderte Harry
und hatte äußerste Mühe, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu
geben. »Hab mir dann doch selbst helfen müssen, was?«
»Er war so wütend«, sagte Hermine mit beinah ehrfürchtiger
Stimme. »Dumbledore. Wir haben ihn gesehen. Als er rausfand, dass
Mundungus vor dem Ende seiner Schicht verschwunden war. Er hat
einem Angst eingejagt.«
»Was soll's, ich bin froh, dass er abgehauen ist«, sagte Harry kühl.
»Wenn nicht, hätte ich nicht gezaubert und Dumbledore hätte mich
vermutlich den ganzen Sommer über im Ligusterweg gelassen.«
»Machst du … machst du dir keine Sorgen wegen der Anhörung
im Zaubereiministerium?«, sagte Hermine leise.
»Nein«, log Harry trotzig. Er entfernte sich ein paar Schritte von
ihnen und sah sich um, während sich Hedwig zufrieden an seine
Schulter schmiegte, aber dieses Zimmer konnte ihn schwerlich
aufheitern. Es war feucht und dunkel. Ein leeres Stück Leinwand, in
einen verschnörkelten Rahmen gespannt, war alles, was die Tristesse
der Wände, von denen die Tapeten herabhingen, ein wenig
auflockerte, und als Harry daran vorbeiging, glaubte er jemanden zu
hören, der sich kichernd davonstahl.
»Also, warum will Dumbledore mich eigentlich unbedingt im
Unklaren lassen?«, fragte Harry, immer noch bemüht, betont lässig zu
sprechen. »Habt ihr – ähm – ihn zufällig mal gefragt?«
Er sah gerade noch rechtzeitig auf, um die beiden einen Blick
tauschen zu sehen, der ihm sagte, dass er sich genau so aufführte, wie
sie befürchtet hatten. Das besserte seine Laune keineswegs.
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»Wir haben Dumbledore gesagt, wir wollten dir erzählen, was
abgeht«, sagte Ron. »Ehrlich, Mann. Aber er ist im Moment total
beschäftigt, wir haben ihn nur zweimal gesehen, seit wir hier sind, und
er hat nicht viel Zeit gehabt, er hat uns nur schwören lassen, dir nichts
Wichtiges mitzuteilen, wenn wir dir schreiben, er meinte, die Eulen
würden vielleicht abgefangen.«
»Er hätte mich trotzdem auf dem Laufenden halten können, wenn
er gewollt hätte«, sagte Harry knapp. »Ihr wollt mir doch nicht
weismachen, dass er keine Ahnung hat, wie man Botschaften ohne
Eulen verschickt.«
Hermine warf Ron einen Blick zu und sagte: »Das hab ich mir
auch gedacht. Aber er wollte nicht, dass du irgendwas erfährst.«
»Vielleicht denkt er, ich sei nicht vertrauenswürdig«, meinte Harry
und ließ sie nicht aus den Augen.
»Red keinen Stuss«, sagte Ron. Er wirkte tief beunruhigt.
»Oder dass ich nicht auf mich selbst aufpassen kann.«
»Natürlich denkt er so was nicht!«, entgegnete Hermine besorgt.
»Wie kommt's dann, dass ich bei den Dursleys bleiben muss,
während ihr zwei bei allem mitmachen dürft, was hier passiert?«,
sagte Harry, und mit jedem Wort, das hastig aus seinem Mund
stolperte, wurde seine Stimme lauter. »Wie kommt's, dass ihr beide
alles erfahren dürft, was los ist?«
»Dürfen wir nicht!«, unterbrach ihn Ron. »Mum will uns nicht mal
in die Nähe der Versammlungen lassen, sie sagt, wir wären zu jung
…«
Weiter kam er nicht, denn Harry fing an zu schreien.
»ALSO WART IHR NICHT BEI DEN VERSAMMLUNGEN,
NA UND! ABER IHR WART HIER, STIMMT'S? IHR WART
ZUSAMMEN! UND ICH, ICH STECKE EINEN MONAT LANG
BEI DEN DURSLEYS FEST! UND ICH HAB MEHR
GESCHAFFT, ALS IHR BEIDE JE GESCHAFFT HABT, UND
DUMBLEDORE WEISS DAS – WER HAT DEN STEIN DER
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WEISEN GERETTET? WER HAT RIDDLE ERLEDIGT? WER
HAT EUCH BEIDE VOR DEN DEMENTOREN GERETTET?«
Alle bitteren und trüben Gedanken, die Harry im letzten Monat
durch den Kopf gegangen waren, sprudelten jetzt hervor: seine
Enttäuschung darüber, dass man ihm keine Nachrichten geschickt
hatte, die Verletzung, dass sie alle zusammen gewesen waren ohne
ihn, seine Wut darüber, ohne sein Wissen beschattet worden zu sein –
all die Gefühle, für die er sich halb schämte, brachen endlich aus ihm
heraus. Der Lärm erschreckte Hedwig und sie flatterte wieder nach
oben auf den Schrank; Pigwidgeon zwitscherte aufgebracht und
kreiste noch schneller um ihre Köpfe.
»WER MUSSTE LETZTES JAHR AN DRACHEN UND
SPHINXEN UND ALL DEM ANDERN EKELGETIER VORBEI?
WER HAT IHN ZURÜCKKOMMEN SEHEN? WER MUSSTE
VOR IHM FLIEHEN? ICH!«
Ron stand mit halb offenem Mund da, sichtlich bestürzt und
vollkommen sprachlos, während Hermine den Tränen nahe schien.
»ABER WARUM SOLLTE ICH ERFAHREN, WAS VOR SICH
GEHT? WARUM SOLLTE SICH IRGENDJEMAND DIE MÜHE
MACHEN, MIR ZU SAGEN, WAS LOS IST?«
»Harry, wir wollten es dir sagen, wirklich …«, fing Hermine an.
»SO EILIG HATTET IHR ES WOHL NICHT, ODER IHR
HÄTTET MIR EINE EULE GESCHICKT, ABER DUMBLEDORE
HAT EUCH JA SCHWÖREN LASSEN …«
»Allerdings, hat er …«
»VIER WOCHEN LANG SITZE ICH IM LIGUSTERWEG FEST
UND KLAUBE ZEITUNGEN AUS DEN MÜLLEIMERN, DAMIT
ICH RAUSKRIEG, WAS LOS IST …«
»Wir wollten …«
»HABT EUCH WOHL GLÄNZEND AMÜSIERT, WAS, ALLE
HIER ZUSAMMEN …«
»Nein, ehrlich …«
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»Harry, es tut uns wirklich Leid«, sagte Hermine verzweifelt und
in ihren Augen glitzerten jetzt Tränen. »Du hast vollkommen Recht,
Harry – ich war auch wütend, wenn mir das passiert war!«
Harry funkelte sie an, immer noch heftig atmend, dann wandte er
sich wieder von ihnen ab und schritt im Zimmer umher. Hedwig
schrie beklommen vom Schrank herunter. Eine lange Pause trat ein, in
der einzig das traurige Knarren der Dielen unter Harrys Füßen zu
vernehmen war.
»Was ist das eigentlich für ein Haus?«, blaffte er Ron und Hermine
an.
»Das Hauptquartier des Phönixordens«, sagte Ron sofort.
»Würde mir vielleicht mal jemand erklären, was der Phönixorden
…«
»Das ist eine Geheimgesellschaft«, sagte Hermine eilig.
»Dumbledore leitet sie, er hat sie gegründet. Es sind dieselben Leute,
die das letzte Mal gegen Du-weißt-schon-wen gekämpft haben.«
»Wer gehört dazu?«, fragte Harry und blieb, die Hände in den
Taschen, stehen.
»'ne ganze Menge Leute …«
»Wir haben vielleicht zwanzig von ihnen kennen gelernt«, sagte
Ron, »aber wir glauben, dass es noch mehr sind.«
Harry sah sie wütend an.
»Und?«, fragte er und wandte sich beiden abwechselnd zu.
»Ähm«, sagte Ron. »Und was?«
»Voldemort!«, sagte Harry zornig und Ron und Hermine zuckten
zusammen. »Was ist los? Was hat er vor? Wo ist er? Was tun wir, um
ihn aufzuhalten?«
»Wir haben's dir doch gesagt, der Orden lässt uns nicht zu seinen
Versammlungen«, sagte Hermine nervös. »Also wissen wir nichts
Genaues – aber wir haben eine ungefähre Vorstellung«, ergänzte sie
hastig, als sie Harrys Miene sah.
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»Fred und George haben Langziehohren erfunden, weißt du«, sagte
Ron. »Sind echt nützlich.«
»Langzieh…«
»…ohren, ja. Wir haben sie nur in letzter Zeit nicht mehr benutzen
können, weil Mum es rausgefunden hat und einen Tobsuchtsanfall
kriegte. Fred und George mussten sie verstecken, bevor Mum sie alle
in den Müll werfen konnte. Aber sie waren ganz schön nützlich für
uns, bis Mum merkte, was los war. Wir wissen, dass manche Leute
vom Orden bekannte Todesser verfolgen und sie beobachten …«
»Andere werben noch mehr Leute für den Orden …«, sagte
Hermine.
»Und manche bewachen nur irgendetwas«, sagte Ron. »Sie reden
ständig über Wachdienste.«
»Nicht zufällig bei mir, oder?«, meinte Harry sarkastisch.
»Ja, doch«, sagte Ron und sah aus, als ginge ihm langsam ein Licht
auf.
Harry schnaubte. Er ging wieder im Zimmer auf und ab und
vermied es, Ron und Hermine anzusehen. »Und was habt ihr so
getrieben, wo ihr doch nicht zu den Versammlungen durftet?«, fragte
er. »Ihr habt gesagt, ihr wart beschäftigt.«
»Stimmt auch«, sagte Hermine rasch. »Wir haben dieses Haus
entgiftet, es stand ewig leer und irgendwelches Getier hat hier
gebrütet. Wir haben die Küche und die meisten Schlafzimmer sauber
gekriegt, und ich glaub, morgen nehmen wir uns den Sal… AARGH!«
Mit zwei lauten Knalls hatten Fred und George, Rons ältere
Zwillingsbrüder, aus dem Nichts heraus mitten im Zimmer Gestalt
angenommen. Pigwidgeon zwitscherte noch aufgeregter und flatterte
hoch zu Hedwig auf den Schrank.
»Hört auf damit!«, sagte Hermine mit matter Stimme zu den
Zwillingen, die ebenso leuchtend rotes Haar hatten wie Ron,
allerdings stämmiger und ein wenig kleiner waren.
»Hallo, Harry«, sagte George und strahlte ihn an. »Das können nur
deine wohlklingenden Laute sein, dachten wir uns.«
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»Du brauchst deine Wut nicht zurückzuhalten, Harry, nur raus
damit«, sagte Fred, ebenfalls strahlend. »Vielleicht gibt's in fünfzig
Meilen Umkreis noch ein paar Leute, die dich nicht gehört haben.«
»Ihr beide habt also die Prüfung im Apparieren bestanden?«, fragte
Harry mürrisch.
»Mit Auszeichnung«, sagte Fred, der etwas in der Hand hielt, das
wie eine sehr lange, fleischfarbene Schnur aussah.
»Ihr hättet gerade mal 'ne halbe Minute länger gebraucht, wenn ihr
die Treppe runtergegangen wärt«, sagte Ron.
»Zeit ist Galleonen wert, Brüderchen«, sagte Fred. »Jedenfalls
störst du den Empfang, Harry. Langziehohren«, fügte er mit Blick auf
Harrys gehobene Augenbrauen hinzu und hielt die Schnur hoch, die,
wie Harry jetzt sah, bis hinaus vor die Tür reichte. »Wir versuchen zu
hören, was unten los ist.«
»Seid bloß vorsichtig«, sagte Ron und starrte das Ohr an, »wenn
Mum noch eins von denen sieht …«
»Das ist das Risiko wert, die haben gerade ein wichtiges Treffen«,
sagte Fred.
Die Tür öffnete sich und eine lange rote Haarmähne erschien.
»Oh, hallo, Harry!«, sagte Rons jüngere Schwester Ginny fröhlich.
»Mir war, als hätte ich deine Stimme gehört.«
An Fred und George gewandt, sagte sie: »Die Langziehohren könnt
ihr vergessen, sie hat doch die Küchentür tatsächlich mit einem
Imperturbatio-Zauber belegt.«
»Woher weißt du das?«, fragte George und sah geknickt aus.
»Tonks hat mir gesagt, wie ich's rausfinde«, erwiderte Ginny. »Du
wirfst einfach was gegen die Tür, und wenn es sie nicht berührt, ist die
Tür imperturbiert. Ich hab oben vom Treppenabsatz ans Stinkbomben
dagegen geworfen, und die fliegen einfach von der Tür weg, also
können die Langziehohren unmöglich durch den Türschlitz.«
Fred seufzte schwer.
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»Schande. Ich war wirklich mal gespannt, was der alte Snape so
vorhat.«
»Snape!«, sagte Harry rasch. »Ist er da?«
»Jaah« sagte George, schloss vorsichtig die Tür und setzte sich auf
eines der Betten; Fred und Ginny taten es ihm nach. »Trägt einen
Bericht vor. Top secret.«
»Mistkerl«, sagte Fred lahm.
»Er ist jetzt auf unserer Seite«, sagte Hermine vorwurfsvoll.
Ron schnaubte. »Deshalb ist er trotzdem 'n Mistkerl. Wie der uns
ansieht, wenn wir ihm über den Weg laufen.«
»Bill mag ihn auch nicht«, sagte Ginny, als ob damit das letzte
Wort gesprochen wäre.
Harry war sich nicht sicher, ob seine Wut schon abgeflaut war;
doch sein Durst nach Neuigkeiten war stärker als sein Verlangen,
wieder loszuschreien. Er ließ sich aufs Bett gegenüber sinken.
»Ist Bill hier?«, fragte er. »Ich dachte, er arbeitet in Ägypten?«
»Er hat sich auf einen Schreibtischjob beworben, damit er nach
Hause kommen und für den Orden arbeiten konnte«, sagte Fred. »Er
sagt, er vermisst die Gräber, aber …« er grinste, »… man kann sich ja
mit was anderem trösten.«
»Was soll das heißen?«
»Erinnerst du dich noch an die gute Fleur Delacour?«, sagte
George. »Sie hat jetzt einen Job bei Gringotts, uum i'r englisch su
verbessern …«
»Und Bill gibt ihr 'ne Menge Privatstunden«, kicherte Fred.
»Charlie ist auch im Orden«, sagte George, »aber er ist immer
noch in Rumänien. Dumbledore will, dass möglichst viele
ausländische Zauberer dazugeholt werden, also versucht Charlie an
seinen freien Tagen Kontakte zu knüpfen.«
»Könnte nicht Percy das tun?«, fragte Harry. Das Letzte, was er
gehört hatte, war, dass der drittälteste Weasley-Bruder in der
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Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit im
Zaubereiministerium arbeitete.
Bei Harrys Worten tauschten alle Weasleys und Hermine düster
bedeutungsvolle Blicke.
»Merk dir eins: Erwähne nie Percy, wenn Mum und Dad dabei
sind«, erklärte ihm Ron und seine Stimme klang angespannt.
»Warum nicht?«
»Weil, immer wenn Percys Name fällt, Dad zerbricht, was er
gerade in der Hand hält, und Mum anfängt zu weinen«, sagte Fred.
»Es ist schrecklich«, sagte Ginny traurig.
»Ich glaub, wir haben alle die Nase voll von ihm«, sagte George
mit einem ungewöhnlich hässlichen Gesichtsausdruck.
»Was ist passiert?«, fragte Harry.
»Percy und Dad hatten einen Streit«, antwortete Fred. »Ich hab
Dad noch nie derart mit jemandem streiten sehen. Normalerweise ist
es Mum, die schreit.«
»Es war in der ersten Woche nach Ende des Schuljahrs«, erklärte
Ron. »Wir waren kurz davor, hierher zu kommen und uns dem Orden
anzuschließen. Da kommt Percy heim und erklärt uns, er sei befördert
worden.«
»Soll das ein Witz sein?«, sagte Harry.
Obwohl er sehr wohl wusste, dass Percy höchst ehrgeizig war,
hatte Harry den Eindruck, dass er auf seinem ersten Posten im
Zaubereiministerium nicht sonderlich erfolgreich gewesen war. Percy
war es doch tatsächlich gelungen, nicht zu bemerken, dass sein Chef
von Lord Voldemort beherrscht wurde (was das Ministerium
allerdings auch nicht geglaubt hatte – sie hatten alle gedacht, Mr.
Crouch sei verrückt geworden).
»Ja, wir waren alle überrascht«, sagte George, »weil Percy wegen
Crouch eine Menge Scherereien hatte, es gab eine Untersuchung und
so weiter. Es hieß, Percy hätte erkennen müssen, dass Crouch
durchgeknallt war, und einen Vorgesetzten informieren müssen. Aber
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du kennst Percy, Crouch hatte ihm die Verantwortung übertragen, da
wollte Percy sich nicht beschweren.«
»Aber warum haben sie ihn dann befördert?«
»Genau das haben wir uns auch gefragt«, sagte Ron, offenbar ganz
erpicht darauf, diese normale Unterhaltung am Laufen zu halten, jetzt,
da Harry mit dem Schreien aufgehört hatte. »Er kam nach Hause,
furchtbar stolz auf sich – noch stolzer als sonst, wenn du dir das
überhaupt vorstellen kannst –, und hat Dad erzählt, man hätte ihm eine
Position in Fudges persönlichem Büro angeboten. Kein schlechter
Aufstieg für jemanden, der gerade mal ein Jahr aus Hogwarts raus ist:
Juniorassistent des Ministers. Er dachte wohl, Dad wäre total
beeindruckt.«
»War er aber nicht«, sagte Fred grimmig.
»Warum nicht?«, fragte Harry.
»Offenbar stürmt Fudge andauernd durchs Ministerium und sorgt
dafür, dass niemand den Kontakt zu Dumbledore aufrechterhält«,
erklärte George.
»Der Name Dumbledore ist inzwischen ein Schimpfwort im
Ministerium, musst du wissen«, sagte Fred. »Die glauben alle, er will
nur Ärger machen, indem er behauptet, Du-weißt-schon-wer sei
zurück.«
»Dad meinte, Fudge habe klargestellt, dass jeder, der auf
Dumbledores Seite ist, seinen Schreibtisch räumen kann«, sagte
George.
»Das Problem ist, Fudge verdächtigt Dad; er weiß, dass er mit
Dumbledore befreundet ist, und er hat Dad immer für eine Art Spinner
gehalten, weil er so muggelvernarrt ist.«
»Aber was hat das mit Percy zu tun?«, fragte Harry verwirrt.
»Warte, gleich. Dad vermutet, dass Fudge Percy nur deshalb bei
sich im Büro haben will, damit er ihn dazu benutzen kann, unsere
Familie auszuspionieren – und Dumbledore.«
Harry stieß einen leisen Pfiff aus.
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»Ich wette, Percy war begeistert.«
Ron lachte merkwürdig hohl.
»Er ist vollkommen ausgerastet. Er sagte – na ja, er hat eine Menge
fürchterliches Zeug dahergeredet. Er müsse gegen Dads miserablen
Ruf ankämpfen, seit er im Ministerium sei, und dass Dad keinen
Ehrgeiz hätte, und das sei der Grund, warum wir immer – du weißt
schon – nie viel Geld hatten und so …«
»Wie bitte?«, sagte Harry ungläubig. Ginny machte ein Geräusch
wie eine wütende Katze.
»Ich weiß«, sagte Ron mit leiser Stimme. »Und es kam noch
schlimmer. Er sagte, es sei idiotisch von Dad, sich mit Dumbledore
abzugeben, dass Dumbledore Riesenärger kriegen würde und Dad mit
ihm untergehen würde und dass er – Percy – wisse, wem er die Treue
zu halten habe, und zwar dem Ministerium. Und wenn Mum und Dad
Verräter des Ministeriums werden wollten, würde er dafür sorgen,
dass jeder erfährt, dass er nicht mehr zur Familie gehört. Dann hat er
noch in derselben Nacht seine Sachen gepackt und ist verschwunden.
Er lebt jetzt hier in London.«
Harry fluchte halblaut. Er hatte Percy immer am wenigsten von
allen Brüdern Rons gemocht, aber er hätte sich nie träumen lassen,
dass Percy solche Dinge zu Mr. Weasley sagen würde.
»Mum war völlig durch den Wind«, sagte Ron. »Kannst dir ja
vorstellen – sie hat geheult und so. Sie ist nach London gekommen
und hat versucht mit Percy zu reden, aber der hat ihr die Tür vor der
Nase zugeschlagen. Keine Ahnung, was er tut, wenn er Dad bei der
Arbeit trifft – behandelt ihn vermutlich wie Luft.«
»Aber Percy muss doch wissen, dass Voldemort zurück ist«, sagte
Harry langsam. »Er ist doch nicht dumm, er muss wissen, dass eure
Eltern ohne Beweise nicht alles aufs Spiel setzen würden.«
»Jaah, nun, dann ist dein Name in dem Streit gefallen«, sagte Ron
und warf Harry einen flüchtigen Blick zu. »Percy meinte, der einzige
Beweis sei dein Wort und … jedenfalls … er glaube nicht, dass das
ausreichend sei.«
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»Percy nimmt den Tagespropheten ernst«, sagte Hermine säuerlich
und alle anderen nickten.
»Was heißt das jetzt wieder?«, fragte Harry und sah sie der Reihe
nach an. Alle blickten argwöhnisch zurück.
»Hast du – hast du den Tagespropheten nicht gekriegt?«, fragte
Hermine nervös.
»Doch, hab ich!«, sagte Harry.
»Hast du – ähm – hast du ihn gründlich gelesen?«, fragte Hermine
noch beklommener.
»Nicht jedes Wort«, sagte Harry trotzig. »Wenn sie irgendwas über
Voldemort berichtet hätten, dann hätte das doch Schlagzeilen
gemacht, oder?«
Beim Klang des Namens zuckten die anderen zusammen. Hermine
fuhr hastig fort: »Naja, du musst schon alles lesen, um es
mitzukriegen, sie – ähm – sie erwähnen dich jede Woche ein paar
Mal.«
»Aber das hä tte ich doch gesehen …«
»Nicht, wenn du nur die Schlagzeilen gelesen hast, nein«, sagte
Hermine und schüttelte den Kopf. »Ich rede ja gar nicht von großen
Artikeln. Die lassen deinen Namen nur so nebenbei einfließen, als
Dauergag sozusagen.«
»Was soll …?«
»Es ist im Grunde ziemlich fies«, sagte Hermine mit gezwungen
ruhiger Stimme. »Die schlachten nur Ritas Sachen weiter aus.«
»Aber die arbeitet doch nicht mehr für die, oder?«
»O nein, sie hat ihr Versprechen gehalten – blieb ihr auch gar
nichts anderes übrig«, fügte Hermine zufrieden hinzu. »Aber sie hat
die Grundlage für das geschaffen, was sie jetzt versuchen.«
»Und was ist das?«, fragte Harry ungeduldig.
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»Okay, du weißt, dass sie geschrieben hat, du seist völlig
zusammengebrochen und hättest gesagt, deine Narbe schmerze, und
so weiter?«
»Ja«, sagte Harry, der Rita Kimmkorns Storys über ihn nicht so
schnell vergessen würde.
»Naja, jetzt schreiben sie über dich, als ob du so ein Spinner wärst,
der ständig Aufmerksamkeit sucht und glaubt, er sei ein großer
tragischer Held oder so was«, sagte Hermine sehr schnell, als wäre es
weniger unangenehm für Harry, diese Tatsachen rasch zu hören.
»Dauernd lassen sie hämische Kommentare über dich einfließen.
Wenn sie irgendeine aus der Luft gegriffene Story bringen, schreiben
sie beispielsweise, das sei ›Harry Potter, wie wir ihn kennen und
liebem, und wenn jemandem irgendwas Komisches zustößt, heißt es:
›Hoffen wir, dass er keine Narbe auf der Stirn kriegt, sonst verlangt
man demnächst noch von uns, dass wir ihn anbeten‹ …«
»Ich will nicht, dass irgendjemand mich anbetet …«, fuhr Harry
hitzig auf.
»Das weiß ich doch«, erwiderte Hermine rasch und sichtlich
besorgt. »Ich weiß, Harry. Aber verstehst du, was die treiben? Die
wollen dich als jemanden hinstellen, dem keiner gla uben kann. Fudge
steckt dahinter, jede Wette. Die wollen, dass die Zauberer von der
Straße denken, du wärst nichts weiter als ein dummer Junge, eine Art
Witzfigur, der lächerliche, übertriebene Geschichten erzählt, weil es
ihm so gefällt, berühmt zu sein, und er die Sache am Laufen halten
will.«
»Ich hab nicht verlangt – ich hab nicht gewollt – Voldemort hat
meine Eltern umgebracht!«, stammelte Harry. »Ich bin berühmt
geworden, weil er meine Familie ermordet hat, aber mich nicht töten
konnte! Wer will dafür berühmt sein? Können die sich nicht denken,
dass es mir lieber wäre, wenn das nie …«
»Das wissen wir, Harry«, sagte Ginny ernst.
»Und natürlich haben sie kein Wort darüber gebracht, dass dich die
Dementoren angegriffen haben«, sagte Hermine. »Jemand hat ihnen
befohlen, darüber Stillschweigen zu bewahren. Ansonsten war das
eine richtig große Story geworden – Dementoren außer Kontrolle. Die
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haben nicht mal berichtet, dass du das Internationale
Geheimhaltungsabkommen verletzt hast. Wir dachten, das würden sie
in jedem Fall bringen, es würde ja so gut zu deinem Image als
dummer Angeber passen. Wir vermuten, dass sie erst mal abwarten,
bis sie dich von der Schule geworfen haben, dann kommen sie ganz
groß damit raus – ich meine, falls du rausgeworfen wirst, natürlich«,
ergänzte sie hastig. »Das dürfen die eigentlich nicht, nicht wenn sie
sich an ihre eigenen Gesetze halten, die haben nichts gegen dich in der
Hand.«
Damit waren sie wieder bei der Anhörung und Harry wollte nicht
darüber nachdenken. Er wollte das Thema wechseln und überlegte,
wie, doch das Nachdenken wurde ihm erspart durch das Geräusch von
Schritten, die treppauf kamen.
»Oh – oh.«
Fred zog kräftig am Langziehohr; wieder knallte es laut und er und
George verschwanden. Sekunden später erschien Mrs. Weasley an der
Tür.
»Die Versammlung ist zu Ende, ihr könnt jetzt runterkommen und
zu Abend essen. Harry, die können's alle nicht erwarten, dich zu
sehen. Und wer hat all die Stinkbomben vor der Küchentür liegen
lassen?«
»Krummbein«, sagte Ginny ohne rot zu werden. »Der spielt gern
mit denen.«
»Oh«, sagte Mrs. Weasley. »Ich dachte, es war vielleicht Kreacher,
der stellt ja dauernd dummes Zeug an. Und vergesst nicht, in der Halle
leise zu sein. Ginny, du hast schmutzige Hände, was hast du
getrieben? Geh und wasch sie vor dem Abendessen, bitte.«
Ginny schnitt den anderen zugewandt eine Grimasse und folgte
ihrer Mutter aus dem Zimmer, so dass Harry jetzt mit Ron und
Hermine allein war. Beide beobachteten ihn besorgt, als fürchteten sie,
nun, da die anderen alle fort waren, würde er wieder anfangen zu
schreien. Wie er sie so nervös dastehen sah, schämte er sich fast ein
bisschen.
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»Seht mal …«, murmelte er, aber Ron schüttelte den Kopf, und
Hermine sagte leise: »Wir wussten, dass du wütend sein würdest,
Harry, wir machen dir wirklich keinen Vorwurf, aber du musst
verstehen – wir haben versucht Dumbledore zu überzeugen …«
»Ja, weiß ich«, sagte Harry knapp.
Er suchte nach einem Thema, das nichts mit seinem Schulleiter zu
tun hatte, denn allein schon bei dem Gedanken an Dumbledore spürte
Harry erneut eine brennende Wut im Magen.
»Wer ist Kreacher?«, fragte er.
»Der Hauself, der hier lebt«, sagte Ron. »Knallkopf. So was wie
den hab ich noch nie erlebt.«
Hermine blickte Ron finster an.
»Er ist kein Knallkopf, Ron.«
»Sein größter Wunsch ist, dass man ihm den Kopf abhackt und ihn
auf eine Tafel setzt, genau wie den seiner Mutter«, sagte Ron gereizt.
»Ist das normal, Hermine?«
»Nun ja – wenn er ein bisschen merkwürdig ist, dann ist das nicht
seine Schuld.«
Ron wandte sich Harry zu und verdrehte die Augen.
»Hermine hat diese Belfer-Sache immer noch nicht aufgegeben.«
»Das heißt nicht Belfer!«, brauste Hermine auf. »Sondern Bund für
Elfenrechte. Und nicht nur ich, auch Dumbledore sagt, wir sollten nett
zu Kreacher sein.«
»Ja, ja«, sagte Ron. »Kommt, ich verhungere noch.«
Er ging voran zur Tür hinaus und bis zum Treppenabsatz, doch
bevor sie hinuntersteigen konnten …
»Wartet!«, hauchte Ron und streckte einen Arm aus, damit Harry
und Hermine stehen blieben. »Sie sind immer noch in der Halle,
vielleicht können wir was hören.«
Alle drei lugten vorsichtig über das Geländer. Die düstere Halle
unten war voller Hexen und Zauberer, darunter Harrys gesamte
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Leibgarde. Sie tuschelten aufgeregt miteinander. Genau in der Mitte
der Schar erkannte Harry den dunklen, fetthaarigen Kopf und die
markante Nase seines verhasstesten Lehrers in Hogwarts, Professor
Snape. Harry beugte sich noch weiter über das Geländer. Was Snape
für den Orden des Phönix unternahm, interessierte ihn sehr …
Eine dünne, fleischfarbene Schnur senkte sich vor Harrys Augen
herab. Er blickte auf und sah Fred und George eine Treppe höher, die
vorsichtig das Langziehohr auf den dunklen Menschenknäuel unten
sinken ließen. Doch schon im nächsten Moment gingen alle in
Richtung Tür und waren außer Sicht.
»Verdammt«, hörte Harry Fred flüstern, während er das
Langziehohr wieder einholte.
Sie hörten, wie sich die Haustür öffnete und wieder schloss.
»Snape bleibt nie zum Essen hier«, klärte Ron Harry mit leiser
Stimme auf. »Gott sei Dank. Komm.«
»Und denk dran, in der Halle leise zu sein, Harry«, flüsterte
Hermine.
Als sie an der Reihe von Hauselfenköpfen an der Wand
vorbeikamen, sahen sie, wie Lupin, Mrs. Weasley und Tonks die
vielen Schlösser und Riegel der Haustür hinter den gerade
Hinausgegangenen magisch versiegelten.
»Wir essen unten in der Küche«, flüsterte Mrs. Weasley und nahm
sie am Fuß der Treppe in Empfang. »Harry, mein Lieber, würdest du
bitte auf Zehenspitzen durch die Halle gehen, es ist diese Tür dort …«
KNALL.
»Tonks!«, rief Mrs. Weasley entsetzt und wandte sich um.
Tonks lag der Länge nach auf dem Boden. »Tut mir Leid!«,
jammerte sie.
»Dieser bescheuerte Schirmständer, jetzt stolpere ich schon das
zweite Mal über den …«
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Doch ihre Worte gingen in einem fürchterlichen,
ohrenbetäubenden Schrei unter, der einem das Blut in den Adern
gefrieren ließ.
Die mottenzerfressenen Samtvorhänge, an denen Harry kurz zuvor
vorbeigegangen war, waren auseinander geflogen, aber hinter ihnen
befand sich keine Tür. Für den Bruchteil einer Sekunde gla ubte Harry,
er würde durch ein Fenster blicken, ein Fenster, hinter dem eine alte
Frau mit schwarzer Haube schrie und schrie, als ob sie gefoltert würde
– dann erkannte er, dass es nichts weiter war als ein lebensgroßes
Porträt, allerdings das wirklichkeitsgetreuste und abstoßendste, das er
je gesehen hatte.
Die Alte sabberte und verdrehte die Augen, beim Schreien spannte
sich ihre gelbliche Haut straff übers Gesicht; und nun erwachten hinter
ihnen, überall in der Halle, die anderen Porträts und fingen ebenfalls
zu schreien an, so dass Harry wegen des Lärms tatsächlich die Augen
zukniff und sich die Hände auf die Ohren drückte.
Lupin und Mrs. Weasley stürzten herbei und versuchten, die
Vorhänge wieder über die Alte zu ziehen, doch sie wollten sich nicht
schließen lassen, und die Frau kreischte nur noch lauter und fuchtelte
mit ihren Klauenhänden, als wollte sie ihre Gesichter erwischen.
»Dreck! Abschaum! Ausgeburten von Schmutz und Niedertracht!
Halbblüter, Mutanten, Missgeburten, hinfort von hier! Wie könnt ihr
es wagen, das Haus meiner Väter zu besudeln …«
Tonks entschuldigte sich immer wieder, während sie das klobige,
schwere Trollbein über den Fußboden schleifte; Mrs. Weasley gab den
Versuch auf, die Vorhänge zu schließen, eilte durch die Halle und
versah alle anderen Porträts per Zauberstab mit einem Schockzauber;
aus einer gegenüberliegenden Tür stürzte ein Mann mit langen
schwarzen Haaren herein.
»Sei still, du elende alte Sabberhexe, sei STILL!«, donnerte er und
packte den Vorhang, den Mrs. Weasley losgelassen hatte.
Das Gesicht der Alten erbleichte.
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»Duuuuu!«, heulte sie und beim Anblick des Mannes quollen ihre
Augen hervor. »Verräter deines Blutes, Scheusal, Schande meines
Fleisches!«
»Ich hab – gesagt – sei STILL!«, donnerte der Mann, und unter
größter Anstrengung gelang es ihm gemeinsam mit Lupin, die
Vorhänge wieder zuzuziehen.
Die Schreie der Alten erstarben und eine dröhnende Stille legte
sich über die Halle.
Leicht keuchend drehte sich Harrys Pate Sirius um, wischte sich
die langen schwarzen Haare aus den Augen und blickte ihn an.
»Hallo, Harry«, sagte er grimmig. »Wie ich sehe, hast du meine
Mutter kennen gelernt.«
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Der Orden des Phönix
»Deine …«
»Tja, meine liebe alte Mum«, sagte Sirius. »Seit einem Monat
versuchen wir sie nun schon abzuhängen, aber ich fürchte, sie hat den
Bildrücken mit einem Dauerklebefluch an die Wand gehext. Lass uns
schnell nach unten gehen, bevor sie alle wieder aufwachen.«
»Aber was hat das Porträt deiner Mutter hier zu suchen?«, fragte
Harry verdutzt, während sie durch die Tür der Eingangshalle gingen
und dicht gefolgt von den anderen eine schmale Steintreppe
hinabstiegen.
»Hat dir das keiner erzählt? Das war das Haus meiner Eltern«,
sagte Sirius. »Aber ich bin der letzte noch lebende Black, deshalb
gehört es jetzt mir. Ich hab es Dumbledore als Hauptquartier
angeboten – so ziemlich das einzig Nützliche, was ich beitragen
konnte.«
Harry, der sich seinen Empfang anders vorgestellt hatte, fiel auf,
wie hart und bitter Sirius' Stimme klang. Er folgte seinem Paten die
Treppe hinab ins Untergeschoss und durch eine Tür, die in die Küche
führte.
Sie war ein Gewölbe mit rauen Steinwänden, kaum weniger düster
als die Eingangshalle. Das meiste Licht stammte von einem großen
Feuer am anderen Ende des Raumes. Pfeifenrauch hing in der Luft
wie Pulverdampf nach einer Schlacht, und durch den Rauchschleier
ragten die bedrohlichen Umrisse schwerer eiserner Töpfe und
Pfannen, die von der dunklen Decke hingen. Für die Versammlung
hatte man den Raum mit Stühlen voll gestellt , und mittendrin stand
ein langer Holztisch, der übersät war mit Pergamentrollen, Kelchen,
leeren Weinflaschen und, wie es den Anschein hatte, einem Haufen
Lumpen. Am Ende des Tisches hatten Mr. Weasley und sein ältester
Sohn Bill die Köpfe zusammengesteckt und redeten leise miteinander.
Mrs. Weasley räusperte sich. Ihr Gatte, ein dünner, zur Glatze
neigender rothaariger Mann mit Hornbrille, wandte den Kopf und
sprang auf.
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»Harry!«, rief Mr. Weasley, eilte herbei, um ihn zu begrüßen, und
schüttelte ihm lebhaft die Hand. »Schön, dich wieder zu sehen!«
Über seine Schulter hinweg sah Harry, wie Bill, der sein langes
Haar immer noch als Pferdeschwanz trug, hastig die Pergamentbahnen
zusammenrollte, die offen auf dem Tisch lagen.
»Gute Reise gehabt, Harry?«, rief Bill und versuchte zwölf Rollen
auf einmal aufzusammeln. »Mad-Eye hat dich also nicht über
Grönland umgeleitet?«
»Er hat's versucht«, sagte Tonks und ging auf Bill zu, um ihm zu
helfen, wobei sie sogleich eine Kerze auf das letzte Pergamentblatt
kippte. »O nein – Verzeihung …«
»Macht doch nichts«, sagte Mrs. Weasley mit leicht ärgerlichem
Unterton und brachte das Pergament mit einem Schwung ihres
Zauberstabs wieder in Ordnung. Im Lichtblitz, den ihr Zauber
verursachte, erhaschte Harry einen flüchtigen Blick auf etwas, das
aussah wie der Plan eines Gebäudes.
Mrs. Weasley hatte seinen Blick gesehen. Sie schnappte den Plan
vom Tisch und stopfte ihn in Bills ohnehin überladene Arme.
»Solche Dinge sollten nach der Versammlung schleunigst
weggeräumt werden«, fauchte sie, dann rauschte sie hinüber zu einer
alten Anrichte und fing an, Teller für das Abendessen herauszuholen.
Bill zückte seinen Zauberstab, murmelte »Evanesco!«, und die
Rollen verschwanden.
»Setz dich, Harry«, sagte Sirius. »Mundungus kennst du schon,
oder?«
Was Harry für einen Lumpenhaufen gehalten hatte, ließ einen
langen grunzenden Schnarcher hören und schreckte dann aus dem
Schlaf.
»Jeman' mein' Namen genannt?«, murmelte Mundungus
benommen. »Bin mit Sirius völlig einer Meinung …« Er schielte mit
blutunterlaufenen, trie fenden Augen ins Leere und hob eine sehr
schmutzige Hand, als wollte er abstimmen.
Ginny kicherte.
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»Die Versammlung ist zu Ende, Dung«, sagte Sirius, während sich
alle um den Tisch setzten. »Harry ist hier.«
»Hä?«, sagte Mundungus und spähte durch sein verfilztes
rotbraunes Haar niedergeschlagen zu Harry hinüber. »Meine Güte, is'
er. Jaah … alles in Or'nung mit dir, 'Arry?«
»Ja«, sagte Harry.
Mundungus, der Harry unentwegt anstarrte, stöberte fahrig in
seinen Taschen und zog eine schmierige schwarze Pfeife hervor. Er
steckte sie in den Mund, entzündete sie mit seinem Zauberstab und
nahm einen tiefen Zug. Augenblicke später verhüllten ihn große
wabernde Wolken grünlichen Rauchs.
»Schuld dir 'ne Enschulligung«, grunzte eine Stimme inmitten der
stinkenden Wolke.
»Zum letzten Mal, Mundungus«, rief Mrs. Weasley, »rauch bitte
dieses Kraut nicht in der Küche, schon gar nicht kurz vor dem Essen!«
»Ah«, machte Mundungus. »Gut. Sorry, Molly.«
Die Rauchwolke verschwand, als Mundungus seine Pfeife wieder
in die Tasche steckte, doch zurück blieb ein beißender Geruch nach
brennenden Socken.
»Und wenn ihr noch vor Mitternacht essen wollt, könnte ich ein
wenig Hilfe gebrauchen«, sagte Mrs. Weasley in die Runde. »Nein, du
bleibst sitzen, Harry, du hast eine lange Reise hinter dir.«
»Du musst mir nur sagen, was ich tun soll, Molly«, sagte Tonks
begeistert und stürmte herbei.
Mrs. Weasley zögerte. Sie sah besorgt aus.
»Ähm – nein, schon gut, Tonks, du ruhst dich auch aus, du hast
heute genug getan.«
»Aber nein, ich möchte helfen!«, sagte Tonks eifrig und warf einen
Stuhl um, als sie zur Anrichte stürzte, aus der Ginny gerade Besteck
nahm.
Bald schnitten eine Reihe schwerer Messer ganz von alleine
Fleisch und Gemüse, überwacht von Mr. Weasley, während Mrs.
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Weasley in einem Kessel rührte, der über dem Feuer hing, und die
Helfer Teller, Kelche und Speisen aus der Vorratskammer holten.
Harry war am Tisch sitzen geblieben wie Sirius und Mundungus, der
ihn immer noch traurig anblinzelte.
»Haste seither die alte Figgy wieder gesehn?«, fragte er.
»Nein«, sagte Harry, »ich habe niemanden getroffen.«
»Hör mal, ich war ja nich weggegangen«, sagte Mundungus,
beugte sich vor und schlug einen flehenden Ton an, »aber da war
dieses einmalige Geschäft …«
Harry spürte etwas an seinen Knien entlangstreichen und zuckte
zusammen, doch es war nur Krummbein, Hermines säbelbeiniger
orangeroter Kater, der sich schnurrend einmal um Harrys Beine
schlängelte, dann auf Sirius' Schoß hüpfte und sich dort
zusammenrollte. Sirius kraulte ihn abwesend hinter den Ohren und
wandte sich mit immer noch grimmiger Miene an Harry.
»Schönen Sommer gehabt bisher?«
»Nein, er war miserabel«, sagte Harry.
Zum ersten Mal huschte der Anflug eines Grinsens über Sirius'
Gesicht.
»Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, worüber du dich beschwerst.«
»Was?«, sagte Harry verdutzt.
»Mir persönlich war ein Dementorenangriff ganz lieb gewesen. Ein
tödlicher Kampf um meine Seele war eine hübsche Unterbrechung der
Langeweile gewesen. Du glaubst, dir wär's schlecht ergangen, aber
wenigstens bist du aus dem Haus gekommen und hast dir ein wenig
die Beine vertreten, dir ein paar Kämpfe eingehandelt … Ich sitze seit
einem Monat hier fest.«
»Wieso das?«, fragte Harry stirnrunzelnd.
»Weil das Zaubereiministerium immer noch hinter mir her ist, und
Voldemort weiß inzwischen bestimmt genau Bescheid, dass ich ein
Animagus bin, Wurmschwanz wird es ihm gesagt haben, also ist
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meine Maskierung nutzlos. Ich kann nicht viel für den Orden des
Phönix tun … jedenfalls meint das Dumbledore.«
Etwas an dem leicht bedrückten Tonfall, mit dem Sirius
Dumbledores Namen aussprach, sagte Harry, dass auch Sirius nicht
besonders gut auf den Schulleiter zu sprechen war. Harry spürte ein
jähes Gefühl der Zuneigung für seinen Paten.
»Wenigstens weißt du, was passiert ist«, sagte er aufmunternd.
»Oh, ja«, entgegnete Sirius sarkastisch. »Ich hör mir Snapes
Berichte an, lass all die hämischen Andeutungen über mich ergehen,
dass er dort draußen sein Leben riskiert, während ich hier auf dem
Hintern sitze und es mir hübsch gemütlich mache … fragt er mich
doch, wie es mit dem Putzen vorangeht …«
»Putzen?«, fragte Harry.
»Wir versuchen, dieses Haus für menschliche Bewohner
herzurichten«, sagte Sirius und wies mit ausladender Geste auf die
schäbige Küche. »Seit zehn Jahren hat keiner mehr hier gele bt, seit
meine liebe Mutter gestorben ist, außer du zählst ihren alten Hauselfen
dazu, und der ist durchgedreht – er hat hier schon eine Ewigkeit nicht
mehr geputzt.«
»Sirius«, sagte Mundungus, der offenbar überhaupt nicht auf das
Gespräch geachtet, sondern einen leeren Kelch sehr genau in
Augenschein genommen hatte. »Is' das echt Silber, Mann?«
»Ja«, sagte Sirius und betrachtete angewidert den Kelch. »Feinstes
koboldgearbeitetes Silber, fünfzehntes Jahrhundert, geprägt mit dem
Familienwappen der Blacks.«
»Das kommt dann aber weg«, murmelte Mundungus und polierte
es mit dem Ärmelaufschlag.
»Fred – George – NEIN, IHR SOLLT ES TRAGEN!«, kreischte
Mrs. Weasley.
Harry, Sirius und Mundungus drehten sich um und tauchten
blitzschnell vom Tisch weg. Ein großer Kessel voller Eintopf, ein
Eisenkrug mit Butterbier und ein schweres hölzernes
Brotschneidebrett mitsamt Messer, flogen von Fred und George
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verzaubert, durch die Luft auf sie zu. Der Eintopf schlitterte über den
Tisch, kam kurz vor der Kante zum Stehen und hinterließ eine lange
schwarze Brandspur auf dem Holz; der Butterbierkrug krachte auf die
Platte und verspritzte seinen Inhalt; das Brotmesser rutschte vom Brett
und landete, die Spitze unheilvoll im Holz zitternd, genau an der
Stelle, wo Sekunden zuvor noch Sirius' Hand gelegen hatte.
»UM HIMMELS WILLEN!«, schrie Mrs. Weasley. »DAS WAR
NICHTNÖTIG – JETZT REICHT'S MIR – NUR WEIL IHR JETZT
MAGIE GEBRAUCHEN DÜRFT, MÜSST IHR EURE
ZAUBERSTÄBE NICHT WEGEN JEDER KLEINIGKEIT
RAUSHOLEN!«
»Wir wollten doch nur ein wenig Zeit sparen!«, sagte Fred und trat
eilends hinzu, um das Brotmesser aus dem Tisch zu ziehen. »Sorry,
Sirius, altes Haus – war keine Absicht …«
Harry und Sirius lachten; Mundungus, der rücklings vom Stuhl
gefallen war, rappelte sich fluchend auf; Krummbein hatte zornig
gefaucht und war unter die Anrichte geflohen, wo seine großen gelben
Augen nun in der Dunkelheit glommen.
»Jungs«, sagte Mr. Weasley und hievte den Eintopf in die Mitte
des Tisches, »eure Mutter hat Recht, ihr solltet jetzt, da ihr volljährig
seid, ein gewisses Verantwortungsgefühl an den Tag legen …«
»Keiner eurer Brüder hat solchen Ärger gemacht!«, schimpfte Mrs.
Weasley mit den Zwillingen und knallte einen frischen Krug
Butterbier auf den Tisch, wobei nicht viel weniger verschüttet wurde
als kurz zuvor. »Bill hatte nicht das Gefühl, er müsse wegen ein paar
Metern gleich apparieren! Charlie hat nicht alles verhext, was ihm vor
die Nase kam! Percy …«
Sie verstummte schlagartig, hielt den Atem an und blickte
ängstlich zu ihrem Mann hinüber, dessen Miene plötzlich hölzern
geworden war.
»Lasst uns essen«, sagte Bill rasch.
»Sieht lecker aus. Molly«, sagte Lupin, schöpfte ihr Eintopf auf
einen Teller und reichte ihn über den Tisch.
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Einige Minuten lang, während alle sich über das Essen
hermachten, herrschte Stille, nur unterbrochen vom Klirren der Teller
und Bestecke und vom Scharren der Stühle. Dann wandte sich Mrs.
Weasley an Sirius.
»Was ich dir noch sagen wollte, Sirius, da steckt was in diesem
Schreibpult im Salon, andauernd klappert und ruckelt das. Könnte
natürlich nur ein Irrwicht sein, aber ich dachte, wir sollten Alastor
fragen, damit er einen Blick drauf wirft, bevor wir ihn rauslassen.«
»Wie du meinst«, antwortete Sirius gleichmütig.
»Und außerdem sind die Vorhänge dort drin voller Doxys«, fuhr
Mrs. Weasley fort. »Ich dachte, wir könnten die vielleicht morgen in
Angriff nehmen.«
»Ich freu mich schon drauf«, sagte Sirius. Harry hörte den
sarkastischen Unterton in seiner Stimme, war sich aber nicht sicher,
ob dies sonst noch jemandem auffiel.
Harry gegenüber saß Tonks, die Hermine und Ginny unterhielt,
indem sie zwischen zwei Bissen ihre Nase veränderte. Wie schon in
Harrys Zimmer kniff sie mit angestrengter Miene die Augen zu und
ihre Nase schwoll zu einem schnabelartigen Höcker an, ähnlich dem
von Snape und schrumpfte dann wieder auf die Größe eines
Champignons, wobei büschelweise Haare aus den Nasenlöchern
sprossen. Offenbar handelte es sich um eine ganz normale
Unterhaltungseinlage zum Abendessen, denn bald verlangten Hermine
und Ginny ihre Lieblingsnasen.
»Machen Sie die Schweineschnauze, Tonks.«
Tonks tat wie geheißen, und Harry hatte, als er aufschaute, den
flüchtigen Eindruck, ein weiblicher Dudley würde ihm von der
anderen Tischseite her zugrinsen.
Mr. Weasley, Bill und Lupin waren in ein Gespräch über Kobolde
vertieft.
»Die verraten jetzt noch nichts«, sagte Bill. »Ich weiß nach wie vor
nicht, ob sie glauben, dass er zurück ist, oder nicht. Natürlich ist es
ihnen möglicherweise lieber, nicht Partei zu ergreifen. Sich aus der
Sache rauszuhalten.«
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»Ich bin sicher, die würden nie zu Du-weißt-schon-wem
überlaufen«, sagte Mr. Weasley kopfschüttelnd. »Auch sie hatten
Verluste; erinnert ihr euch noch an diese Koboldfamilie, die er das
letzte Mal ermordet hat, in der Nähe von Nottingham?«
»Ich glaube, es hängt davon ab, was man ihnen anbietet«, sagte
Lupin. »Und ich rede nicht von Gold. Wenn man ihnen die Freiheiten
bietet, die wir ihnen seit Jahrhunderten verwehren, kommen sie in
Versuchung. Hast du noch immer kein Glück mit Ragnok gehabt,
Bill?«
»Im Moment hat er von Zauberern die Nase voll«, sagte Bill, »er
ist immer noch wütend wegen dieser Bagman-Geschichte und glaubt,
das Ministerium hätte die Sache vertuscht, diese Kobolde haben
nämlich nie ihr Gold von ihm gekriegt …«
Eine Lachsalve von der Mitte der Tafel übertönte den Rest von
Bills Worten. Fred, George, Ron und Mundungus kugelten sich auf
ihren Stühlen.
»… und dann«, japste Mundungus und Tränen liefen ihm übers
Gesicht, »und dann, ihr glaubt's mir nich, sacht er doch zu mir, sacht
er: ›Hö' mal, Dung, wo hast'en all die Kröten her? Weil irgend so 'n
Klatscherbalg hat mir doch tatsächlich alle geklaut!‹ Und ich sach:
›Dir hamse alle Kröten geklaut, Will, was nu? Da brauchst du wieder
'n paar?‹ Und ihr glaubt's mir nich, Leute, dieser grunzdumme Gnom
– kauft seine ganzen Kröten von mir zurück, für viel mehr, als er
damals gezahlt hat …«
»Ich glaube nicht, dass wir noch mehr über deine
Geschäftstätigkeiten erfahren möchten, vielen Dank, Mundungus«,
sagte Mrs. Weasley scharf, während sich Ron, brüllend vor Lachen,
bäuchlings über den Tisch warf.
»Versseihung, Molly«, sagte Mundungus rasch, wischte sich die
Augen und zwinkerte Harry zu. »Aber weiß' du, Will hatte sie ja
schon von Warzen-Harris geklaut, also hab ich eigentlich gar nix
Falsches gemacht.«
»Ich weiß nicht, wo du Richtig und Falsch zu unterscheiden gelernt
hast, Mundungus, aber offensichtlich hast du ein paar entscheidende
Lektionen verpasst«, sagte Mrs. Weasley kühl.
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Fred und George senkten die Gesichter in ihre Butterbierkelche;
George hickste. Aus irgendeinem Grund warf Mrs. Weasley Sirius
einen sehr bösen Blick zu, dann stand sie auf, um zum Nachtisch
einen großen Rhabarberauflauf zu holen. Harry drehte sich zu seinem
Paten um.
»Molly hält nichts von Mundungus«, sagte Sirius gedämpft.
»Und wie kommt's, dass er im Orden ist?«, sagte Harry sehr leise.
»Er ist nützlich«, murmelte Sirius. »Kennt alle Gauner – klar, er ist
ja selber einer. Aber er steht auch sehr treu zu Dumbledore, weil der
ihm mal aus der Patsche geholfen hat. Es lohnt sich, jemanden wie
Dung dabeizuhaben, er hört Dinge, von denen wir nichts erfahren.
Aber Molly glaubt, es geht zu weit, wenn man ihn einlädt, zum Essen
zu bleiben. Dass er seine Pflicht hat sausen lassen, als er dich
beschatten sollte, hat sie ihm nicht verziehen.«
Drei Schläge Rhabarberauflauf mit Vanillesoße später fühlte sich
der Bund von Harrys Jeans unbequem eng an (was etwas heißen
wollte, denn die Jeans hatte einst Dudley gehört). Als er seinen Löffel
weglegte, war das Gespräch rundum ruhiger geworden: Mr. Weasley
lehnte sich im Stuhl zurück, er wirkte satt und entspannt; Tonks,
wieder mit ihrer normalen Nase, gähnte herzhaft; und Ginny, die
Krummbein unter der Anrichte hervorgelockt hatte, saß im
Schneidersitz am Boden und warf ihm Butterbierkorken zum Fangen
hin.
»Bald Zeit fürs Bett«, sagte Mrs. Weasley gähnend.
»Noch nicht ganz, Molly«, erwiderte Sirius, schob seinen leeren
Teller weg und wandte sich Harry zu. »Ehrlich gesagt, du überraschst
mich. Ich hätte gedacht, sobald du hier ankommst, stellst du Fragen
über Voldemort.«
Die Atmosphäre im Raum schlug derart schnell um, dass sich
Harry an das Auftauchen von Dementoren erinnert fühlte. Noch vor
Sekunden schläfrig und gelassen, war die Stimmung jetzt wachsam, ja
gespannt. Bei der Erwähnung Voldemorts war ein kalter Schauder um
den Tisch gegangen. Lupin, der gerade an seinem Wein nippen wollte,
ließ den Kelch langsam und mit argwöhnischer Miene sinken.
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»Hab ich doch!«, sagte Harry entrüstet. »Ich hab Ron und Hermine
gefragt, aber die sagten, wir seie n im Orden nicht zugelassen, also …«
»Und sie haben vollkommen Recht«, sagte Mrs. Weasley. »Ihr seid
zu jung.«
Sie saß stocksteif auf ihrem Stuhl, die Fäuste auf den Armlehnen
geballt, und jede Spur von Schläfrigkeit war aus ihrem Gesicht
verschwunden.
»Seit wann muss jemand im Orden des Phönix sein, um Fragen zu
stellen?«, sagte Sirius. »Harry saß einen Monat lang in diesem
Muggelhaus fest. Er hat das Recht zu erfahren, was pass…«
»Wart mal!«, warf George laut ein.
»Wieso kriegt eigentlich Harry Antworten auf seine Fragen?«,
sagte Fred wütend.
»Wir versuchen seit einem Monat, dir was aus der Nase zu ziehen,
und du hast uns kein einziges stinkendes Wort gesagt!«, rief George.
»Ihr seid zu jung, ihr seid nicht im Orden«, sagte Fred mit schriller
Stimme, die unverkennbar nach der seiner Mutter klang. »Harry ist
noch nicht mal volljährig!«
»Es ist nicht meine Schuld, dass man euch nicht gesagt hat, was
der Orden unternimmt«, erklärte Sirius ruhig, »das war die
Entscheidung eurer Eltern. Harry jedoch …«
»Es ist nicht deine Sache, zu entscheiden, was für Harry gut ist«,
sagte Mrs. Weasley scharf. Der Ausdruck ihres sonst so freundlichen
Gesichts wirkte gefährlich. »Du hast nicht vergessen, was
Dumbledore gesagt hat, nehm ich an?«
»Was meinst du jetzt speziell?«, fragte Sirius höflich, doch mit der
Miene eines Mannes, der sich bereit zum Kampf macht.
»Dass Harry nicht mehr erfahren darf, als er wissen muss«, sagte
Mrs. Weasley und betonte die letzten beiden Wörter nachdrücklich.
Die Köpfe von Ron, Hermine, Fred und George wandten sich
abwechselnd Sirius und Mrs. Weasley zu, als würden sie einem
Ballwechsel beim Tennis folgen. Ginny kniete inmitten eines Haufens
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herumliegender Butterbierkorken und verfolgte die Unterhaltung mit
leicht geöffnetem Mund. Lupins Blick war auf Sirius geheftet.
»Ich habe nicht die Absicht, ihm mehr zu sagen, als er wissen
muss, Molly«, erwiderte Sirius. »Aber als derjenige, der Voldemort
zurückkommen sah« (erneut ging ein Schauder reihum), »hat er eher
ein Recht als die meisten …«
»Er ist kein Mitglied des Phönixordens!«, sagte Mrs. Weasley. »Er
ist erst fünfzehn und …«
»Und er ist mit ebenso viel fertig geworden wie die meisten im
Orden«, sagte Sirius, »und mit mehr, als manche von sich behaupten
können.«
»Keiner bestreitet, was er getan hat!«, sagte Mrs. Weasley mit
erhobener Stimme und ihre Fäuste auf den Armlehnen bebten. »Aber
er ist immer noch …«
»Er ist kein Kind mehr!«, sagte Sirius unwirsch.
»Ein Erwachsener ist er auch nicht!«, erwiderte Mrs. Weasley und
ihre Wangen färbten sich. »Er ist nicht James, Sirius!«
»Mir ist vollkommen klar, wer er ist, danke, Molly«, sagte Sirius
kühl.
»Da bin ich mir nicht so sicher!«, sagte Mrs. Weasley. »Manchmal
redest du über ihn, als würdest du glauben, du hättest deinen besten
Freund wieder!«
»Was soll daran falsch sein?«, fragte Harry.
»Falsch daran ist, Harry, dass du nicht dein Vater bist, wie ähnlich
du ihm auch sein magst!«, sagte Mrs. Weasley und sah Sirius mit
bohrendem Blick an. »Du gehst noch immer zur Schule, und
Erwachsene, die für dich verantwortlich sind, sollten das nicht
vergessen!«
»Soll das heißen, ich bin ein verantwortungsloser Pate?«, fragte
Sirius und fuhr auf.
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»Das soll heißen, dass du bekannt dafür bist, unüberlegt zu
handeln, Sirius, weshalb Dumbledore dich dauernd ermahnt, zu Hause
zu bleiben und …«
»Dumbledores Anweisungen für mich tun hier nichts zur Sache,
wenn ich bitten darf!«, sagte Sirius laut.
»Arthur!«, sagte Mrs. Weasley und wandte sich ihrem Mann zu.
»Arthur, sag doch was!«
Mr. Weasley schwieg zunächst. Er nahm die Brille ab und putzte
sie langsam an seinem Umhang, ohne seine Frau anzusehen. Erst als
er sie behutsam wieder auf die Nase gesetzt hatte, antwortete er.
»Dumbledore weiß, dass die Lage sich geändert hat, Molly. Er ist
dafür, dass Harry jetzt, da er sich im Hauptquartier aufhält, bis zu
einem gewissen Punkt unterrichtet wird.«
»Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass man ihn auffordert zu
fragen, was immer er wissen will!«
»Ich persönlich«, sagte Lupin leise und wandte endlich den Blick
von Sirius ab, während Mrs. Weasley sich rasch zu ihm umdrehte, in
der Hoffnung, nun endlich einen Verbündeten zu bekommen, »ich
persönlich halte es für besser, wenn Harry die Tatsachen erfährt –
nicht alle Tatsachen, Molly, aber er sollte einen groben Überblick
bekommen – von uns, und nicht eine entstellte Variante … von
anderen.«
Sein Gesichtsausdruck war freundlich, aber Harry war sich sicher,
dass Lupin wusste, dass einige Langziehohren Mrs. Weasleys
Säuberungsaktion überlebt hatten.
»Nun«, sagte Mrs. Weasley schwer atmend und sah vergeblich
Hilfe suchend in die Runde, »nun … ich seh schon, ich werde
überstimmt. Ich will nur eines sagen: Wenn Dumbledore nicht wollte,
dass Harry zu viel erfährt, dann muss er seine Gründe dafür gehabt
haben, und als jemand, dem Harrys ureigenes Wohl am Herzen liegt
…«
»Er ist nicht dein Sohn«, sagte Sirius leise.
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»Aber so gut wie«, sagte Mrs. Weasley heftig. »Wen hat er denn
sonst noch?«
»Er hat mich!«
»Ja«, sagte Mrs. Weasley und ihre Lippen kräuselten sich, »die
Sache ist nur die, dass es für dich recht schwierig war, sich um ihn zu
kümmern, während du in Askaban eingesperrt warst, oder?«
Sirius machte Anstalten, sich zu erheben.
»Molly, du bist nicht der einzige Mensch hier am Tisch, der sich
um Harry sorgt«, sagte Lupin scharf. »Sirius, setz dich hin.«
Mrs. Weasleys Unterlippe bebte. Sirius sank langsam auf seinen
Stuhl zurück. Er war weiß im Gesicht.
»Ich denke, Harry sollte dabei ein Wort mitreden dürfen«, fuhr
Lupin fort, »er ist alt genug, um selbst zu entscheiden.«
»Ich will wissen, was inzwischen alles passiert ist«, sagte Harry
sofort.
Er sah Mrs. Weasley nicht an. Dass er wie ein Sohn für sie war,
wie sie gesagt hatte, rührte ihn, aber von ihr bemuttert zu werden
machte ihn auch ungeduldig. Sirius hatte Recht, er war kein Kind
mehr.
»Also gut«, sagte Mrs. Weasley mit brüchiger Stimme. »Ginny –
Ron – Hermine – Fred – George – ich will, dass ihr aus der Küche
verschwindet, und zwar sofort.«
Augenblicklich kam es zum Tumult.
»Wir sind volljährig!«, brüllten Fred und George im Chor.
»Wenn Harry darf, warum dann nicht ich?«, rief Ron.
»Mum, ich will das hören!«, klagte Ginny.
»NEIN!«, rief Mrs. Weasley und erhob sich. Ihre Augen glänzten.
»Ich verbiete euch abso…«
»Molly, Fred und George kannst du es nicht verbieten«, sagte Mr.
Weasley matt. »Sie sind volljährig.«
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»Sie gehen immer noch zur Schule.«
»Aber dem Gesetz nach sind sie jetzt Erwachsene«, sagte Mr.
Weasley mit unverändert müder Stimme.
Mrs. Weasley war nun scharlachrot im Gesicht.
»Ich – oh, von mir aus, Fred und George können bleiben, aber Ron
…«
»Harry erzählt mir und Hermine sowieso alles, was ihr sagt!«, rief
Ron aufgebracht. »Oder – oder nicht?«, fügte er unsicher hinzu und
suchte Harrys Blick.
Einen kurzen Moment lang schoss Harry durch den Kopf, er
könnte Ron sagen, dass er kein einziges Wort von ihm zu hören
kriegen würde, damit er mal spürte, wie es war, nichts zu erfahren,
und sehen konnte, wie ihm das schmeckte. Aber der gemeine Impuls
verschwand, als sie sich anblickten.
»Klar werd ich das«, sagte Harry.
Ron und Hermine strahlten.
»Schön!«, rief Mrs. Weasley. »Schön! Ginny – INS BETT!«
Ginny ging nicht leise. Sie konnten sie die ganze Treppe hinauf
gegen ihre Mutter wüten und toben hören, und als sie die Halle
erreicht hatte, verstärkten Mrs. Blacks markerschütternde Schreie
noch das Getöse. Lupin eilte zum Porträt hoch, um für Ruhe zu
sorgen. Erst als er zurück war, die Küchentür hinter sich geschlossen
und seinen Platz am Tisch wieder eingenommen hatte, begann Sirius
zu sprechen.
»Gut, Harry … was willst du wissen?«
Harry holte tief Luft und stellte die Frage, die ihn seit einem Monat
nicht mehr losließ.
»Wo ist Voldemort?«, sagte er, ohne darauf zu achten, dass bei
dem Namen wieder alle schauderten und zusammenzuckten. »Was hat
er unternommen? Ich hab versucht die Muggelnachrichten zu sehen,
und es gab noch nichts, was nach ihm aussah, keine merkwürdigen
Todesfälle und dergleichen.«
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»Weil es bislang noch keine merkwürdigen Todesfälle gegeben
hat«, sagte Sirius, »jedenfalls soweit wir wissen … und wir wissen
eine ganze Menge.«
»Auf jeden Fall mehr, als er glaubt«, sagte Lupin.
»Wie kommt es, dass er aufgehört hat, Menschen zu töten?«, fragte
Harry. Er wusste, dass Voldemort allein im vergangenen Jahr mehr als
einmal gemordet hatte.
»Weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will«, sagte Sirius.
»Das wäre gefährlich für ihn. Seine Rückkehr ist ihm nicht ganz so
gelungen, wie er sich das vorgestellt hat, verstehst du. Er hat sie
vermasselt.«
»Besser gesagt, du hast sie ihm vermasselt«, sagte Lupin und
lächelte zufrieden.
»Wie?«, fragte Harry perplex.
»Du solltest eigentlich nicht überleben!«, sagte Sirius. »Niemand
außer seinen Todessern sollte wissen, dass er zurück ist. Aber du hast
überlebt und kannst es bezeugen.«
»Und der Letzte, der wegen seiner Rückkehr alarmiert werden
sollte, war Dumbledore«, sagte Lupin. »Und du hast dafür gesorgt,
dass es Dumbledore sofort erfahren hat.«
»Und was hat das gebracht?«, fragte Harry.
»Machst du Witze?«, entgegnete Bill ungläubig. »Dumbledore war
der Einzige, vor dem Du-weißt-schon-wer jemals Angst hatte!«
»Dank dir konnte Dumbledore schon eine knappe Stunde nach
Voldemorts Rückkehr den Orden des Phönix wieder einberufen«,
sagte Sirius.
»Und – was hat der Orden unternommen?«, sagte Harry und
blickte in die Runde.
»Wir tun alles, was wir können, um dafür zu sorgen, dass
Voldemort seine Pläne nicht verwirklichen kann«, erwiderte Sirius.
»Woher wisst ihr, was er plant?«, fragte Harry rasch.
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»Dumbledore hat eine ungefähre Vorstellung«, sagte Lupin, »und
Dumbledores ungefähre Vorstellungen erweisen sich normalerweise
als zutreffend.«
»Und was vermutet Dumbledore, dass er plant?«
»Nun, zunächst will er seine Armee wieder aufbauen«, sagte
Sirius. »In alten Zeiten standen gewaltige Scharen unter seinem
Befehl: Hexen und Zauberer, die er erpresst oder verhext hatte, ihm zu
folgen, seine getreuen Todesser, viele verschiedene dunkle Kreaturen.
Du hast gehört, dass er vorhat, die Riesen für sich zu gewinnen; nun,
das wird nur eine der Gruppen sein, die er für sich einnehmen will.
Mit Sicherheit wird er nicht versuchen, es nur mit einem Dutzend
Todessern gegen das Zaubereiministerium aufzunehmen.«
»Also versucht ihr, ihn aufzuhalten, bevor er noch mehr Anhänger
bekommt?«
»Wir tun unser Bestes«, erwiderte Lupin.
»Wie?«
»Nun, das Wichtigste ist, dass wir versuchen, möglichst viele
davon zu überzeugen, dass Du-weißt-schon-wer zurückgekehrt ist,
damit sie sich wappnen«, sagte Bill. »Das ist allerdings gar nicht so
einfach.«
»Warum?«
»Wegen der Haltung des Ministeriums«, sagte Tonks. »Du hast
Cornelius Fudge gesehen, nachdem Du-weißt-schon-wer
zurückgekommen war, Harry. Nun, er hat seine Position überhaupt
nicht verändert. Er weigert sich steif und fest zu glauben, dass es so
ist.«
»Aber weshalb?«, fragte Harry aufgebracht. »Weshalb ist er so
dumm? Wenn Dumbledore …«
»Tja, da hast du den Finger auf die Wunde gelegt«, sagte Mr.
Weasley mit einem gequälten Lächeln. »Dumbledore.«
»Fudge hat Angst vor ihm, verstehst du«, sagte Tonks traurig.
»Angst vor Dumbledore?«, fragte Harry ungläubig.
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»Angst vor dem, was er vorhat«, erwiderte Mr. Weasley. »Fudge
glaubt, Dumbledore heckt eine Verschwörung aus, um ihn zu stürzen.
Er glaubt, Dumbledore will Zaubereiminister werden.«
»Aber Dumbledore will doch nicht …«
»Natürlich will er nicht«, sagte Mr. Weasley. »Er wollte nie das
Amt des Ministers, obwohl eine Menge Leute ihn dazu gedrängt
haben, als Millicent Bagnold in den Ruhestand ging. Stattdessen kam
Fudge an die Macht, aber er hat nie vergessen, welch breite
Unterstützung Dumbledore genoss, obwohl er sich nie um den Posten
beworben hatte.«
»Tief in seinem Innern weiß Fudge, dass Dumbledore weit klüger
ist als er, ein viel mächtigerer Zauberer, und in seiner frühen Amtszeit
als Minister hat er Dumbledore ständig um Hilfe und Rat gebeten«,
sagte Lupin. »Aber wie es scheint, hat er sich mit der Macht
angefreundet und ist viel selbstsicherer geworden. Er genießt es,
Zaubereiminister zu sein, und hat es geschafft, sich einzureden, dass
er der Klügste ist und dass Dumbledore nur Scherereien um ihrer
selbst willen heraufbeschwört.«
»Wie kann er so etwas glauben?«, sagte Harry zornig. »Wie kann
er glauben, dass Dumbledore alles nur erfindet – dass ich alles
erfinde?«
»Wenn das Ministerium sich eingestehen würde, dass Voldemort
zurück ist, hieße das, sie hätten es mit den größten Schwierigkeiten
seit fast vierzehn Jahren zu tun«, sagte Sirius bitter. »Fudge bringt es
einfach nicht fertig, sich dem zu stellen. Es ist ja so viel bequemer,
wenn er sich einredet, Dumbledore lüge, um seine Stellung zu
untergraben.«
»Da liegt das Problem«, sagte Lupin. »Wenn das Ministerium
darauf beharrt, dass es von Voldemort nichts zu befürchten gibt, ist es
schwierig, die Leute davon zu überzeugen, dass er zurück ist,
besonders da sie es zunächst im Grunde gar nicht glauben wollen.
Zudem übt das Ministerium starken Druck auf den Tagespropheten
aus, nichts von dem zu berichten, was sie Dumbledores
Gerüchteküche nennen, also hat der größte Teil der
Zauberergemeinschaft überhaupt keine Ahnung, dass irgendetwas
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geschehen ist, und das macht sie zu leichter Beute für die Todesser,
wenn die den Imperius-Fluch einsetzen.«
»Aber ihr erzählt es doch den Leuten, oder nicht?«, sagte Harry
und blickte reihum zu Mr. Weasley, Sirius, Bill, Mundungus, Lupin
und Tonks. »Ihr lasst die Leute doch wissen, dass er zurück ist?«
Sie lächelten gezwungen.
»Nun ja, alle glauben, ich sei ein verrückter Massenmörder, und
das Ministerium hat einen Preis von zehntausend Galleonen auf
meinen Kopf ausgesetzt. Ich kann wohl kaum durch die Straßen
ziehen und Flugblätter verteilen, oder?«, sagte Sirius unruhig.
»Und ich bin bei den meisten in der Gemeinschaft kein sonderlich
beliebter Dinnergast«, sagte Lupin. »Das gehört zum Berufsrisiko
eines Werwolfs.«
»Tonks und Arthur würden ihre Stellen im Ministerium verlieren,
wenn sie anfingen, den Mund auf zumachen«, sagte Sirius, »und es ist
sehr wichtig für uns, Spione im Ministerium zu haben, weil du davon
ausgehen kannst, dass Voldemort auch welche hat.«
»Immerhin haben wir es geschafft, ein paar Leute zu überzeugen«,
sagte Mr. Weasley. »Tonks hier, zum Beispiel – das letzte Mal war sie
noch zu jung für den Orden des Phönix, und Auroren auf unserer Seite
zu haben ist ein gewaltiger Vorteil – auch Kingsley Shacklebolt ist ein
echter Trumpf; er ist verantwortlich für die Jagd nach Sirius, also hat
er das Ministerium mit der Information gefüttert, dass Sirius in Tibet
sei.«
»Aber wenn keiner von euch die Nachricht verbreitet, dass
Voldemort zurück ist …«, fing Harry an.
»Wer sagt, dass keiner von uns die Nachricht verbreitet?«, sagte
Sirius. »Warum, glaubst du, hat Dumbledore so viel Ärger?«
»Was soll das heißen?«, fragte Harry.
»Sie versuchen ihn unglaubwürdig zu machen«, sagte Lupin. »Hast
du letzte Woche nicht den Tagespropheten gelesen? Sie haben
berichtet, dass er aus dem Vorstand der Internationalen
Zauberervereinigung rausgewählt wurde, weil er alt werde und nicht
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mehr alle Tassen im Schrank habe, aber das stimmt nicht; er wurde
von Ministeriumszauberern rausgewählt, nachdem er in einer Rede
Voldemorts Rückkehr verkündet hatte. Sie haben ihm das Amt des
Großmeisters beim Zaubergamot entzogen – das ist das Oberste
Gericht der Zauberer – und sie reden davon, ihm auch den
Merlinorden erster Klasse abzuerkennen.«
»Aber Dumbledore sagt, ihm ist egal, was sie tun, solange sie ihn
nicht aus den Schokofroschkarten rausnehmen«, sagte Bill grinsend.
»Das ist nicht zum Lachen«, sagte Mr. Weasley scharf. »Wenn er
dem Ministerium weiterhin auf diese Weise die Stirn bietet, könnte er
in Askaban landen, und das Letzte, was wir wollen, ist ein
eingesperrter Dumbledore. Solange Du-weißt-schon-wer weiß, dass
Dumbledore irgendwo da draußen ist und seine Absichten kennt, wird
er mit Bedacht vorgehen. Wenn Dumbledore aus dem Weg ist – dann
hat Du-weißt-schon-wer freie Bahn.«
»Aber wenn Voldemort versucht noch mehr Todesser zu
gewinnen, muss doch rauskommen, dass er zurück ist, oder?«, fragte
Harry verzweifelt.
»Voldemort marschiert nicht zu den Leuten hin und klopft an ihre
Türen, Harry«, sagte Sirius. »Er überlistet, er verhext und erpresst sie.
Er handelt im Geheimen, darin hat er viel Übung. Er ist sowieso nicht
nur daran interessiert, Gefolgsleute zu sammeln. Er hat noch andere
Pläne, Pläne, die er tatsächlich ganz ohne Aufsehen verwirklichen
kann, und im Moment konzentriert er sich auf die.«
»Was sucht er denn, abgesehen von Gefolgsleuten?«, fragte Harry
rasch. Er hatte den Eindruck, Sirius und Lupin einen sehr flüchtigen
Blick austauschen zu sehen, bevor Sirius antwortete.
»Dinge, die er nur absolut heimlich bekommen kann.«
Da Harry weiterhin ratlos dreinsah, sagte Sirius: »Zum Beispiel
eine Waffe. Etwas, das er das letzte Mal nicht hatte.«
»Als er schon einmal Macht hatte?«
»Ja.«
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»Was für eine Waffe?«, sagte Harry. »Etwas Schlimmeres als den
Avada Kedavra…?«
»Das reicht jetzt!«
Mrs. Weasley stand im Schatten neben der Tür. Harry hatte nicht
bemerkt, dass sie zurückgekehrt war, nachdem sie Ginny
hochgebracht hatte. Sie hatte die Arme verschränkt und sah wütend
aus.
»Ich möchte, dass ihr zu Bett geht, sofort. Und zwar alle«, fügte sie
hinzu und ließ den Blick über Fred, George, Ron und Hermine
wandern.
»Du kannst uns hier nicht rumkommandieren …«, begann Fred.
»Pass auf«, fauchte Mrs. Weasley. Sie zitterte leicht, als sie Sirius
ansah. »Ihr habt Harry eine Menge Informationen gegeben. Noch ein
wenig mehr, und ihr könnt ihn auch gleich in den Orden aufnehmen.«
»Warum nicht?«, warf Harry rasch ein. »Ich werde beitreten, ich
will beitreten, ich will kämpfen.«
»Nein.«
Jetzt hatte nicht Mrs. Weasley, sondern Lupin gesprochen.
»Der Orden besteht nur aus volljährigen Zauberern«, sagte er.
»Zauberern, die mit der Schule fertig sind«, fügte er hinzu, da Fred
und George die Münder aufsperrten. »Es sind Gefahren damit
verbunden, von denen ihr nichts ahnen könnt, keiner von euch … Ich
glaube, Molly hat Recht, Sirius. Wir haben genug gesagt.«
Sirius hob leicht die Achseln, entgegnete aber nichts. Mrs. Weasley
winkte ihren Söhnen und Hermine gebieterisch zu. Einer nach dem
anderen erhob sich, und Harry, der einsah, dass er verloren hatte,
folgte ihnen.
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Das fürnehme und gar alte Haus
der Blacks
Mrs. Weasley ging mit grimmiger Miene hinter ihnen die Treppe
hinauf. »Ihr geht sofort zu Bett, und es wird nicht mehr geredet«,
befahl sie, als sie den ersten Stock erreicht hatten. »Wir haben morgen
viel zu tun. Ich denke, Ginny schläft schon«, fügte sie an Hermine
gewandt hinzu, »also versuch sie bitte nicht aufzuwecken.«
»Schläft schon, ja, sicher«, sagte Fred halblaut, als Hermine ihnen
gute Nacht gewünscht hatte und sie einen Stock höher stiegen. »Wenn
Ginny nicht noch wach ist und auf Hermine wartet, damit sie ihr alles
erzählt, was sie unten gesagt haben, dann bin ich ein Flubberwurm
…«
»Also, Ron, Harry«, sagte Mrs. Weasley auf dem zweiten
Treppenabsatz und deutete auf ihr Schlafzimmer. »Ab ins Bett mit
euch.«
»Nacht«, sagten Harry und Ron zu den Zwillingen.
»Schlaft gut«, sagte Fred augenzwinkernd.
Mrs. Weasley ließ die Tür hinter Harry laut ins Schloss fallen. Das
Schlafzimmer wirkte noch feuchter und düsterer als beim ersten
Anblick. Das leere Bild an der Wand atmete jetzt ganz langsam und
tief, als würde sein unsichtbarer Bewohner schlafen. Harry zog seinen
Schlafanzug an, nahm die Brille ab und stieg in sein klammes Bett,
während Ron Eulenkekse auf den Schrank warf, um Hedwig und
Pigwidgeon ruhig zu stimmen, die herumklackerten und nervös mit
den Flügeln raschelten.
»Wir können sie nicht jede Nacht zum Jagen rauslassen«, erklärte
Ron, während er seinen kastanienbraunen Pyjama anzog.
»Dumbledore will nicht, dass zu viele Eulen über den Platz schwirren,
das würde verdächtig aussehen, meint er. Ach ja … hab ich vergessen
…«
Er ging hinüber zur Tür und verriegelte sie.
- 113 -
»Warum machst du das?«
»Kreacher«, sagte Ron und löschte das Licht. »In meiner ersten
Nacht hier kam er um drei Uhr morgens reinspaziert. Nicht gerade
angenehm, wenn du aufwachst und siehst, dass er in deinem Zimmer
herumschleicht, glaub mir. Jedenfalls …«, er stieg ins Bett, legte sich
unter die Decke und blickte Harry in der Dunkelheit an; Harry sah
seinen Umriss im Mondlicht, das durch die schmutzige Fensterscheibe
sickerte, »was hältst du davon?«
Harry brauchte Ron nicht zu fragen, was er meinte.
»Nun, das bisschen, was sie uns erzählt haben, hätten wir uns auch
selber zusammenreimen können, oder?«, antwortete er und ließ sich
noch einmal durch den Kopf gehen, was in der Küche gesagt worden
war. »Ich meine, im Grunde haben sie nur gesagt, dass der Orden
versucht, die Leute davon abzuhalten, sich Vol…«
Ron atmete zischend ein.
»…demort anzuschließen«, sagte Harry bestimmt. »Wann fängst
du endlich an, seinen Namen zu benutzen? Sirius und Lupin tun's
auch.«
Ron überhörte seine letzte Bemerkung.
»Ja, du hast Recht«, sagte er, »wir haben schon fast alles gewusst,
was sie uns gesagt haben, weil wir die Langziehohren benutzt haben.
Das einzig Neue war …«
Knall.
»AUTSCH!«
»Sei leise, Ron, oder Mum steht gleich wieder auf der Matte.«
»Ihr zwei seid auf meinen Knien appariert!«
»Tja, im Dunkeln ist es eben schwieriger.«
Harry sah die schemenhaften Umrisse von Fred und George von
Rons Bett hüpfen. Sprungfedern ächzten, und Harrys Matratze senkte
sich eine Handbreit, als George sich neben seine Füße setzte.
»Ihr seid also schon beim Thema?«, fragte George neugierig.
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»Bei der Waffe, von der Sirius gesprochen hat?«, sagte Harry.
»Die ihm wohl eher rausgerutscht ist«, sagte Fred, der jetzt neben
Ron saß, genüsslich. »Von der haben wir mit den ollen Langziehern
nichts gehört, oder?«
»Was wird das sein?«, meinte Harry.
»Kann alles Mögliche sein«, erwiderte Fred.
»Aber es kann doch nichts Schlimmeres geben als den Avada-
Kedavra-Fluch, oder?«, sagte Ron. »Was ist schlimmer als der Tod?«
»Vielleicht ist es etwas, das viele Menschen auf einmal töten
kann«, überlegte George.
»Vielleicht ist es eine besonders schmerzhafte Art, Leute
umzubringen«, sagte Ron beklommen.
»Wenn er Schmerzen verursachen will, hat er den Cruciatus-
Fluch«, entgegnete Harry, »er braucht nichts Wirksameres als den.«
Eine Pause trat ein, und Harry wusste, dass die anderen sich genau
wie er fragten, welches Grauen diese Waffe verbreiten mochte.
»Und wer, glaubt ihr, besitzt sie im Augenblick?«, fragte George.
»Ich hoffe, unsere Seite«, sagte Ron und klang leicht nervös.
»Wenn ja, dann bewahrt vermutlich Dumbledore sie auf«, sagte
Fred.
»Wo?«, fragte Ron rasch. »In Hogwarts?«
»Mit Sicherheit!«, sagte George. »Da hat er auch den Stein der
Weisen versteckt.«
»Eine Waffe ist aber wahrscheinlich viel größer als der Stein!«,
erwiderte Ron.
»Nicht unbedingt«, sagte Fred.
»Ja, Größe ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit Kraft«, sagte
George.
»Schau dir nur Ginny an.«
- 115 -
»Was meinst du?«, sagte Harry.
»Du bist nie in den Genuss einer ihrer Flederwichtflüche
gekommen, was?«
»Schhh!«, machte Fred und erhob sich halb vom Bett. »Hört mal!«
Sie verstummten. Schritte kamen die Treppe herauf.
»Mum«, sagte George, und mir nichts, dir nichts ertönte ein lauter
Knall, und Harry spürte, wie das Gewicht vom Fußende seines Bettes
verschwand. Ein paar Sekunden später hörten sie draußen vor der Tür
den Boden knarren; offenbar lauschte Mrs. Weasley, ob sie noch
miteinander redeten.
Hedwig und Pigwidgeon schrien klagend. Der Fußboden knarrte
erneut, und sie hörten, wie Mrs. Weasley einen Stock höher ging, um
bei Fred und George zu horchen.
»Sie traut uns kein bisschen, weißt du«, sagte Ron bedauernd.
Harry war sich sicher, dass er keinen Schlaf finden würde; an
diesem Abend war zu viel geschehen, woran er denken musste, und er
erwartete geradezu, dass er noch stundenlang daliegen und immer
wieder über alles nachgrübeln würde. Er wollte sich weiter mit Ron
unterhalten, aber Mrs. Weasley knarrte nun wieder treppab, und als sie
fort war, hörte er deutlich andere Schritte treppauf kommen …
tatsächlich taperten vielbeinige Kreaturen draußen vor der Zimmertür
leise auf und ab, und Hagrid, der Lehrer für die Pflege magischer
Geschöpfe, sagte: »Schönheiten, nicht wahr, Harry? Dieses Sc huljahr
studieren wir Waffen …«, und Harry sah, dass die Geschöpfe
Kanonen als Köpfe hatten und auf ihn zugerollt kamen … er duckte
sich …
Das Nächste, was er wahrnahm, war, dass er zu einer warmen
Kugel zusammengerollt unter seiner Bettdecke lag und Georges
Stimme laut durch den Raum drang.
»Mum sagt, dass ihr aufstehen sollt, euer Frühstück ist in der
Küche, und dann braucht sie euch im Salon, da sind viel mehr Doxys,
als sie dachte, und sie hat ein Nest mit toten Knuddelmuffs unter dem
Sofa gefunden.«
- 116 -
Eine halbe Stunde später traten Harry und Ron, die sich rasch
angezogen und gefrühstückt hatten, in den Salon, einen langen Raum
im ersten Stock mit hoher Decke und olivgrünen Wänden, an denen
schmutzige Tapeten hingen. Der Teppich atmete jedes Mal, wenn man
mit dem Fuß auftrat, kleine Staubwolken aus, und die langen
moosgrünen Samtvorhänge summten, als wären sie voll unsichtbarer
Bienenschwärme. Um diese Vorhänge herum standen Mrs. Weasley,
Hermine, Ginny, Fred und George. Mit dem Tuch, das sie alle über
Nase und Mund gebunden hatten, sahen sie recht eigentümlich aus.
Außerdem hielt jeder eine große Flasche mit schwarzer Flüssigkeit in
der Hand, die oben eine Düse hatte.
»Bedeckt die Gesichter und nehmt euch ein Spray«, sagte Mrs.
Weasley zu Harry und Ron, kaum dass sie die beiden gesehen hatte.
Sie deutete auf zwei weitere Flaschen mit schwarzer Flüssigkeit, die
auf einem storchbeinigen Tisch standen. »Das ist Doxyzid. Eine so
schlimme Verseuchung hab ich noch nie erlebt – was hat dieser
Hauself in den letzten zehn Jahren nur gemacht …«
Hermines Gesicht war halb von einem Geschirrtuch verhüllt, doch
Harry sah deutlich, wie sie Mrs. Weasley einen vorwurfsvollen Blick
zuwarf.
»Kreacher ist steinalt, er hat es wahrscheinlich nicht geschafft …«
»Du wärst überrascht, was Kreacher alles so schafft, wenn er
wirklich will, Hermine«, sagte Sirius, der gerade hereinkam. Er trug
einen blutverschmierten Sack, der offenbar tote Ratten enthielt. »Ich
hab eben Seidenschnabel gefüttert«, erklärte er auf Harrys fragenden
Blick hin. »Ich halte ihn oben im Schlafzimmer meiner Mutter. Also
… dieses Schreibpult …«
Er ließ den Sack mit Ratten auf einen Sessel fallen, dann beugte er
sich vor, um das verschlossene Schreibpult zu inspizieren, das, wie
Harry jetzt erst auffiel, leicht ruckelte.
»Nun, Molly, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Irrwicht ist«,
sagte Sirius und spähte durchs Schlüsselloch, »aber vielleicht sollte
Mad-Eye mal einen kurzen Blick drauf werfen, bevor wir ihn
rauslassen – wie ich meine Mutter kenne, könnte das noch was viel
Schlimmeres sein.«
- 117 -
»Ganz recht, Sirius«, sagte Mrs. Weasley.
Sie sprachen beide in einem bedacht unbekümmerten, höflichen
Ton miteinander, an dem Harry deutlich erkannte, dass sie ihren Streit
vom Vorabend noch nicht vergessen hatten.
Im Erdgeschoss ertönte eine laute, klirrende Glocke, und sofort
hob ein vielstimmiges Schreien und Wehklagen an, wie schon am
Vorabend, als Tonks den Schirmständer umgestoßen hatte.
»Andauernd sag ich ihnen, sie sollen nicht an der Haustür läuten!«,
rief Sirius verärgert und hastete hinaus. Sie hörten ihn die Treppe
hinunterpoltern, während Mrs. Blacks Gekeife erneut durch das Haus
hallte:
»Schandflecke, schmutzige Halbblüter, Blutsverräter,
Gossenkinder …«
»Schließ bitte die Tür, Harry«, sagte Mrs. Weasley.
Harry nahm sich gewagt lange Zeit, um die Salontür zu schließen;
er wollte hören, was unten vor sich ging. Sirius hatte es offenbar
geschafft, die Vorhänge vor dem Porträt seiner Mutter zu schließen,
denn das Geschrei war verstummt. Er hörte Sirius durch die Halle
laufen, dann das Rasseln der Kette an der Haustür, und schließlich
sagte eine tiefe Stimme, die er als die von Kingsley Shacklebolt
erkannte: »Hestia hat mich gerade abgelöst, sie hat also jetzt Moodys
Mantel, ich dachte, ich könnte einen Bericht für Dumbledore abgeben
…«
Harry spürte Mrs. Weasleys Blick im Nacken, machte bedauernd
die Salontür zu und schloss sich wieder der Doxytruppe an.
Mrs. Weasley stand über Gilderoy Lockharts Ratgeber für
Schädlinge in Haus und Hof gebeugt, der aufgeschlagen auf dem Sofa
lag, und studierte die Seite über Doxys.
»Also, hört alle mal zu, ihr müsst aufpassen, weil Doxys beißen
und ihre Zähne giftig sind. Ich habe hier eine Flasche mit Gegengift,
aber mir wär's lieber, wenn es niemand brauchte.«
Sie richtete sich auf, stellte sich breitbeinig vor die Vorhänge und
winkte sie alle nach vorne.
- 118 -
»Auf mein Kommando fangt ihr gleich an zu sprühen«, sagte sie.
»Die werden auf uns zufliegen, denke ich, aber auf den Sprays steht,
ein tüchtiger Spritzer wird sie lähmen. Wenn sie sich nicht mehr
rühren, werft sie einfach in diesen Eimer.«
Umsichtig trat sie den anderen aus der Schusslinie und hob ihr
Spray.
»Alles klar – sprüht!«
Harry hatte gerade mal ein paar Sekunden lang gesprüht, als eine
ausgewachsene Doxy aus einer Falte im Stoff hervorgeschossen kam,
mit surrenden, glänzenden, käferartigen Flügeln, die kleinen
nadelscharfen Zähne gebleckt, den feenartigen Körper mit dichtem
schwarzem Haar bedeckt und die vier winzigen Fäustchen erzürnt
geballt. Harry erwischte sie mit einer Ladung Doxyzid voll im
Gesicht. Sie erstarrte in der Luft und fiel mit einem überraschend
lauten Donk auf den abgetretenen Teppich. Harry hob sie auf und warf
sie in den Eimer.
»Fred, was machst du da?«, sagte Mrs. Weasley scharf. »Sprüh die
sofort ein und wirf sie weg!«
Harry wandte sich um. Fred hielt eine zappelnde Doxy zwischen
Zeigefinger und Daumen.
»Hab ich dich«, sagte er grinsend und sprühte der Doxy rasch ins
Gesicht, so dass sie in Ohnmacht fiel, doch kaum hatte ihm Mrs.
Weasley den Rücken zugekehrt, steckte er sie augenzwinkernd in die
Tasche.
»Wir wollen das Doxygift für unsere Nasch-und-Schwänz-
Leckereien testen«, tuschelte George Harry zu.
Harry sprayte geschickt zwei Doxys auf einmal an, die geradewegs
auf seine Nase zuflirrten, trat dann näher zu George und murmelte,
ohne die Lippen zu bewegen: »Was sind Nasch-und-Schwänz-
Leckereien?«
»Eine Auswahl von Süßigkeiten, die dich krank machen«, flüsterte
George und behielt wachsam Mrs. Weasleys Rücken im Blick. »Nicht
ernstlich krank natürlich, nur krank genug, damit man dich aus dem
Unterricht schickt, wenn dir danach ist. Fred und ich haben sie diesen
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Sommer entwickelt. Das sind zweigeteilte, farblich gekennzeichnete
Süßigkeiten zum Kauen. Wenn du von den Kotzpastillen die orange
Hälfte isst, wird dir schlecht. Sobald sie dich aus dem Unterricht in
den Krankenflügel gescheucht haben, schluckst du die lila Hälfte …«
»… die dich wieder vollkommen fit macht und es dir ermöglicht,
der Freizeitbeschäftigung deiner Wahl nachzugehen, und das in einer
Stunde, die andernfalls nutzloser Langeweile gewidmet wäre.‹ Das
schreiben wir jedenfalls in den Anzeigen«, flüsterte Fred, der sich aus
Mrs. Weasleys Sichtfeld gestohlen hatte und jetzt ein paar verstreute
Doxys vom Boden kehrte und sie zu den anderen in seine Tasche
steckte. »Aber sie sind noch nicht ganz ausgereift. Im Moment haben
unsere Testpersonen weiterhin gewisse Schwierigkeiten damit, lang
genug mit dem Kotzen aufzuhören, um das lila Ende schlucken zu
können.«
»Testpersonen?«
»Wir«, sagte Fred. »Wir nehmen sie abwechselnd. George hat die
Kollapskekse gegessen – das Nasblutnugat haben wir alle beide
ausprobiert …«
»Mum dachte, wir hätten uns duelliert«, sagte George.
»Ihr habt also immer noch vor, diesen Scherzartikelladen
aufzumachen?«, murmelte Harry, wobei er so tat, als würde er die
Düse an seinem Spray neu einrichten.
»Nun, wir haben bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt, uns um
Räumlichkeiten zu kümmern«, sagte Fred und wurde noch leiser, als
Mrs. Weasley sich die Stirn mit ihrem Halstuch abwischte, bevor sie
wieder zum Angriff schritt, »also betreiben wir ihn im Moment noch
als Versandhandel. Letzte Woche haben wir Anzeigen in den
Tagespropheten gesetzt.«
»Alles dank dir, Alter«, sagte George. »Aber mach dir keine
Sorgen … Mum hat keine Ahnung. Sie will den Tagespropheten nicht
mehr lesen, weil er Lügen über dich und Dumbledore verbreitet.«
Harry grinste. Er hatte den Weasley-Zwillingen das Preisgeld von
tausend Galleonen aufgenötigt, das er im Trimagischen Turnier
gewonnen hatte, damit sie ihren Traum verwirklichen konnten, einen
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Laden für Zauberscherze zu eröffnen, und doch war er froh zu hören,
dass Mrs. Weasley nichts von seinem Beitrag zur Förderung ihres
Vorhabens wusste. Einen Scherzartikelladen zu betreiben war in ihren
Augen keine geeignete Berufslaufbahn für zwei ihrer Söhne.
Das Dedoxieren der Vorhänge beanspruchte fast den ganzen
Vormittag. Es war nach zwölf, als Mrs. Weasley endlich ihr
Schutztuch abnahm, sich in einen durchhängenden Sessel sinken ließ
und mit einem angewiderten Schrei wieder aufsprang, weil sie sich
auf den Sack mit den toten Ratten gesetzt hatte. Die Vorhänge
summten nicht mehr; schlaff und feucht vom heftigen Besprühen
hingen sie da. Vor ihnen auf dem Boden stand der mit betäubten
Doxys gefüllte Eimer neben einer Schüssel mit ihren schwarzen Eiern,
an denen Krummbein jetzt schnüffelte und auf die Fred und George
begehrliche Blicke warfen.
»Ich denke, die nehmen wir uns nach dem Mittagessen vor.« Mrs.
Weasley deutete auf die verstaubten Vitrinen zu beiden Seiten des
Kaminsimses. Sie waren voll gestopft mit einem merkwürdigen
Sammelsurium von Dingen: einer Auswahl rostiger Dolche, Klauen,
einer eingerollten Schlangenhaut, einer Reihe angelaufener
Silberkästen mit Inschriften in Sprachen, die Harry nicht verstand,
und, am unangenehmsten von allem, einem reich verzierten
Kristallflakon mit einem großen, in den Stöpsel eingelassenen Opal,
der, da war sich Harry ziemlich sicher, mit Blut gefüllt war.
Die klirrende Türglocke ging erneut. Alle sahen Mrs. Weasley an.
»Bleibt hier«, sagte sie entschieden und schnappte sich den Sack
mit den Ratten, während Mrs. Blacks Schreie erneut von unten
heraufdrangen. »Ich bring euch ein paar Sandwiches hoch.«
Sie ging hinaus und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Sofort
stürzten alle zum Fenster und lugten hinunter zur Vortreppe. Sie
konnten einen zerzausten rotbraunen Haarschopf sehen und einen
bedrohlich windschiefen Stapel Kessel.
»Mundungus!«, sagte Hermine. »Wozu bringt er all die Kessel
mit?«
»Sucht wahrscheinlich nach einem sicheren Platz zum
Aufbewahren«, sagte Harry. »Hat er das nicht an dem Abend
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gemacht, als er mich beschatten sollte? Kessel auf dem Schwarzmarkt
besorgt?«
»Ja, stimmt!«, sagte Fred. Die Haustür ging auf; Mundungus
balancierte seine Kessel durch die Tür und verschwand im Haus.
»Verflucht, Mum wird das gar nicht gern sehen …«
Er und George gingen zur Tür und lauschten mit gespitzten Ohren.
Mrs. Blacks Geschrei hatte aufgehört.
»Mundungus unterhält sich mit Sirius und Kingsley«, murmelte
Fred und ranzelte angestrengt die Stirn. »Kann's nicht richtig hören …
meinst du, wir können es mit den Langziehohren riskieren?«
»Dürfte die Sache wert sein«, sagte George. »Ich kann nach oben
schleichen und ein Paar holen …«
Doch genau in diesem Moment brach unten ein Radau los, der
Langziehohren völlig überflüssig machte. Sie alle konnten klar
vernehmen, was Mrs. Weasley aus vollem Halse schrie.
»WIR SIND HIER KEIN VERSTECK FÜR DIEBESGUT!«
»Ich genieße es, wenn Mum jemand anderen anschreit«, sagte Fred
mit zufriedenem Lächeln und öffnete die Tür einen Spaltbreit, damit
Mrs. Weasleys Stimme besser in den Raum dringen konnte. »Ist doch
mal 'ne nette Abwechslung.«
»… VÖLLIG UNVERANTWORTLICH, ALS HÄTTEN WIR
NICHT GENUG SORGEN, DA BRAUCHST DU NICHT AUCH
NOCH GESTOHLENE KESSEL INS HAUS ZU SCHLEPPEN …«
»Diese Idioten lassen sie so richtig in Fahrt kommen«, sagte
George kopfschüttelnd. »Du musst sie möglichst früh abwürgen, sonst
läuft sie heiß wie eine Dampfwalze und dann geht das stundenlang so
weiter. Und seit Mundungus abgehauen ist statt dir zu folgen, Harry,
ist sie ganz scharf drauf, ihn mal zur Schnecke zu machen – und
Sirius' Mama legt jetzt auch wieder los.«
Mrs. Weasleys Stimme ging im erneuten Keifen und Schreien der
Porträts in der Halle unter.
George wollte gerade die Tür schließen, um den Lärm zu dämpfen,
als sich im letzten Moment ein Hauself hereindrängte.
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Abgesehen von dem schmutzigen Lumpen, den er wie einen
Lendenschurz um seinen Leib gebunden hatte, war er völlig nackt. Er
sah sehr alt aus. Seine Haut schien ein paar Nummern zu groß für ihn,
und obwohl er kahl war wie alle Hauselfen, sprossen Büschel weißen
Haares aus seinen großen, fledermausartigen Ohren. Seine Augen
waren blutunterlaufen und wässrig grau und seine große, fleischige
Nase hatte deutliche Ähnlichkeit mit einer Schnauze.
Der Elf nahm überhaupt keine Notiz von Harry und den anderen.
Er tat so, als könne er sie nicht sehen, und schlurfte mit buckligem
Rücken langsam und verbissen quer durch den Salon, wobei er mit
einer tiefen, heiseren Stimme wie der eines Ochsenfroschs unablässig
vor sich hin murmelte.
»… riecht wie eine Kloake und ist ein Verbrecher noch dazu, aber
sie ist auch nicht besser, gemeine alte Blutsverräterin, deren Bälger
das Haus meiner Herrin beschmutzen, o meine arme Herrin, wenn sie
wüsste, wenn sie wüsste, welchen Abschaum sie in ihr Haus gelassen
haben, was würde sie zum alten Kreacher sagen, o welche Schande,
Schlammblüter und Werwölfe und Verräter und Diebe, der arme alte
Kreacher, was kann er nur tun …«
»Hallo, Kreacher«, sagte Fred mit sehr lauter Stimme und ließ die
Tür zuschnappen.
Der Hauself blieb wie angewurzelt stehen, hörte auf zu murmeln
und gab einen nachdrücklichen und kaum überzeugenden
Überraschungslaut von sich.
»Kreacher hat den jungen Herrn nicht gesehen«, sagte er, drehte
sich um und verbeugte sich vor Fred. Das Gesicht noch zum Teppich
gewandt, fügte er deutlich vernehmbar hinzu: »Niederträchtiger
kleiner Balg von einem Blutsverräter, der er ist.«
»Wie bitte?«, sagte George. »Den letzten Teil hab ich nicht
mitgekriegt.«
»Kreacher hat nichts gesagt«, erwiderte der Elf mit einer zweiten
Verbeugung vor George und fügte halblaut, aber deutlich hinzu: »…
und da ist sein Zwillingsbruder, widernatürliche kleine Biester
allesamt.«
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Harry wusste nicht, ob er lachen sollte. Der Elf richtete sich auf,
beäugte sie alle feindselig und murmelte weiter, offenbar überzeugt,
dass sie ihn nicht hören konnten.
»… und da ist die Schlammblüterin, rotzfrech steht sie da, oh,
wenn meine Herrin wüsste, oh, wie sie weinen würde, und da ist ein
neuer Bursche, Kreacher kennt seinen Namen nicht. Was tut er hier?
Kreacher weiß es nicht …«
»Das ist Harry. Kreacher«, sagte Hermine behutsam. »Harry
Potter.«
Kreachers blasse Augen weiteten sich und sein Murmeln wurde
noch schneller und aufgeregter.
»Das Schlammblut spricht zu Kreacher, als ob sie mit mir
befreundet wäre; wenn Kreachers Herrin ihn in solcher Gesellschaft
sähe, oh, was würde sie sagen …«
»Nenn sie nicht Schlammblut!«, sagten Ron und Ginny
gleichzeitig und sehr zornig.
»Ist ja schon gut«, flüsterte Hermine, »er ist nicht bei Verstand, er
weiß nicht, was er …«
»Lüg dir nicht in die Tasche, Hermine, er weiß genau, was er
redet«, entgegnete Fred und musterte Kreacher mit großer Abneigung.
Die Augen auf Harry geheftet, murmelte Kreacher weiter.
»Ist das wahr? Ist es Harry Potter? Kreacher kann die Narbe sehen,
es muss wahr sein, das ist der Junge, der den Dunklen Lord aufhielt,
Kreacher fragt sich, wie er das geschafft hat …«
»Das fragen wir uns alle. Kreacher«, bemerkte Fred.
»Was willst du eigentlich?«, fragte George.
Kreachers riesige Augen zuckten zu George hinüber.
»Kreacher putzt gerade«, sagte er ausweichend.
»Wer's glaubt«, ertönte eine Stimme hinter Harry.
Sirius war zurück; von der Tür her funkelte er den Elfen an. Der
Lärm in der Halle war abgeflaut; vielleicht hatten Mrs. Weasley und
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Mundungus ihren Streit hinunter in die Küche verlegt. Beim Anblick
von Sirius machte Kreacher eine lächerlich tiefe Verbeugung und
drückte seine Schnauzennase auf dem Boden platt.
»Steh aufrecht«, fuhr ihn Sirius unwirsch an. »Nun, was führst du
im Schilde?«
»Kreacher putzt gerade«, wiederholte der Elf. »Kreacher lebt
einzig, um dem fürnehmen Haus der Blacks zu dienen …«
»Und das wird jeden Tag schwärzer, es ist dreckig«, sagte Sirius.
»Der Herr beliebte immer schon gern zu scherzen«, sagte
Kreacher, verbeugte sich erneut und fuhr halblaut fort: »Der Herr war
ein gemeines, undankbares Schwein, das Herz seiner Mutter hat er
gebrochen …«
»Meine Mutter hatte kein Herz, Kreacher«, fauchte Sirius. »Sie hat
sich aus purer Bosheit am Leben erhalten.«
Kreacher verbeugte sich erneut, während er sprach.
»Was immer der Herr sagt«, murmelte er aufgeregt. »Der Herr ist
nicht würdig, den Schlamm von den Stiefeln seiner Mutter zu
wischen, o meine arme Herrin, was würde sie sagen, wenn sie sähe,
dass Kreacher ihm dient, wie sie ihn hasste, welche Enttäuschung er
war …«
»Ich hab dich gefragt, was du im Schilde führst«, sagte Sirius kühl.
»Jedes Mal wenn du auftauchst und so tust, als würdest du putzen,
schmuggelst du irgendwas in dein Zimmer, damit wir es nicht
wegwerfen können.«
»Kreacher würde niemals etwas von seinem angestammten Platz
im Hause seines Herrn entfernen«, sagte der Elf und fügte hastig
murmelnd hinzu: »Die Herrin würde Kreacher nie vergeben, wenn der
Wandteppich rausgeworfen würde, seit sieben Jahrhunderten ist er im
Besitz der Familie, Kreacher muss ihn retten, Kreacher wird nicht
zulassen, dass der Herr und die Blutsverräter und die Bälger ihn
zerstören …«
»Hab ich's mir doch gedacht«, sagte Sirius und warf einen
verächtlichen Blick auf die Wand gegenüber. »Dem wird sie auch
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einen Dauerklebefluch auf den Rücken gehext haben, da hab ich
keinen Zweifel, aber wenn ich den loswerden kann, wird mich nichts
davon abhalten. Und nun geh, Kreacher.«
Kreacher wagte es anscheinend nicht, einen direkten Befehl zu
verweigern; doch der Blick, mit dem er Sirius bedachte, als er an ihm
vorbei hinausschlurfte, war voll tiefster Verachtung, und den ganzen
Weg hinaus murmelte er vor sich hin.
»… kommt aus Askaban zurück und kommandiert Kreacher
herum, o meine arme Herrin, was würde sie sagen, wenn sie das Haus
jetzt sähe, Abschaum lebt nun hier, ihre Schätze sind hinausgeworfen,
sie hat geschworen, dass er kein Sohn von ihr war, und er ist zurück,
es heißt, er sei auch ein Mörder …«
»Nur weiter so, dann werd ich tatsächlich noch zum Mörder!«,
sagte Sirius gereizt und schlug die Tür hinter dem Elfen zu.
»Sirius, er ist nicht bei Verstand«, flehte Hermine, »ich glaube
nicht, dass ihm klar ist, dass wir ihn hören können.«
»Er war zu lange allein«, sagte Sirius, »hat verrückte Befehle vom
Porträt meiner Mutter bekommen und mit sich selbst geredet, aber er
war immer schon ein mieser kleiner …«
»Du könntest ihm doch einfach die Freiheit geben«, sagte Hermine
hoffnungsvoll, »vielleicht …«
»Wir können ihn nicht in die Freiheit entlassen, er weiß zu viel
über den Orden«, sagte Sirius kurz angebunden. »Und außerdem
würde ihn der Schock umbringen. Schlag ihm doch mal vor, dieses
Haus zu verlassen, und sieh dir an, wie er das aufnimmt.«
Sirius ging auf die andere Seite des Salons, wo der kostbare
Teppich, den Kreacher hatte retten wollen, die ganze Wand bedeckte.
Harry und die anderen folgten ihm.
Der Wandteppich machte einen uralten Eindruck; er war
verblichen und es schien, als hätten ihn an manchen Stellen Doxys
angenagt. Dennoch schimmerte das goldene Garn, mit dem er bestickt
war, immer noch hell genug, dass man einen stark verzweigten
Familienstammbaum erkennen konnte, der (soweit Harry sagen
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konnte) bis ins Mittelalter zurückreichte. Große Buchstaben ganz oben
auf dem Teppich ergaben die Worte:
Das fürnehme und gar alte Haus der Blacks »Toujours pur«
»Du bist hier gar nicht drauf!«, sagte Harry, nachdem er sich die
letzten Verzweigungen des Baums genau angesehen hatte.
»Ich war mal drauf«, sagte Sirius und deutete auf ein kleines
rundes, verkohltes Loch im Wandbehang, das aussah wie das
Brandloch einer Zigarette. »Meine liebe alte Mutter hat mich
weggesprengt, nachdem ich von zu Hause fortgelaufen war –
Kreacher brabbelt die Geschichte immer gern vor sich hin.«
»Du bist von zu Hause weggelaufen?«
»Da war ich ungefähr sechzehn«, sagte Sirius. »Ich hatte genug.«
»Wo bist du hin?«, fragte Harry und starrte ihn an.
»Zu deinem Dad«, sagte Sirius. »Deine Großeltern haben sich
wirklich gut verhalten; sie haben mich gleichsam als zweiten Sohn
adoptiert. Ja, ich kam in den Schulferien bei deinem Dad unter, und
als ich siebzehn war, besorgte ich mir was Eigenes. Mein Onkel
Alphard hatte mir ein tüchtiges Sümmchen Gold hinterlassen – der
wurde hier auch ausradiert, vermutlich aus diesem Grund –, von da an
jedenfalls konnte ich für mich selber sorgen. Doch bei Mr. und Mrs.
Potter war ich zum Sonntagsessen immer willkommen.«
»Aber … warum bist du …«
»Gegangen?« Sirius lächelte bitter und fuhr sich mit den Fingern
durch die langen, zerzausten Haare. »Weil ich diese ganze Bagage
gehasst hab: meine Eltern mit ihrem Wahn vom reinen Blut, sie waren
überzeugt, ein Black zu sein hieße praktisch, königlich zu sein …
meinen idiotischen Bruder, unbedarft genug, ihnen zu glauben … das
ist er.«
Sirius stupste mit dem Finger ganz unten auf den Stammbaum, auf
den Namen »Regulus Black«. Ein Todesdatum (etwa fünfzehn Jahre
zurückliegend) folgte dem Geburtsdatum.
»Er war jünger als ich«, sagte Sirius, »und ein viel besserer Sohn,
woran ich ständig erinnert wurde.«
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»Aber er ist tot«, sagte Harry.
»Ja«, sagte Sirius. »Blöder Idiot … er hat sich den Todessern
angeschlossen.«
»Das meinst du nicht im Ernst!«
»Ach, Harry, hast du noch nicht genug von diesem Haus gesehen,
um zu wissen, zu welcher Art von Zauberern meine Familie
gehörte?«, sagte Sirius gereizt.
»Waren – waren deine Eltern auch Todesser?«
»Nein, nein, aber glaub mir, sie dachten, Voldemort hätte die
richtigen Vorstellungen, sie waren alle für die Säuberung der
Zaubererrasse, die Muggelstämmigen sollte man loswerden und die
Reinblütigen sollten das Sagen haben. Damit standen sie nicht allein;
bevor Voldemort sein wahres Gesicht zeigte, gab es eine ganze Menge
Leute, die glaubten, er hätte die richtigen Vorstellungen, wo es
langgehen sollte … sie kriegten allerdings kalte Füße, als sie sahen,
was er zu tun bereit war, um Macht zu gewinnen. Aber ich wette,
meine Eltern dachten anfangs, als Regulus sich denen anschloss, er sei
ein richtiger kleiner Held.«
»Hat ein Auror ihn getötet?«, fragte Harry vorsichtig.
»O nein«, sagte Sirius. »Nein, er wurde von Voldemort ermordet.
Oder eher auf Voldemorts Befehl hin: ich bezweifle, dass Regulus
jemals wichtig genug war, um von Voldemort persönlich umgebracht
zu werden. Soviel ich nach seinem Tod herausgefunden habe, hat er
bis zu einem gewissen Punkt mitgemacht, dann bekam er Panik
angesichts dessen, was von ihm verlangt wurde, und versuchte wieder
rauszukommen. Aber man reicht bei Voldemort nicht einfach seinen
Rücktritt ein. Dienen, ein Lehen lang, oder Tod.«
»Mittagessen«, ertönte Mrs. Weasleys Stimme.
Sie hielt den Zauberstab vor sich in die Höhe und balancierte auf
der Spitze eine riesige, mit Sandwiches und Kuchen beladene Platte.
Sie war ganz rot im Gesicht und sah immer noch wütend ans.
Hungrig, wie sie waren, gingen die anderen zu ihr hinüber, doch Harry
blieb bei Sirius, der sich näher zu dem Wandteppich beugte.
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»Ich hab mir das seit Jahren nicht mehr angesehen. Das ist Phineas
Nigellus … mein Ururgroßvater, siehst du? … Der unbeliebteste
Schulleiter, den Hogwarts je hatte … und Araminta Meliflua …
Cousine meiner Mutter … hat einen Ministeriumserlass durchzusetzen
versucht, der die Muggeljagd legalisieren sollte … und die liebe Tante
Elladora … sie hat die Familientradition begründet, Hauselfen zu
köpfen, wenn sie zu alt wurden, um Teetabletts zu tragen … natürlich,
jedes Mal wenn die Familie jemand halbwegs Anständigen
hervorbrachte, wurde er oder sie verstoßen. Wie ich sehe, ist Tonks
nicht hier drauf. Vielleicht nimmt Kreacher deshalb keine Befehle von
ihr entgegen – er sollte eigentlich alles tun, was ein Mitglied der
Familie von ihm verlangt …«
»Du und Tonks, ihr seid verwandt?«, fragte Harry überrascht.
»Oh, ja, ihre Mutter Andromeda war meine Lieblingscousine«,
sagte Sirius und musterte den Wandbehang mit prüfendem Blick.
»Nein, Andromeda ist auch nicht drauf, sieh …«
Er deutete auf ein weiteres kleines rundes Brandloch zwischen
zwei Namen, Bellatrix und Narzissa.
»Andromedas Schwestern sind noch da, weil sie wunderbare,
respektable Reinblutehen eingegangen sind, aber Andromeda hat
einen Muggelstämmigen geheiratet, Ted Tonks, also …«
Sirius machte eine Geste, als würde er den Teppich mit dem
Zauberstab in die Luft jagen, und lachte säuerlich. Harry allerdings
lachte nicht; er starrte gebannt auf die Namen rechts von Andromedas
Brandloch. Eine gestickte goldene Doppellinie verband Narzissa
Black mit Lucius Malfoy und eine einfache senkrechte Linie führte
von ihren Namen zu dem Namen Draco.
»Du bist mit den Malfoys verwandt!«
»Die reinblü tigen Familien sind alle miteinander verwandt!«, sagte
Sirius. »Wenn du deine Söhne und Töchter nur Reinblüter heiraten
lässt, ist die Auswahl sehr beschränkt; es gibt kaum noch welche von
uns. Molly ist eine angeheiratete Cousine von mir und Arthur ist so
was wie mein Onkel zweiten Grades. Aber es hat keinen Sinn, hier
nach ihnen zu suchen – wenn es je eine Bande von Blutsverrätern gab,
dann waren es die Weasleys.«
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Doch Harry blickte jetzt auf den Namen links von Andromedas
Brandloch: Bellatrix Black, durch eine Doppellinie verbunden mit
Rodolphus Lestrange.
»Lestrange …«, sagte Harry laut. Der Name rührte an etwas in
seinem Gedächtnis; er kannte ihn von irgendwoher, doch momentan
konnte er nicht sagen, woher, obwohl ihn bei dem Namen ein
eigenartiges, kribbelndes Gefühl in seiner Magengrube beschlich.
»Sie sitzen in Askaban«, sagte Sirius schroff.
Harry blickte ihn neugierig an.
»Bellatrix und ihr Mann Rodolphus kamen zusammen mit Barty
Crouch junior rein«, sagte Sirius mit unvermindert schroffer Stimme.
»Rodolphus' Bruder Rabastan war auch dabei.«
Jetzt erinnerte sich Harry. Er hatte Bellatrix Lestrange in
Dumbledores Denkarium gesehen, der seltsamen Apparatur, in der
Gedanken und Erinnerungen gespeichert werden konnten: eine große
schwarzhaarige Frau mit schweren Augenlidern, die vor Gericht
gestanden und ihre unverbrüchliche Treue zu Lord Voldemort
verkündet hatte, ihren Stolz, dass sie ihn nach seinem Sturz zu finden
versucht hatte, und ihre Überzeugung, dass sie eines Tages für ihre
Treue belohnt werden würde.
»Du hast nie gesagt, dass sie deine …«
»Spielt es eine Rolle, dass sie meine Cousine ist?«, fragte Sirius
knapp. »Für mich ist das nicht meine Familie. Sie jedenfalls gehört
bestimmt nicht dazu. Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich so alt
war wie du, nur einmal, als sie nach Askaban kam, habe ich einen
kurzen Blick auf sie geworfen. Glaubst du, ich bin stolz auf eine
solche Verwandte?«
»Tut mir Leid«, sagte Harry rasch, »ich hab's nicht so gemeint –
ich war nur überrascht, das ist alles …«
»Schon gut, du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, murmelte
Sirius. Die Hände tief in den Taschen, wandte er sich von dem
Wandteppich ab. »Mir behagt es nicht, wieder hier zu sein«, sagte er
und starrte in den Salon. »Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal
in diesem Haus festsitzen würde.«
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Harry verstand ihn nur zu gut. Er wusste, wie er sich fühlen würde,
wenn er erwachsen wäre und glaubte, dem Ligusterweg Nummer vier
für immer entronnen zu sein, und dann zurückkehren und dort wieder
leben müsste.
»Als Hauptquartier ist es natürlich ideal«, sagte Sirius. »Mein
Vater hat, als er hier lebte, jede Sicherheitsvorkehrung ins Haus
eingebaut, die die Zaubererwelt kennt. Es ist unaufspürbar, also
können die Muggel nie mal eben vorbeischauen – als ob sie das je
wollten – und jetzt, da Dumbledore noch seinen Schutz hinzugefügt
hat, könntest du schwerlich irgendwo ein Haus finden, das sicherer ist.
Dumbledore ist der Geheimniswahrer des Ordens, weißt du – keiner
kann das Hauptquartier finden, außer er erfährt von Dumbledore
persönlich, wo es ist – diese Notiz, die Moody dir gestern Abend
gezeigt hat, die war von Dumbledore …« Sirius lachte kurz und
bellend auf. »Wenn meine Eltern sehen könnten, welchem Zweck das
Haus jetzt dient … nun, das Porträt meiner Mutter wird dir eine
ungefähre Vorstellung geben …«
Er blickte einen Moment lang finster vor sich hin, dann seufzte er.
»Ich hätte nichts dagegen, einfach mal rauszukommen und was
Nützliches zu tun. Ich hab Dumbledore gefragt, ob ich dich zu deiner
Anhörung begleiten kann – als Schnuffel natürlich –, dann könnte ich
dich ein wenig moralisch unterstützen, was hältst du davon?«
Harry hatte das Gefühl, als wäre sein Magen durch den staubigen
Teppich gesackt. Seit dem gestrigen Abendessen hatte er nicht mehr
an die Anhörung gedacht; vor Aufregung, wieder mit den Menschen
zusammen zu sein, die er am liebsten mochte, und alles, was vorging,
zu erfahren, hatte er diese Geschichte vollkommen vergessen. Bei
Sirius' Worten jedoch überfiel ihn wieder das drückende Gefühl der
Angst.
Er starrte Hermine und die Weasleys an, die mit Gusto ihre
Sandwiches verschlangen, und überlegte, wie ihm zumute wäre, wenn
sie ohne ihn nach Hogwarts zurückkehrten.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Sirius. Harry sah auf und merkte,
dass Sirius ihn beobachtet hatte. »Ich bin mir sicher, sie sprechen dich
frei, da steht tatsächlich was im Internationalen
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Geheimhaltungsabkommen, wonach Zaubern erlaubt ist, wenn es
darum geht, das eigene Leben zu retten.«
»Aber wenn sie mich trotzdem rauswerfen«, sagte Harry leise,
»kann ich dann hierher zurückkommen und bei dir leben?«
Sirius lächelte traurig.
»Wir werden sehen.«
»Diese Anhörung würde mir viel leichter fallen, wenn ich wüsste,
dass ich nicht zu den Dursleys zurückmüsste«, drängte Harry.
»Die müssen ja richtig übel sein, wenn du lieber in diesem Haus
wohnen würdest«, sagte Sirius düster.
»Beeilt euch, ihr beiden, sonst ist das Essen alle«, rief Mrs.
Weasley.
Sirius seufzte noch einmal schwer und warf einen finsteren Blick
auf den Wandteppich, dann ging er mit Harry hinüber zu den anderen.
Am Nachmittag, als sie die Vitrinen leer räumten, bemühte sich
Harry nach Kräften, nicht an die Anhörung zu denken.
Glücklicherweise verlangte diese Arbeit viel Konzentration. da etliche
der in den Schränken aufbewahrten Gegenstände ihre verstaubten
Fächer offenbar überhaupt nicht gern verließen. Sirius zog sich einen
üblen Biss von einer silbernen Schnupftabaksdose zu; Sekunden
später bildete sich auf der Haut seiner gebissenen Hand eine
unansehnliche Kruste, ähnlich einem ledrigen braunen Handschuh.
»Schon okay«, sagte er und musterte interessiert seine Hand, bevor
er sachte mit seinem Zauberstab darauf klopfte und die Haut wieder
normal werden ließ, »da muss Warzhautpulver drin sein.«
Er warf die Dose in den Sack für den Müll aus den Schränken;
Harry sah, wie George Sekunden später seine Hand sorgfältig mit
einem Tuch umwickelte, sich die Dose schnappte und sie in seiner
schon mit Doxys gefüllten Tasche verschwinden ließ.
Sie fanden ein fies aussehendes silbernes Instrument, etwas wie
eine vielgliedrige Pinzette, die, als Harry sie in die Hand nahm, wie
eine Spinne an seinem Arm emporkrabbelte und versuchte, seine Haut
zu durchstechen. Sirius packte sie und zerquetschte sie mit einem
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schweren Buch namens Noblesse der Natur: Eine Genealogie der
Zauberei. Außerdem gab es eine Spieldose, die, wenn man sie
aufgezogen hatte, eine leicht unheimliche, klingelnde Melodie hören
ließ, bei der sie alle spürten, dass sie merkwürdig schwach und
schläfrig wurden, bis Ginny sich ein Herz fasste und den Deckel
zuschlug; ein schweres Medaillon, das keiner von ihnen öffnen
konnte; eine Reihe alter Siegelstempel; schließlich, in einem
verstaubten Karton, einen Merlinorden erster Klasse, verliehen an
Sirius' Großvater für »Verdienste um das Ministerium«.
»Soll heißen, er hat ihnen eine Menge Gold zukommen lassen«,
sagte Sirius verächtlich und warf die Medaille in den Müllsack.
Mehrmals schlich sich Kreacher herein und wollte unter seinem
Lendenschurz Gegenstände davonschmuggeln, und jedes Mal wenn
sie ihn ertappten, murmelte er schreckliche Flüche. Als Sirius einen
großen Goldring mit dem Wappen der Blacks seinem Griff entwand,
brach Kreacher regelrecht in Zornestränen aus, und während er
unterdrückt schluchzend hinausging, bedachte er Sirius mit
Schimpfwörtern, die Harry noch nie zu Ohren gekommen waren.
»Der gehörte meinem Vater«, sagte Sirius und warf den Ring in
den Sack. »Kreacher war ihm nicht ganz so treu ergeben wie meiner
Mutter, und trotzdem hab ich ihn letzte Woche erwischt, wie er ein
Paar alte Hosen meines Vaters knutschte.«
Während der nächsten Tage hielt Mrs. Weasley sie eisern auf Trab.
Es dauerte drei Tage, bis der Salon entgiftet war. Schließlich waren
die einzigen noch unerwünschten Dinge im Raum der Wandteppich
mit dem Stammbaum der Blacks, der allen Versuchen widerstand, ihn
von der Wand zu entfernen, und das ruckelnde Schreibpult. Moody
hatte noch nicht im Hauptquartier vorbeigesehen, deshalb waren sie
nicht sicher, was drinsteckte.
Vom Salon aus zogen sie weiter in einen Speisesaal im
Erdgeschoss, wo sie in der Anrichte untertassengroße Spinnen auf der
Lauer fanden. (Ron verließ eilends die Stätte, um sich eine Tasse Tee
zu machen, und kehrte erst nach anderthalb Stunden zurück.) Sirius
warf sämtliches Porzellan, das mit dem Wappen der Blacks und ihrem
Wahlspruch versehen war, unfeierlich in einen Sack, und dasselbe
Schicksal traf eine Reihe alter Fotografien in angelaufenen
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Silberrahmen, deren Bewohner schrill kreischten, als ihr Deckglas zu
Bruch ging.
Snape mochte ihre Arbeit als »Putzen« bezeichnen, doch Harry
fand, sie führten eigentlich Krieg gegen das Haus, das ihnen,
unterstützt und aufgehetzt von Kreacher, einen sehr hartnäckigen
Kampf lieferte. Der Hauself tauchte stets auf, wo immer sie sich
versammelt hatten, und sein Murmeln wurde von Mal zu Mal
angriffslustiger, während er alles, dessen er habhaft werden konnte,
wieder aus den Müllsäcken herauszuklauben versuchte. Sirius ging so
weit, ihm mit Kleidung zu drohen, aber Kreacher starrte ihn mit
wässrigen Augen an und sagte: »Der Herr muss tun, was ihm beliebt«,
dann wandte er sich um und murmelte sehr laut: »Aber der Herr wird
Kreacher nicht fortschicken, nein, weil Kreacher weiß, was sie
vorhaben, o ja, er verschwört sich gegen den Dunklen Lord, ja, mit
diesen Schlammblütern und Verrätern und dem Abschaum …«
Bei diesen Worten packte Sirius, ohne auf Hermines Proteste zu
achten, Kreacher hinten am Lendenschurz und warf ihn eigenhändig
aus dem Zimmer.
Die Türglocke läutete mehrmals täglich, für Sirius' Mutter der
Einsatz für neuerliches Gekreische, für Harry und die anderen die
Möglichkeit, die Besucher zu belauschen. Allerdings konnten sie den
kurzen Blicken und Gesprächsfetzen, die sie erhaschten, nur sehr
wenig entnehmen, ehe Mrs. Weasley sie auch schon wieder an ihre
Aufgaben zurückbeorderte. Snape huschte noch mehrmals ein und
aus, doch zu Harrys Erleichterung liefen sie sich nie über den Weg;
einmal erblickte Harry auch seine Lehrerin für Verwandlung,
Professor McGonagall, die in einem Muggelkleid und -mantel sehr
komisch aussah, und auch sie schien zu beschäftigt, um sich lange
aufzuhalten. Manchmal jedoch blieben die Besucher zum Helfen.
Tonks sprang ihnen einen denkwürdigen Nachmittag lang bei, an dem
sie einen mörderischen alten Ghul fanden, der in einer Toilette im
oberen Stockwerk lauerte, und Lupin, der wie Sirius im Haus wohnte,
es jedoch immer wieder für längere Zeit verließ, um geheime Aufträge
für den Orden zu erledigen, half ihnen, eine Standuhr zu reparieren,
welche die unangenehme Gewohnheit angenommen hatte, schwere
Schrauben auf Vorbeigehende zu schießen. Mundungus stieg wieder
ein wenig in Mrs. Weasleys Achtung, indem er Ron aus einer
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Kollektion alter purpurner Umhänge befreite, die versucht hatten ihn
zu erwürgen, als er sie aus ihrem Schrank holte.
Obwohl er immer noch schlecht schlief, immer noch von
Korridoren und verschlossenen Türen träumte und seine Narbe ziepte,
hatte Harry zum ersten Mal im ganzen Sommer Spaß. Solange er
beschäftigt war, war er glücklich; wenn die Betriebsamkeit jedoch
nachließ, wenn er nicht mehr auf der Hut war oder erschöpft im Bett
lag und verschwommene Schatten über die Decke kriechen sah, kehrte
der Gedanke an die drohende Anhörung im Ministerium zurück.
Angst stach ihm wie Nadeln in die Eingeweide, wenn er sich fragte,
was aus ihm werden sollte, falls sie ihn der Schule verwiesen. Die
Vorstellung war so schrecklich, dass er sie nicht laut auszusprechen
wagte, nicht einmal Ron und Hermine gegenüber, die er zwar häufig
tuscheln und besorgte Blicke in seine Richtung werfen sah, die seinem
Beispiel aber folgten und die Sache nicht erwähnten. Manchmal
konnte er es nicht verhindern, dass in seiner Phantasie ein
gesichtsloser Ministeriumsbeamter auftauchte, der seinen Zauberstab
entzweibrach und ihn zu den Dursleys zurückbefahl … aber dorthin
würde er nicht gehen, Das hatte er beschlossen. Er würde hierher
zurückkehren, zum Grimmauldplatz, und bei Sirius leben.
Er hatte das Gefühl, ein Backstein würde ihm in den Magen fallen,
als sich Mrs. Weasley am Mittwoch während des Abendessens zu ihm
wandte und leise sagte: »Für morgen früh hab ich dir deine besten
Sachen gebügelt, Harry, und ich möchte, dass du dir heute Abend
auch die Haare wäschst. Ein guter erster Eindruck kann Wunder
bewirken.«
Ron, Hermine, Fred, George und Ginny verstummten allesamt und
blickten zu ihm hinüber. Harry nickte und versuchte sein Kotelett
weiterzuessen, aber sein Mund war so trocken geworden, dass er nicht
kauen konnte.
»Wie komme ich dorthin?«, fragte er Mrs. Weasley, bemüht,
sorglos zu klingen.
»Arthur nimmt dich mit zur Arbeit«, antwortete Mrs. Weasley
sanft.
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Mr. Weasley lächelte Harry aufmunternd über den Tisch hinweg
zu.
»Du kannst in meinem Büro warten, bis es Zeit für die Anhörung
ist«, sagte er.
Harry blickte zu Sirius hinüber, doch bevor er die Frage stellen
konnte, hatte Mrs. Weasley sie schon beantwortet.
»Professor Dumbledore hält es für keine gute Idee, dass Sirius dich
begleitet, und ich muss sagen, ich …«
»… denke, dass er völlig Recht hat«, presste Sirius zwischen den
Zähnen hervor.
Mrs. Weasley schürzte die Lippen.
»Wann hat Dumbledore euch das gesagt?«, fragte Harry und starrte
Sirius an.
»Er kam letzte Nacht, als ihr im Bett wart«, sagte Mrs. Weasley.
Sirius stocherte mit der Gabel missgelaunt in einer Kartoffel. Harry
senkte den Blick auf seinen Telle r. Der Gedanke, dass Dumbledore
unmittelbar vor seiner Anhörung im Haus gewesen war und ihn nicht
zu sehen verlangt hatte, ließ seine Laune, sofern das möglich war,
noch weiter sinken.
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Das Zaubereiministerium
Harry erwachte am nächsten Morgen um halb sechs so jäh und
endgültig, als hätte ihm jemand ins Ohr geschrien. Eine Weile lag er
reglos da, während der Gedanke an die disziplinarische Anhörung in
jede winzige Verästelung seines Gehirns vordrang, bis es ihm
unerträglich wurde und er aus dem Bett sprang und die Brille
aufsetzte. Mrs. Weasley hatte seine frisch gewaschene Jeans und ein
T-Shirt am Fußende des Bettes ausgebreitet und Harry schlüpfte
hastig hinein. Das leere Bild an der Wand kicherte.
Ron lag mit weit geöffnetem Mund und alle viere von sich
gestreckt auf dem Rücken und schlief selig. Er rührte sich nicht, als
Harry das Zimmer durchquerte, auf den Treppenabsatz hinaustrat und
die Tür sachte hinter sich schloss. Harry versuchte nicht daran zu
denken, dass sie womöglich nicht mehr Klassenkameraden in
Hogwarts waren, wenn er Ron das nächste Mal sah, und stieg leise an
den Köpfen von Kreachers Vorfahren vorbei die Treppe hinab und
dann weiter hinunter zur Küche.
Er hatte nicht erwartet, jemanden vorzufinden, doch als er die Tür
erreichte, hörte er le ises Stimmengemurmel aus der Küche dringen. Er
schob die Tür auf und sah Mr. und Mrs. Weasley, Sirius, Lupin und
Tonks dasitzen, fast als würden sie auf ihn warten. Alle waren schon
angezogen, nur Mrs. Weasley trug einen lila Steppmorgenrock. Kaum
dass Harry eingetreten war, sprang sie auf.
»Frühstück«, sagte sie, zückte ihren Zauberstab und eilte hinüber
zum Feuer.
»M-M-Morgen, Harry«, gähnte Tonks. Heute Morgen hatte sie
blonde Locken. »Gut geschlafen?«
»Ja«, sagte Harry.
»Ich b-b-bin die ganze Nacht auf gewesen«, sagte sie, gähnte
erneut und erschauderte. »Komm und setz dich …«
Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und warf dabei einen
benachbarten um.
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»Was möchtest du, Harry?«, rief Mrs. Weasley. »Haferbrei?
Muffins? Räucherheringe? Speck und Eier? Toast?«
»Nur – nur Toast, danke«, sagte Harry.
Lupin warf Harry einen Blick zu, dann wandte er sich an Tonks:
»Was wolltest du eben über Scrimgeour sagen?«
»Oh … jaah. nun, wir müssen ein wenig vorsichtiger sein, er stellt
mir und Kingsley dauernd so komische Fragen …«
Harry war irgendwie dankbar, dass er sich nicht am Gespräch
beteiligen musste. Seine Eingeweide krümmten sich. Mrs. Weasley
stellte ihm ein paar Scheiben Toast und Marmelade hin und er
versuchte etwas zu essen, doch ihm war, als würde er an einem Stück
Teppich kauen. Mrs. Weasley setzte sich neben ihn und zupfte an
seinem T-Shirt herum, steckte das Etikett rein und glättete die Falten
auf den Schultern. Er hätte lieber seine Ruhe gehabt.
»… und ich muss Dumbledore mitteilen, dass ich morgen keine
Nachtschicht machen kann, ich bin einfach z-z-zu müde«, schloss
Tonks und gähnte abermals herzhaft.
»Ich spring für dich ein«, sagte Mr. Weasley. »Kein Problem für
mich, ich muss ohnehin noch einen Bericht abschließen …«
Mr. Weasley trug keinen Zaubererumhang, sondern
Nadelstreifenhosen und eine alte Bomberjacke. Er wandte sich von
Tonks zu Harry.
»Wie geht's dir?«
Harry zuckte die Achseln.
»Bald ist das alles vorbei«, sagte Mr. Weasley aufmunternd. »In
ein paar Stunden bist du freigesprochen.«
Harry schwieg.
»Die Anhörung ist auf meinem Stockwerk, im Büro von Amelia
Bones. Sie ist Leiterin der Abteilung für Magische Strafverfolgung
und sie wird dich auch vernehmen.«
»Amelia Bones ist in Ordnung, Harry«, sagte Tonks ernst. »Sie ist
fair, sie wird dich anhören.«
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Harry wusste immer noch nicht, was er sagen sollte, und nickte.
»Fahr nur nicht aus der Haut«, warf Sirius unvermittelt ein. »Bleib
höflich und halte dich an die Tatsachen.«
Harry nickte erneut.
»Das Gesetz ist auf deiner Seite«, sagte Lupin leise. »Sogar
minderjährige Zauberer dürfen in lebensbedrohlichen Situationen
Magie einsetzen.«
Etwas sehr Kaltes tröpfelte Harry den Rücken hinunter; einen
Moment lang glaubte er, jemand würde ihn mit einem
Desillusionierungszauber belegen, dann merkte er, dass Mrs. Weasley
sich mit einem nassen Kamm über seine Haare hergemacht hatte. Sie
drückte ihm fest auf den Kopf.
»Bleiben die denn nie liegen?«, sagte sie verzweifelt.
Harry schüttelte den Kopf.
Mr. Weasley warf einen Blick auf die Uhr und sah Harry an.
»Ich meine, wir sollten jetzt gehen«, sagte er. »Wir sind ein
bisschen früh dran, aber du wartest wohl besser im Ministerium als
hier rumzuhängen.«
»Okay«, entgegnete Harry mechanisch, legte seinen Toast weg und
stand auf.
»Wird schon gut gehen, Harry«, sagte Tonks und tätschelte ihm
den Arm.
»Viel Glück«, sagte Lupin. »Es wird alles bestens laufen, da bin
ich sicher.«
»Und wenn nicht«, sagte Sirius, »werd ich mich mal in deinem
Namen um diese Amelia Bones kümmern …«
Harry lächelte matt. Mrs. Weasley umarmte ihn.
»Wir drücken dir alle die Daumen«, sagte sie.
»Gut«, erwiderte Harry. »Tja … bis später dann.«
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Er folgte Mr. Weasley nach oben und durch die Halle. Er konnte
Sirius' Mutter hinter den Vorhängen im Schlaf murren hören. Mr.
Weasley entriegelte die Tür und sie traten hinaus in die kalte, graue
Morgendämmerung.
»Sie gehen sonst nicht zu Fuß zur Arbeit, oder?«, fragte Harry,
während sie sich zügig auf den Weg um den Platz machten.
»Nein, normalerweise appariere ich«, sagte Mr. Weasley, »aber du
kannst das natürlich nicht, und ich halte es für das Beste, wenn wir auf
vollkommen unmagische Weise ankommen … macht einen besseren
Eindruck, wenn man bedenkt, wofür man dich zur Rechenschaft
ziehen will …«
Mr. Weasley behielt unterwegs die Hand in der Jacke. Harry
wusste, dass sie den Zauberstab umklammert hatte. Die
heruntergekommenen Straßen waren fast ausgestorben, doch als sie
die triste kleine U-Bahn-Station erreichten, war sie bereits voll
frühmorgendlicher Pendler. Wie immer, wenn er unter Muggeln war,
die ihren täglichen Geschäften nachgingen, fiel es Mr. Weasley
schwer, seine Begeisterung zu bändigen.
»Einfach fabelhaft«, flüsterte er und deutete auf die
Fahrkartenautomaten. »Wunderbar einfallsreich.«
»Die sind außer Betrieb«, erwiderte Harry und wies auf ein Schild.
»Ja, aber trotzdem …«, sagte Mr. Weasley und strahlte entzückt
die Automaten an.
Sie kauften ihre Fahrkarten bei einem schläfrig wirkenden
Wachmann (Harry kümmerte sich um die Bezahlung, weil Mr.
Weasley nicht sonderlich gut mit Muggelgeld zurechtkam) und fünf
Minuten später stiegen sie in eine U-Bahn, die sie ratternd ins
Zentrum von London brachte. Mr. Weasley prüfte immer wieder
wachsam die Karte des U-Bahn-Netzes über den Fenstern.
»Noch vier Stationen, Harry … Jetzt noch drei … Noch zwei
Stationen, Harry …«
Sie stiegen an einer Station im Herzen Londons aus und wurden
von einer Welle anzugtragender Männer und aktentaschenbewehrter
Frauen aus dem Zug geschwemmt. Sie fuhren die Rolltreppe hoch und
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passierten die Drehkreuze (Mr. Weasley hatte seine Freude daran, wie
der Leseautomat seine Fahrkarte schluckte), und schließlich traten sie
hinaus auf eine breite Straße, die von imposanten Gebäuden gesäumt
und schon sehr belebt war.
»Wo sind wir?«, sagte Mr. Weasley ratlos und Harrys Herz setzte
einen Augenblick aus. Er dachte, sie wären trotz Mr. Weasleys
ständigen Blicken auf die Karte an der falschen Station ausgestiegen.
Doch schon fuhr er fort: »Ah, ja … hier lang, Harry«, und führte ihn
in eine Seitenstraße.
»Tut mir Leid«, sagte er, »aber ich komme sonst nie mit der Bahn
und aus der Muggelperspektive sieht alles ganz anders aus. Ehrlich
gesagt habe ich den Besuchereingang noch nie benutzt.«
Mit der Zeit wurden die Häuser kleiner und weniger imposant, und
schließlich erreichten sie eine Straße mit ein igen schäbig wirkenden
Bürobauten, einem Pub und einem überquellenden Müllcontainer.
Harry hätte sich das Zaubereiministerium in einer beeindruckenderen
Nachbarschaft vorgestellt.
»Da sind wir«, sagte Mr. Weasley strahlend und wies auf eine alte
rote Telefonzelle, die vor einer mit Graffiti bedeckten Mauer stand
und der einige Scheiben fehlten. »Nach dir, Harry.«
Er öffnete die Tür der Telefonzelle.
Harry trat ein und fragte sich, was um alles in der Welt dies
eigentlich sollte. Mr. Weasley zwängte sich hinter Harry hinein und
schloss die Tür. Sie konnten sich kaum rühren. Harry stand gegen das
Telefon gedrückt, das schief an der Wand hing, als hätte ein Vandale
versucht es herunterzureißen. Mr. Weasley langte an Harry vorbei
nach dem Hörer.
»Mr. Weasley, ic h glaube, das ist auch außer Betrieb«, sagte Harry.
»Nein, nein, das geht bestimmt«, sagte Mr. Weasley, hielt sich den
Hörer über den Kopf und spähte auf die Wählscheibe. »Schaun wir
mal … sechs …« er wählte die Nummer, »zwei … vier … und noch
mal vier … und eine Drei.«
Die Wählscheibe surrte sanft zurück, und in der Telefonzelle
ertönte eine kühle Frauenstimme, nicht aus dem Hörer in Mr.
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Weasleys Hand, aber so laut und klar, als würde eine unsichtbare Frau
direkt neben ihnen stehen.
»Willkommen im Zaubereiministerium. Bitte nennen Sie Ihren
Namen und Ihr Anliegen.«
»Ähm …«, sagte Mr. Weasley, offenbar unsicher, ob er in den
Hörer sprechen sollte oder nicht. Er entschloss sich dazu, die
Sprechmuschel ans Ohr zu halten: »Arthur Weasley, Büro gegen den
Missbrauch von Muggelartefakten, ist hier als Begleitung von Harry
Potter, der aufgefordert wurde, sich zu einer disziplinarischen
Anhörung einzufinden …«
»Vielen Dank«, sagte die kühle Frauenstimme. »Besucher, bitte
nehmen Sie die Plakette und befestigen Sie sie vorne an Ihrem
Umhang.«
Es klickte und ratterte, dann sah Harry etwas aus dem
Metallschacht gleiten, aus dem normalerweise die restlichen Münzen
fielen. Er nahm es in die Hand: Es war eine quadratische
Silberplakette mit dem Aufdruck Harry Potter, disziplinarische
Anhörung. Er steckte sie an die Brust seines T-Shirts und die
Frauenstimme sprach von neuem.
»Besucher des Ministeriums, Sie werden aufgefordert, sich einer
Durchsuchung zu unterziehen und Ihren Zauberstab zur Registrierung
am Sicherheitsschalter vorzulegen, der sich am Ende des Atriums
befindet.«
Der Boden der Telefonzelle bebte. Langsam versanken sie in der
Erde. Harry sah gebannt zu. wie sich der Gehweg über die Fenster der
Telefonzelle zu erheben schien, bis am Ende völlige Dunkelheit über
ihren Köpfen hereinbrach. Jetzt war nichts mehr zu sehen, nur ein
dumpfes Knirschen war zu hören, während die Telefonzelle immer
tiefer in die Erde drang. Nach etwa einer Minute, auch wenn es Harry
viel länger vorkam, fiel ein Spalt goldenen Lichts auf seine Füße,
wurde breiter und stieg an ihm hoch, bis er sein Gesicht traf und Harry
blinzeln musste, damit seine Augen nicht tränten.
»Das Zaubereiministerium wünscht Ihnen einen angenehmen
Tag«, sagte die Frauenstimme.
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Die Tür der Telefonzelle sprang auf und Mr. Weasley trat hinaus.
Harry folgte ihm mit offenem Mund.
Sie standen am Ende einer langen und prachtvollen Halle mit
einem spiegelblank polierten dunklen Holzfußboden. In die
pfauenblaue Decke waren schimmernde goldene Symbole
eingelassen, die sich ständig bewegten und veränderten wie auf einer
riesigen himmlischen Anzeigetafel. In die mit glänzendem dunklem
Holz getäfelten Seitenwände waren viele vergoldete Kamine
eingebaut. Aus einem der Kamine an der linken Seite tauchte mit
einem leisen Wuuusch alle paar Sekunden eine Hexe oder ein
Zauberer auf. Vor den Kaminen auf der rechten Seite warteten die
Abreisenden in kurzen Schlangen.
In der Mitte der Halle stand ein Brunnen. Eine Gruppe goldener
Statuen, überlebensgroß, erhob sich inmitten eines runden
Wasserbeckens, Die größte stellte einen vornehm wirkenden Zauberer
dar, der den Zauberstab senkrecht in die Höhe reckte. Um ihn herum
gruppierten sich eine schöne Hexe, ein Zentaur, ein Kobold und ein
Hauself. Die drei Letzteren sahen mit ehrfürchtiger Miene zu der Hexe
und dem Zauberer empor. Glitzernde Wasserstrahlen schossen aus den
Spitzen ihrer Zauberstäbe und aus dem Zentaurenpfeil, aus der Spitze
des Koboldhutes und aus beiden Ohren des Hauselfen, und das helle
Zischeln der fallenden Wasserstrahlen vermengte sich mit dem
Floppen und Knallen der Apparierenden und den klackernden
Schritten Hunderter von Hexen und Zauberern, von denen die meisten
mit verdrießlichen, unausgeschlafenen Mienen auf eine Reihe
goldener Portale am anderen Ende der Halle zueilten.
»Hier lang«, sagte Mr. Weasley.
Sie schlossen sich der Menge an, bahnten sich ihren Weg zwischen
den Ministeriumsangestellten hindurch, von denen manche wacklige
Pergamentstapel trugen, andere zerbeulte Aktentaschen und wieder
andere im Gehen den Tagespropheten lasen. Als sie am Brunnen
vorbeikamen, sah Harry silberne Sickel und bronzene Knuts vom
Beckengrund zu ihm emporglitzern. Auf einem kleinen verschmierten
Schild hieß es:
ALLE EINNAHMEN AUS DEM BRUNNEN DER
MAGISCHEN GESCHWISTER GEHEN ALS SPENDE AN DAS
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ST.-MUNGO-HOSPITAL FÜR MAGISCHE KRANKHEITEN UND
VERLETZUNGEN.
Wenn sie mich nicht aus Hogwarts rausschmeißen, werf ich zehn
Galleonen rein, schoss es Harry plötzlich verzweifelt durch den Kopf.
»Hier rüber, Harry«, sagte Mr. Weasley, und sie traten heraus aus
dem Strom der Ministeriumsangestellten, die auf die goldenen Tore
zustrebten. An einem Pult zur Linken, unter einer Tafel mit der
Aufschrift Sicherheit, saß ein schlecht rasierter Zauberer in
pfauenblauem Umhang, der aufsah, als sie sich näherten, und seinen
Tagespropheten beiseite legte.
»Ich begleite einen Besucher«, sagte Mr. Weasley und wies mit der
Hand auf Harry.
»Kommen Sie her«, sagte der Zauberer gelangweilt.
Harry trat näher und der Zauberer hielt eine lange goldene Rute in
die Höhe, dünn und biegsam wie eine Autoantenne, und führte sie an
Harrys Brust und Rücken auf und ab.
»Zauberstab«, brummte der Sicherheitszauberer zu Harry, legte das
goldene Instrument beiseite und streckte die Hand aus.
Harry zog seinen Zauberstab hervor. Der Zauberer lie ß ihn auf ein
merkwürdiges Messinginstrument fallen, das an eine Waage mit nur
einer Schale erinnerte. Es fing an zu vibrieren. Ein schmaler
Pergamentstreifen schnellte aus einem Schlitz im Sockel hervor. Der
Zauberer riss ihn ab und verlas die Aufschrift.
»Elf Zoll, Kern Phönixfeder, vier Jahre in Gebrauch. Ist das
korrekt?«
»Ja«, sagte Harry nervös.
»Das hier behalte ich«, sagte der Zauberer und spießte den
Pergamentstreifen auf einen kleinen Messingdorn. »Den bekommen
Sie zurück«, fügte er hinzu und drückte Harry den Zauberstab in die
Hand.
»Danke.«
»Einen Moment noch …«, sagte der Zauberer langsam.
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Sein Blick war von der silbernen Besucherplakette auf Harrys
Brust zu seiner Stirn gehuscht.
»Danke, Eric«, sagte Mr. Weasley bestimmt, packte Harry an der
Schulter und bugsierte ihn von dem Pult weg, wieder hinein in den
Strom von Zauberern und Hexen, die durch die goldenen Portale
gingen.
Von der Menge leicht geschoben folgte Harry Mr. Weasley durch
eines der Portale in eine kleinere Halle, wo sich hinter goldenen
schmiedeeisernen Gittern mindestens zwanzig Fahrstühle befanden.
Harry und Mr. Weasley gesellten sich zu der Gruppe, die an einem der
Fahrstühle wartete. In ihrer Nähe stand ein großer bärtiger Zauberer
mit einem großen Pappkarton, aus dem krächzende Geräusche
drangen.
»Alles klar, Arthur?«, sagte der Zauberer und nickte Mr. Weasley
zu.
»Was hast du da, Bob?«, fragte Mr. Weasley und blickte auf den
Karton.
»Wir sind uns nicht sicher«, sagte der Zauberer mit ernster Miene.
»Wir dachten erst, es wäre ein ganz gewöhnliches Huhn, bis es
angefangen hat Feuer zu spucken. Sieht mir sehr nach einer schwer
wiegenden Verletzung des Verbots experimenteller Züchtung aus.«
Unter lautem Gerassel und Geklapper sank vor ihnen ein Fahrstuhl
herab; das goldene Gitter glitt beiseite und Harry und Mr. Weasley
stiegen mit der Schar der Wartenden ein. Harry wurde nach hinten an
die Wand gedrängt. Einige Hexen und Zauberer sahen ihn neugierig
an. Er starrte auf seine Füße, um ihre Blicke zu meiden, und drückte
sich dabei die Haare platt. Die Gitter schlossen sich krachend und der
Lift begann mit ratternden Ketten langsam seinen Aufstieg, während
die gleiche kühle Frauenstimme, die Harry in der Telefonzelle gehört
hatte, erneut zu sprechen anfing.
»Siebter Stock, Abteilung für Magische Spiele und Sportarten, mit
der Zentrale der Britischen und Irischen Quidditch-Liga, dem
Offiziellen Koboldstein-Klub und dem Büro für Lächerliche Patente.«
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Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Harry erhaschte einen Blick auf
einen schmuddelig wirkenden Korridor mit verschiedenen schief an
die Wände gepinnten Postern von Quidditch-Mannschaften. Einer der
Zauberer im Fahrstuhl, den Arm voller Besen, löste sich mühsam aus
dem Gedrängel und verschwand auf dem Korridor. Die Türen
schlossen sich, der Lift stieg ruckelnd weiter nach oben und die
Frauenstimme verkündete:
»Sechster Stock, Abteilung für Magisches Transportwesen, mit der
Flohnetzwerkaufsicht, dem Besenregulationskontrollamt, dem
Portschlüsselbüro und dem Appariertestzentrum.«
Wieder öffneten sich die Fahrstuhltüren und vier oder fünf Hexen
und Zauberer stiegen aus; gleichzeitig schwebten mehrere
Papierflieger herein. Harry starrte sie an. während sie lässig über
seinem Kopf umherflatterten; sie waren blassviolett und er konnte
erkennen, dass sie am Flügelrand den Stempel Zaubereiministerium
trugen.
»Das sind nur Memos, die zwischen den Abteilungen ausgetauscht
werden«, murmelte Mr. Weasley ihm zu. »Früher haben wir Eulen
eingesetzt, aber du kannst dir den Dreck nicht vorstellen … die ganzen
Schreibtische voller Mist …«
Erneut ging es klappernd aufwärts, und die Memos umflatterten die
Leuchte, die von der Decke des Fahrstuhls pendelte.
»Fünfter Stock, Abteilung für Internationale Magische
Zusammenarbeit, mit dem Internationalen Magischen
Handelsstandardausschuss, dem Internationalen Büro für Magisches
Recht und der Internationalen Zauberervereinigung, britische
Sektion.«
Als die Türen aufgingen, schossen zwei Memos hinaus, gefolgt
von einigen Hexen und Zauberern, aber noch mehr Memos flatterten
herein und umschwirrten die Lampe, so dass es über ihren Köpfen
flackerte und blitzte.
»Vierter Stock, Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer
Geschöpfe, mit der Tierwesen–, der Zauberwesen- und der
Geisterbehörde, dem Koboldverbindungsbüro und dem
Seuchenberatungsbüro.«
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»'tschuldigung«, sagte der Zauberer mit dem Feuer speienden
Huhn und verließ, gefolgt von einem kleinen Schwarm Memos, den
Fahrstuhl. Die Türen schepperten wieder zu.
»Dritter Stock, Abteilung für Magische Unfälle und Katastrophen,
mit dem Kommando für die Umkehr verunglückter Magie, der
Vergissmich-Zentrale und dem Komitee für Muggelgerechte
Entschuldigungen.«
Auf diesem Stockwerk leerte sich der Fahrstuhl, zurück blieben nur
Mr. Weasley, Harry und eine Hexe, die ein äußerst langes, auf den
Boden hängendes Pergament las. Die verbliebenen Memos
umschwirrten weiter die Lampe, während der Lift wieder nach oben
ruckelte; dann öffneten sich die Türen und die Stimme machte ihre
Ansage.
»Zweiter Stock, Abteilung für Magische Strafverfolgung, mit dem
Büro gegen den Missbrauch der Magie, der Aurorenzentrale und dem
Zaubergamot-Verwaltungsdienst.«
»Wir sind da, Harry«, sagte Mr. Weasley und sie folgten der Hexe
aus dem Lift in einen von Türen gesäumten Korridor. »Mein Büro ist
am anderen Ende des Ganges.«
»Mr. Weasley«, sagte Harry, als sie an einem Fenster
vorbeikamen, durch das Sonnenlicht flutete, »wir sind doch immer
noch unter der Erde?«
»Ja, allerdings«, sagte Mr. Weasley. »Das hier sind verzauberte
Fenster, die Zauberei-Zentralverwaltung entscheidet, was für Wetter
wir Tag für Tag bekommen. Das letzte Mal, als sie eine
Gehaltserhöhung durchsetzen wollten, hatten wir zwei Monate lang
Wirbelstürme … Hier rüber, Harry.«
Sie bogen um eine Ecke, traten durch eine schwere eichene
Flügeltür und gelangten in einen weitläufigen, unübersichtlichen
Raum, der in Bürozellen unterteilt war und vor Stimmengewirr und
Gelächter summte. Memos schossen wie Miniraketen in die Zellen
und wieder heraus. Auf einem schief hängenden Schild an der
nächstgelegenen Zelle stand: Aurorenzentrale.
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Harry lugte verstohlen durch die Türöffnungen, an denen sie
vorbeikamen. Die Auroren hatten die Wände ihrer Bürozellen mit
allem Möglichen beklebt, mit Fahndungsbildern von Zauberern und
Familienfotos der Auroren ebenso wie mit Postern ihrer
Lieblingsmannschaften im Quidditch und Artikeln aus dem
Tagespropheten. Ein Mann mit scharlachrotem Umhang und einem
noch längeren Pferdeschwanz als Bill saß da, hatte die Füße auf den
Schreibtisch gelegt und diktierte seiner Feder einen Bericht. Ein Stück
weiter unterhielt sich eine Hexe mit Augenklappe über die Trennwand
ihrer Zelle hinweg mit Kingsley Shacklebolt.
»Morgen, Weasley«, sagte Kingsley beiläufig, als sie näher traten.
»Ich wollte Sie mal kurz sprechen, haben Sie eine Sekunde Zeit?«
»Ja, wenn es wirklich nur eine Sekunde ist«, sagte Mr. Weasley.
»Ich hab's ziemlich eilig.«
Sie sprachen miteinander, als ob sie sich kaum kennen würden, und
als Harry den Mund öffnete, um Kingsley hallo zu sagen, trat ihm Mr.
Weasley auf den Fuß. Sie folgten Kingsley den Gang entlang in die
allerletzte Zelle.
Harry versetzte es einen leichten Schock; aus allen Richtungen
zwinkerte ihm Sirius' Gesicht entgegen. Zeitungsausschnitte und alte
Fotos – selbst das von Sirius als Trauzeuge bei der Hochzeit der
Potters – bedeckten die Wände. Der einzige siriusfreie Platz war eine
Weltkarte, auf der kleine rote Stecknadeln wie Juwelen glänzten.
»Hier«, sagte Kingsley abrupt und drückte Mr. Weasley ein
Pergamentbündel in die Hand. »Ich brauche möglichst viele
Informationen über fliegende Muggelfahrzeuge. die in den letzten
zwölf Monaten gesichtet wurden. Wir wurden informiert, dass Black
womöglich immer noch sein altes Motorrad benutzt.«
Kingsley zwinkerte unübersehbar zu Harry hinüber und fügte
flüsternd hinzu: »Gib ihm das Magazin, das könnte ihn interessieren.«
Dann sagte er wieder mit normaler Stimme: »Und lassen Sie sich
nicht zu lange Zeit, Weasley, dieser verspätete Beinfeuerwaffen-
Bericht hat unsere Untersuchung um einen Monat verzögert.«
»Wenn Sie meinen Bericht gelesen hätten, wüssten Sie, dass der
Begriff Handfeuerwaffen lautet«, sagte Mr. Weasley kühl. »Und ich
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fürchte, Sie müssen sich mit Informationen über Motorräder noch
gedulden; wir sind im Moment vollauf beschäftigt.« Er senkte die
Stimme und sagte: »Falls du dich vor sieben loseisen kannst, Molly
macht Fleischbällchen.«
Er winkte Harry und führte ihn aus Kingsleys Zelle, durch eine
zweite eichene Flügeltür und in einen weiteren Durchgang, wandte
sich nach links, ging wiederum einen Korridor entlang und bog nach
rechts in einen schwach beleuchteten und besonders schmuddeligen
Flur ein, der an einer Mauer endete. Links stand eine Tür offen und
gab den Blick auf einen Besenschrank frei, und an der Tür zur
Rechten hing ein stumpfes Messingschild mit der Aufschrift:
Missbrauch von Muggelartefakten.
Mr. Weasleys schäbiges Büro wirkte noch ein wenig kleiner als der
Besenschrank. Mit Müh und Not hatten zwei Schreibtische darin Platz
gefunden, und weil die Wände mit überquellenden Aktenschränken
voll gestellt waren, auf denen wacklige Ordnerstapel lagen, konnte
man sich kaum bewegen. Was an Wandfläche noch frei war, bezeugte
Mr. Weasleys Leidenschaften: mehrere Autoplakate, auch eines von
einem zerlegten Motor; zwei Zeichnungen von Briefkästen, die er
offenbar aus Kinderbüchern für Muggel ausgeschnitten hatte; und ein
Schaubild, das zeigte, wie man einen Stecker verkabelt.
In Mr. Weasleys überquellendem Eingangskorb lagen ein alter
Toaster, der einen jämmerlichen Schluckauf hatte, und ein Paar leerer
Lederhandschuhe, die Däumchen drehten.
Neben dem Eingangskorb stand ein Foto der Familie Weasley.
Harry fiel auf, dass Percy offenbar aus dem Bild gelaufen war.
»Wir haben kein Fenster«, sagte Mr. Weasley entschuldigend, zog
seine Bomberjacke aus und hängte sie über seine Stuhllehne. »Wir
haben eins beantragt, aber man glaubt offenbar, wir brauchten keines.
Setz dich, Harry, sieht aus, als wäre Perkins noch nicht da.«
Harry zwängte sich auf den Stuhl hinter Perkins' Schreibtisch,
während Mr. Weasley das Pergamentbündel durchstöberte, das
Kingsley Shacklebolt ihm gegeben hatte.
»Ah«, sagte er grinsend, als er aus der Mitte des Bündels ein
Magazin namens Der Klitterer hervorzog, »ja …« Er blätterte es
- 149 -
durch. »Ja, er hat Recht, Sirius wird das sicher ganz amüsant finden
… o meine Güte, was ist das jetzt wieder?«
Ein Memo war soeben durch die offene Tür geflogen und hatte
sich flatternd auf dem hicksenden Toaster niedergelassen. Mr.
Weasley entfaltete es und las laut vor:
»›Dritte wieder ausspuckende öffentliche Toilette in Bethnal Green
gemeldet, bitte unverzüglich Nachforschungen anstellend Das wird
allmählich lächerlich …«
»Eine wieder ausspuckende Toilette?«
»Anti-Muggel-Scherzbolde«, sagte Mr. Weasley stirnrunzelnd.
»Letzte Woche hatten wir zwei, eine in Wimbledon und eine in
Elephant and Castle. Die Muggel drücken die Spülung, und statt dass
alles verschwindet – nun, du kannst es dir vorstellen. Die Armen rufen
ständig diese Pempler, so heißen die, glaub ich – du weißt schon, die
Abflüsse und so reparieren.«
»Klempner?«
»Ja, genau, aber natürlich sind die fassungslos. Wer immer das
auch tut, ich kann nur hoffen, dass wir sie kriegen.«
»Werden die Auroren sie fangen?«
»O nein, das war nur Kleinkram für die Auroren, das macht die
gewöhnliche Magische Strafverfolgungspatrouille – ah, Harry, das ist
Perkins.«
Ein untersetzter, schüchtern wirkender alter Zauberer mit weißem
Flaumhaar war gerade keuchend hereingekommen.
»Oh, Arthur!«, sagte er verzweifelt, ohne Harry anzusehen. »Dem
Himmel sei Dank, ich wusste nicht, was ich tun sollte, hier auf dich
warten oder nicht. Eben habe ich eine Eule zu dir nach Hause
geschickt, aber sie hat dich offenbar verfehlt – vor zehn Minuten kam
eine dringende Nachricht rein …«
»Die wieder ausspuckende Toilette, ich weiß Bescheid«, sagte Mr.
Weasley.
- 150 -
»Nein, nein, nicht die Toilette, es geht um die Anhörung dieses
Potter-Jungen – sie haben Zeit und Ort geändert – es fängt jetzt um
acht Uhr an, unten im alten Gerichtsraum zehn …«
»Unten im alten – aber sie haben mir – beim Barte des Merlin!«
Mr. Weasley sah auf die Uhr, schrie auf und sprang vom Stuhl.
»Schnell, Harry, wir hätten schon vor fünf Minuten dort sein
sollen!«
Perkins drückte sich gegen die Aktenschränke, als Mr. Weasley,
dicht gefolgt von Harry, aus dem Büro stürmte.
»Warum haben sie den Termin geändert?«, fragte Harry atemlos,
während sie an den Aurorenzellen vorbeihasteten; einige streckten
ihre Köpfe heraus und starrten ihnen nach. Harry war, als hätte er sein
Inneres an Perkins' Schreibtisch zurückgelassen.
»Ich hab keine Ahnung, aber dem Himmel sei Dank sind wir so
früh hergekommen, eine Katastrophe, wenn du's versäumt hättest!«
Mr. Weasley kam schlitternd neben den Fahrstühlen zum Stehen
und drückte ungeduldig auf den »Abwärts«-Knopf.
»MACH schon!«
Der Fahrstuhl klapperte herbei und sie stürzten hinein. Jedes Mal
wenn er anhielt, fluchte Mr. Weasley wütend und traktierte den Knopf
für Stockwerk neun.
»Diese Gerichtsräume sind seit Jahren nicht mehr benutzt
worden«, sagte Mr. Weasley aufgebracht. »Ich kann mir nicht
vorstellen, warum sie es dort unten machen – außer – aber nein …«
In diesem Moment betrat eine pummelige Hexe mit einem
rauchenden Kelch den Fahrstuhl und Mr. Weasley unterbrach sich.
»Das Atrium«, sagte die kühle Frauenstimme, die goldenen Gitter
glitten beiseite und Harry erhaschte einen Blick auf den fernen
Brunnen mit seinen goldenen Statuen. Die pummelige Hexe stieg aus
und ein fahlhäutiger Zauberer mit ausgesprochen trauervoller Miene
kam herein.
- 151 -
»Morgen, Arthur«, sagte er mit Grabesstimme, als der Lift weiter
nach unten fuhr. »Man sieht dich nicht oft hier unten.«
»Dringende Angelegenheit, Bode«, sagte Mr. Weasley, wippte auf
den Fußballen hin und her und warf Harry besorgte Blicke zu.
»Ah, ja«, sagte Bode und musterte Harry mit starrem Gesicht.
»Natürlich.«
Harry war kaum in der Lage, sich mit Bode zu beschäftigen, aber
unter dessen unentwegtem Starren wurde ihm nicht gerade
behaglicher zumute.
»Mysteriumsabteilung«, sagte die kühle Frauenstimme und beließ
es dabei.
»Rasch, Harry«, sagte Mr. Weasley, als die Fahrstuhltüren sich
ratternd öffneten, und sie eilten einen Korridor entlang, der sich
deutlich von denen in den oberen Stockwerken unterschied. Die
Wände waren kahl; es gab keine Fenster und keine Türen, abgesehen
von einer schlichten schwarzen ganz am Ende des Korridors. Harry
glaubte, sie würden dort hineingehen, stattdessen packte ihn Mr.
Weasley am Arm und zog ihn nach links, wo ein Durchgang zu einer
Treppe führte.
»Hier runter, hier runter«, keuchte Mr. Weasley und nahm immer
zwei Stufen auf einmal. »Der Fahrstuhl kommt gar nicht so weit …
warum machen sie es dort unten, ich …«
Sie gelangten zum Fuß der Treppe und rannten einen weiteren
Korridor entlang, der mit seinen groben Steinwänden, an denen
Fackeln steckten, jenem sehr ähnelte, der zu Snapes Kerker in
Hogwarts führte. Die Türen, an denen sie vorbeikamen, waren aus
schwerem Holz mit eisernen Riegeln und Schlüssellöchern.
»Gerichtsraum … zehn … ich glaube … wir sind fast … ja.« Mr.
Weasley hielt stolpernd vor einer schmutzigen dunklen Tür mit einem
mächtigen Eisenschloss, sackte gegen die Mauer und griff sich an die
stechende Brust.
»Geh weiter«, keuchte er und wies mit dem Daumen auf die Tür.
»Geh da rein.«
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»Kommen Sie – kommen Sie nicht mit?«
»Nein, nein, ich bin nicht zugelassen. Viel Glück!« Harrys Herz
schlug in einem heftigen Trommelwirbel gegen seinen Adamsapfel.
Er schluckte schwer, drückte den massiven eisernen Türgriff und trat
in den Gerichtsraum.
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Die Anhörung
Harry riss den Mund auf – er konnte nicht anders. Der große
Kerker, den er betreten hatte, kam ihm schrecklich bekannt vor. Er
hatte ihn nicht nur schon einmal gesehen, er war auch schon einmal
hier gewesen. Dies war der Ort, den er in Dumbledores Denkarium
besucht hatte, der Ort, an dem er beobachtet hatte, wie die Lestranges
zu lebenslänglicher Haft in Askaban verurteilt wurden.
Die Mauern waren aus dunklem Stein, von Fackeln spärlich
beleuchtet. Links und rechts von ihm erstreckten sich leere
Bankreihen bis hoch hinauf, doch ihm gegenüber, auf den höchsten
Bänken, waren viele schattenhafte Gestalten zu erkennen. Sie hatten
leise geredet, doch als die schwere Tür hinter Harry zuschlug, trat eine
unheilvolle Stille ein.
Eine kalte männliche Stimme gellte durch den Gerichtsraum.
»Du kommst zu spät.«
»Verzeihung«, sagte Harry nervös. »Ich – ich wusste nic ht, dass
der Termin geändert wurde.«
»Das ist nicht die Schuld des Zaubergamots«, sagte die Stimme.
»Eine Eule wurde heute Morgen zu dir geschickt. Nimm deinen Platz
ein.«
Harry senkte den Blick auf den Stuhl in der Mitte des Raumes,
über dessen Armlehnen Ketten lagen. Er hatte gesehen, wie diese
Ketten jäh zum Leben erwachten und den fesselten, der gerade
zwischen ihnen saß. Mit laut widerhallenden Schritten ging er über
den steinernen Boden. Als er sich behutsam auf den Stuhlrand setzte,
klirrten die Ketten drohend, doch sie umschlangen ihn nicht. Ihm war
ziemlich schlecht, und er blickte hinauf zu den Leuten, die auf der
Bank oben saßen.
Es waren ungefähr fünfzig, und soweit er sehen konnte, trugen alle
pflaumenblaue Umhänge mit einem kunstvoll gearbeiteten silbernen
»Z« links auf der Brust, und alle starrten ihn von oben herab an,
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manche mit sehr strengen Mienen, andere mit einem Ausdruck
unverhohlener Neugier.
Genau in der Mitte der vorderen Reihe saß Cornelius Fudge, der
Zaubereiminister. Fudge war ein stattlicher Mann, der häufig einen
limonengrünen Bowle r trug, allerdings hatte er heute auf ihn
verzichtet; verzichtet hatte er auch auf das nachsichtige Lächeln, das
er einst zur Schau getragen hatte, wenn er mit Harry sprach. Eine
breite Hexe mit eckigem Unterkiefer und ganz kurzem grauem Haar
saß zu Fudges Linken; sie trug ein Monokel und wirkte abweisend. Zu
Fudges Rechten saß ebenfalls eine Hexe, aber sie hatte sich so weit in
der Bank zurückgelehnt, dass ihr Gesicht im Schatten lag.
»Sehr schön«, sagte Fudge. »Da der Angeklagte anwesend ist –
endlich –, sollten wir beginnen. Sind Sie bereit?«, rief er zum Ende
der Bank hin.
»Ja, Sir«, antwortete eine beflissene Stimme, die Harry kannte. Am
äußersten Ende der vorderen Bank saß Rons Bruder Percy. Harry
blickte ihn an, in der Erwartung, Percy würde irgendein Zeichen des
Wiedererkennens geben, doch umsonst. Percys Augen hinter der
Hornbrille waren auf sein Pergament geheftet, in seiner Hand hielt er
eine Feder.
»Disziplinarische Anhörung vom zwölften August«, sagte Fudge
mit schriller Stimme und sofort fing Percy an zu protokollieren, »in
Sachen Verstöße gegen den Erlass zur Vernunftgemäßen
Beschränkung der Zauberei Minderjähriger und gegen das
Internationale Geheimhaltungsabkommen durch Harry Potter,
wohnhaft Ligusterweg Nummer vier, Little Whinging, Surrey.
Es führen das Verhör: Cornelius Oswald Fudge, Zaubereiminister;
Amelia Susan Bones, Leiterin der Abteilung für Magische
Strafverfolgung; Dolores Jane Umbridge, Erste Untersekretärin des
Ministers. Geric htsschreiber, Percy Ignatius Weasley …«
»Zeuge der Verteidigung, Albus Percival Wulfric Brian
Dumbledore«, sagte eine ruhige Stimme hinter Harry, der den Kopf so
schnell herumriss, dass er sich den Hals verrenkte.
Dumbledore, mit langem mitternachtsblauem Umhang und
vollkommen gelassenem Ausdruck, schritt feierlich durch den Raum.
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Sein langer silberner Bart und seine Haare schimmerten im
Fackellicht, als er sich an Harrys Seite stellte und durch die
Halbmondgläser seiner Brille, die auf halber Höhe auf seiner scharfen
Hakennase ruhte, zu Fudge hochblickte.
Die Mitglieder des Zaubergamots tuschelten. Aller Augen waren
jetzt auf Dumbledore gerichtet. Manche sahen verärgert aus, andere
eine Spur verängstigt; zwei ältere Hexen auf der rückwärtigen Bank
jedoch hoben die Hände und winkten ihm grüßend zu.
Bei Dumbledores Anblick war ein starkes Gefühl in Harrys Brust
aufgestiegen, ein Kraft und Hoffnung spendendes Gefühl ähnlich dem,
das ihm der Gesang des Phönix gab. Er suchte Dumbledores Blick,
aber Dumbledore sah nicht in seine Richtung; er sah unentwegt auf
den offensichtlich verwirrten Fudge.
»Ah«, sagte Fudge und wirkte jetzt tief beunruhigt. »Dumbledore.
Ja. Sie – ähm – haben unsere – ähm – Botschaft erhalten, dass Zeit
und – ähm – Ort der Anhörung geändert wurden, nehme ich also an?«
»Die muss ich verpasst haben«, sagte Dumbledore vergnügt.
»Allerdings bin ich durch einen glücklichen Zufall drei Stunden zu
früh im Ministerium angekommen und so ist noch mal alles gut
gegangen.«
»Ja – schön – ich denke, wir brauchen noch einen Stuhl – ich –
Weasley, würden Sie …«
»Nur keine Umstände, nur keine Umstände«, sagte Dumbledore
freundlich; er zückte seinen Zauberstab, ließ ihn leicht aus dem
Handgelenk schnippen und ein zerknautschter Chintz-Lehnstuhl
erschien aus dem Nichts neben Harry. Dumbledore setzte sich, legte
die Kuppen seiner langen Finger aneinander und betrachtete Fudge
über sie hinweg mit einem Ausdruck höflichen Interesses. Die
Mitglieder des Zaubergamots tuschelten und gestikulierten immer
noch aufgeregt; erst als Fudge wieder zu sprechen begann, beruhigten
sie sich.
»Ja«, sagte Fudge erneut und stöberte in seinen Unterlagen. »Nun.
dann. So. Die Anklage. Ja.«
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Er zog ein Stück Pergament aus dem Stapel vor ihm, holte tief Luft
und las laut: »Die Anklagepunkte gegen den Beschuldigten lauten wie
folgt:
Dass er wissentlich, absichtlich und in vollem Bewusstsein der
Rechtswidrigkeit seiner Handlungen – obwohl er zuvor bereits eine
schriftliche Verwarnung des Zaubereiministeriums wegen eines
ähnlichen Vorwurfs erhalten hatte – einen Patronus-Zauber in einem
Muggelwohngebiet ausgeführt hat, in Gegenwart eines Muggels, am
zweiten August um dreiundzwanzig Minuten nach neun, welches
einen Verstoß gegen den Erlass zur Vernunftgemäßen Beschränkung
der Zauberei Minderjähriger von 1875. Abschnitt C„ darstellt und
ebenso gegen Abschnitt 13 des Geheimhaltungsabkommens der
Internationalen Zauberervereinigung.
Du bist Harry James Potter, wohnhaft Ligusterweg Nummer vier,
Little Whinging, Surrey?« fragte Fudge und funkelte Harry über sein
Pergament hinweg an.
»Ja«, sagte Harry.
»Du hast vor drei Jahren eine offizielle Verwarnung des
Ministeriums wegen unrechtmäßig ausgeübter Magie erhalten, ist das
richtig?«
»Ja, aber …«
»Und dennoch hast du am Abend des zweiten August einen
Patronus heraufbeschworen?«, sagte Fudge.
»Ja«, sagte Harry, »aber …«
»Im Wissen, dass es dir bis zum Alter von siebzehn Jahren nicht
erlaubt ist, außerhalb der Schule Zauberei zu gebrauchen?«
»Ja, aber …«
»Im Wissen, dass du dich in einer Gegend voller Muggel
befandest?«
»Ja, aber …«
»Dir vollauf bewusst. dass du dich zu jenem Zeitpunkt in großer
Nähe eines Muggels befandest?«
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»Ja«, sagte Harry zornig, »aber ich hab ihn nur gebraucht, weil wir
…«
Die Hexe mit dem Monokel schnitt ihm mit dröhnender Stimme
das Wort ab.
»Du hast einen ausgewachsenen Patronus zustande gebracht?«
»Ja«, sagte Harry, »weil …«
»Einen gestaltlichen Patronus?«
»Einen – was?«, sagte Harry.
»Dein Patronus hatte eine klar umrissene Form? Ich meine, er war
mehr als Dampf oder Rauch?«
»Ja«, sagte Harry, ungeduldig und leicht verzweifelt zugleich, »er
ist ein Hirsch, er ist immer ein Hirsch.«
»Immer?«, dröhnte Madam Bones. »Du hast also bereits vorher
einen Patronus geschaffen?«
»Ja«, sagte Harry, »das mache ich schon seit über einem Jahr.«
»Und du bist fünfzehn Jahre alt?«
»Ja, und …«
»Du hast das in der Schule gelernt?«
»Ja, Professor Lupin hat es mir im dritten Jahr beigebracht, wegen
der …«
»Beeindruckend«, sagte Madam Bones und starrte auf ihn herab,
»ein echter Patronus in diesem Alter … wirklich sehr beeindruckend.«
Einige der Zauberer und Hexen in ihrem Umkreis fingen erneut an
zu tuscheln; ein paar nickten, doch andere schüttelten stirnrunzelnd
den Kopf.
»Es geht nicht darum, wie beeindruckend der Zauber war«, sagte
Fudge gereizt. »Im Gegenteil, je beeindruckender, desto schlimmer,
würde ich meinen, wenn man bedenkt, dass der Junge es direkt vor
den Augen eines Muggels getan hat!«
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Die eben noch die Stirn gerunzelt hatten, murmelten nun
zustimmend, doch es war der Anblick von Percys salbungsvollem
leichtem Nicken, der Harry die Zunge löste.
»Ich hab es wegen der Dementoren getan!«, sagte er laut, bevor
ihm wieder jemand ins Wort fallen konnte.
Er hatte weiteres Getuschel erwartet, doch das Schweigen, das
eintrat, schien irgendwie noch drückender als zuvor.
»Dementoren?«, sagte Madam Bones nach einem Augenblick, und
ihre dichten Augenbrauen hoben sich, bis ihr Monokel herauszufallen
drohte. »Was soll das heißen, Junge?«
»Das heißt, es waren zwei Dementoren in dieser Gasse und sie
haben mich und meinen Cousin angegriffen!«
»Ah!«, machte Fudge erneut und blickte gehässig feixend in die
Runde des Zaubergamots, als würde er alle auffordern, sich ebenfalls
über den Witz zu amüsieren. »Ja. Ja, ich dachte mir schon, wir würden
etwas Derartiges zu hören bekommen.«
»Dementoren in Little Whinging?«, sagte Madam Bones höchst
überrascht. »Ich verstehe nicht …«
»Wirklich nicht, Amelia?«, sagte Fudge, unentwegt feixend.
»Lassen Sie es mich erklären. Er hat es sich überlegt und ist darauf
gekommen, dass Dementoren eine nette kleine Ausrede abgeben
würden, wirklich sehr nett. Muggel können Dementoren nicht sehen,
stimmt's, Junge? Äußerst praktisch, äußerst praktisch … also haben
wir nur dein Wort und keine Zeugen …«
»Ich lüge nicht!«, rief Harry laut über ein erneut anhebendes
Tuscheln des Gerichts hinweg. »Es waren zwei, sie kamen von beiden
Enden der Gasse, alles wurde dunkel und kalt und mein Cousin hat sie
gespürt und ist losgelaufen …«
»Genug, genug!«, sagte Fudge mit sehr überheblichem
Gesichtsausdruck. »Ich muss diese gewiss sehr gut einstudierte
Geschichte leider unterbrechen …«
Dumbledore räusperte sich. Im Zaubergamot wurde es wieder still.
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»Wir haben in der Tat einen Zeugen für die Gegenwart der
Dementoren in jener Gasse«, sagte er, »einen außer Dudley Dursley,
meine ich.«
Fudges feistes Gesicht schien zu erschlaffen, als hätte jemand die
Luft herausgelassen. Er starrte einen kurzen Moment lang zu
Dumbledore hinunter, dann sagte er mit der Miene eines Mannes, der
sich zusammenreißt: »Wir haben keine Zeit, uns noch mehr
Flunkergeschichten anzuhören, fürchte ich, Dumbledore. Ich möchte
diese Sache rasch erledigen …«
»Ich mag mich irren«, sagte Dumbledore liebenswürdig, »aber
dürfen nicht die Angeklagten gemäß dem Rechtekatalog des
Zaubergamots Zeugen in ihrer Sache benennen? Gehört dies nicht zu
den Grundsätzen der Abteilung für Magische Strafverfolgung, Madam
Bones?«, fuhr er an die Hexe mit dem Monokel gewandt fort.
»Richtig«, sagte Madam Bones. »Vollkommen richtig.«
»Oh, na schön, na schön«, fauchte Fudge. »Wo ist diese Person?«
»Ich habe sie mitgebracht«, sagte Dumbledore. »Sie ist draußen
vor der Tür. Soll ich …«
»Nein – Weasley, Sie gehen«, bellte Fudge Percy an, der sofort
aufstand, die Steinstufen vor dem Richterpodium hinab- und an
Dumbledore und Harry vorbeieilte, ohne sie auch nur einmal
anzusehen.
Einen Augenblick später kam Percy wieder, gefolgt von Mrs. Figg.
Sie sah verängstigt aus und schrulliger denn je. Harry wäre es lieber
gewesen, sie hätte ihre Puschen zu Hause gelassen.
Dumbledore stand auf, bot Mrs. Figg seinen Stuhl an und beschwor
einen weiteren für sich herauf.
»Vollständiger Name?«, sagte Fudge laut, als sich Mrs. Figg
nervös am äußeren Stuhlrand niedergelassen hatte.
»Arabella Doreen Figg«, sagte Mrs. Figg mit ihrer zittrigen
Stimme.
»Und wer genau sind Sie?«, fragte Fudge in gelangweilt
hochmütigem Ton.
- 160 -
»Ich bin Bürgerin von Little Whinging und wohne ganz in der
Nähe von Harry Potter«, sagte Mrs. Figg.
»Wir haben hier keinen Eintrag, wonach außer Harry Potter noch
eine Hexe oder ein Zauberer in Little Whinging lebt«, sagte Madam
Bones sofort. »Dieses Gebiet wird stets genau überwacht, angesichts
… angesichts der Vorkommnisse in der Vergangenheit.«
»Ich bin eine Squib«, sagte Mrs. Figg. »Also haben Sie wohl
keinen Eintrag über mich, oder?«
»Eine Squib, ja?«, sagte Fudge und fixierte sie argwöhnisch. »Wir
werden das überprüfen. Hinterlassen Sie die Einzelheiten über Ihre
Abstammung bei meinem Assistenten Weasley. Ach übrigens, können
Squibs Dementoren sehen?«, fügte er hinzu und blickte links und
rechts die Bank entlang.
»Ja, können wir!«, sagte Mrs. Figg entrüstet.
Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte Fudge wieder zu ihr
hinunter. »Nun denn«, sagte er herablassend. »Wie lautet Ihre
Geschichte?«
»Ich war ausgegangen, um im Eckladen am Ende des
Glyzinenwegs Katzenfutter zu kaufen, das war gegen neun am Abend
des zweiten August«, plapperte Mrs. Figg sogleich los, als ob sie das,
was sie sagte, auswendig gelernt hätte, »und da hörte ich Lärm in der
Gasse zwischen Magnolienring und Glyzinenweg. Als ich mich der
Einmündung dieser Gasse näherte, sah ich Dementoren rennen …«
»Rennen?«, unterbrach Madam Bones scharf. »Dementoren rennen
nicht, sie schweben.«
»Genau das hab ich gemeint«, erwiderte Mrs. Figg hastig und auf
ihren verhutzelten Wangen erschienen rosa Flecken. »Die schwebten
die Gasse entlang auf zwei Jungen zu, wie mir schien.«
»Wie sahen sie aus?«, sagte Madam Bones und kniff die Augen
zusammen, so dass der Rand ihres Monokels im Fleisch verschwand.
»Nun, der eine war sehr dick und der andere eher mager …«
»Nein, nein«, sagte Madam Bones ungeduldig. »Die Dementoren
… beschreiben Sie die.«
- 161 -
»Oh«, sagte Mrs. Figg und ein leichtes Rosa kroch ihren Hals
hoch. »Sie waren groß. Groß und trugen Umhänge.«
Harry wurde schrecklich flau in der Magengrabe. Was immer Mrs.
Figg auch sagen mochte, für ihn klang es, als ob sie gerade mal ein
Bild von einem Dementor gesehen hätte, und ein Bild konnte niemals
vermitteln, wie diese Geschöpfe wirklich waren: ihre unheimliche Art,
sich zu bewegen, nur Zentimeter über dem Boden schwebend; ihr
Verwesungsgestank; ihr schreckliches Rasseln, wenn sie die Luft
umher einsaugten …
In der zweiten Reihe neigte sich ein untersetzter Zauberer mit
großem schwarzem Schnauzbart dicht zu seiner Nachbarin hinüber,
einer Hexe mit gekräuselten Haaren, um ihr ins Ohr zu flüstern. Sie
grinste und nickte.
»Groß und trugen Umhänge«, wiederholte Madam Bones kühl,
während Fudge verächtlich schnaubte. »Verstehe. Noch etwas?«
»Ja«, sagte Mrs. Figg. »Ich hab sie gespürt. Alles wurde kalt, und
es war eine sehr warme Sommernacht, kann ich Ihnen sagen. Und ich
hatte das Gefühl … als ob alles Glück aus der Welt verschwunden
wäre … und mir fielen … schreckliche Dinge ein …«
Ihre Stimme zitterte und erstarb.
Madam Bones' Augen weiteten sich eine Spur. Harry konnte rote
Male unter ihrer Augenbraue erkennen, dort, wo das Monokel sich
eingegraben hatte.
»Was haben die Dementoren getan?«, fragte sie und Harry spürte
jähe Hoffnung aufflammen.
»Sie haben die Jungen angegriffen«, sagte Mrs. Figg. Ihre Stimme
klang jetzt fester und selbstsicherer und das Rosa schwand allmählich
aus ihrem Gesicht. »Einer von ihnen war hingefallen. Der andere wich
zurück und hat versucht den Dementor abzuwehren. Das war Harry.
Er hat es zweimal versucht und es kam nur silberner Dunst. Beim
dritten Versuch hat er einen Patronus hervorgebracht, der den ersten
Dementor niederwarf und dann, angefeuert von Harry, den zweiten
von seinem Cousin wegjagte. Und so … war es«, schloss Mrs. Figg
etwas lahm.
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Madam Bones blickte stumm zu Mrs. Figg hinab. Fudge sah sie
gar nicht an, sondern wühlte in seinen Unterlagen. Schließlich hob er
den Blick und sagte recht angriffslustig: »Das haben Sie also gesehen,
ja?«
»So war es«, wiederholte Mrs. Figg.
»Nun denn«, sagte Fudge. »Sie können gehen.«
Mrs. Figg wandte sich von Fudge ab und warf Dumbledore einen
ängstlichen Blick zu, dann stand sie auf und schlurfte zur Tür. Harry
hörte, wie sie hinter ihr zuschlug.
»Keine sehr überzeugende Zeugin«, sagte Fudge hochmütig.
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Madam Bones mit ihrer dröhnenden
Stimme. »Die Wirkung eines Dementorenangriffs hat sie doch
immerhin recht genau beschrieben. Und ich kann mir nicht vorstellen,
warum sie behaupten sollte, dass sie da waren, wenn dem nicht so
war.«
»Aber Dementoren sollen in einer Muggelkleinstadt um
herspazieren und ganz zufällig einem Zauberer über den Weg
laufen?«, schnaubte Fudge. »Die Wahrscheinlichkeit muss ja wohl
sehr gering sein. Selbst Bagman hätte darauf nicht gewettet …«
»Oh, ich denke nicht, dass irgendjemand von uns glaubt, die
Dementoren seien rein zufällig dort gewesen«, sagte Dumbledore
gelassen.
Die Hexe, die rechts von Fudge saß und das Gesicht im Schatten
hatte, rührte sich ein wenig, doch alle anderen blieben vollkommen
reglos und stumm.
»Und was soll das heißen?«, fragte Fudge eisig.
»Das heißt, dass ich denke, sie wurden dort hinbefohlen«,
erwiderte Dumbledore.
»Ich würde doch meinen, wenn jemand einem Paar Dementoren
befohlen hätte, durch Little Whinging zu spazieren, dann hätten wir
darüber einen Bericht!«, bellte Fudge.
- 163 -
»Nicht, wenn die Dementoren dieser Tage Befehle von jemandem
außerhalb des Zaubereiministeriums annehmen«, sagte Dumbledore
ruhig. »Ich habe Ihnen bereits meine Auffassung in dieser Sache
dargelegt, Cornelius.«
»Allerdings, haben Sie«, sagte Fudge nachdrücklich, »und ich habe
keinen Grund zu glauben, dass Ihre Ansichten etwas anderes sind als
Unsinn, Dumbledore. Die Dementoren bleiben vor Ort in Askaban
und tun alles, was wir ihnen gebieten.«
»Dann«, sagte Dumbledore leise, aber deutlich, »dann müssen wir
uns fragen, warum jemand im Ministerium am zweiten August ein
Paar Dementoren in diese Gasse befohlen hat.«
In der vollkommenen Stille, die auf diese Worte hin eintrat, beugte
sich die Hexe rechts von Fudge vor, so dass Harry sie erstmals
erkennen konnte.
Sieht aus wie eine große, blasse Kröte, dachte er. Sie war recht
untersetzt und hatte ein großes, wabbliges Gesicht, so wenig Hals wie
Onkel Vernon und einen sehr breiten, schlaffen Mund. Ihre Augen
waren groß, rund und quollen leicht hervor. Die kleine schwarze
Samtschleife, die auf ihrem kurzen Lockenhaarschopf saß, erinnerte
ihn an eine große Fliege, die sie gleich mit einer langen klebrigen
Zunge fangen würde.
»Das Gericht erteilt das Wort Dolores Jane Umbridge, Erste
Untersekretärin des Ministers«, erklärte Fudge.
Die Hexe sprach mit einer zittrigen, mädchenhaft hohen Stimme,
die Harry verblüffte; er hatte ein Quaken erwartet.
»Ich habe Sie gewiss missverstanden, Professor Dumbledore«,
sagte sie mit einem gezierten Lächeln, das die Kälte ihrer großen,
runden Augen nicht im Geringsten minderte. »Wie dumm von mir.
Aber es hörte sich einen winzigen Moment lang so an, als würden Sie
unterstellen, dass das Zaubereiministerium einen Angriff auf diesen
Jungen befohlen hätte!«
Sie lachte auf, so silberhell, dass sich Harrys Nackenhaare
sträubten. Ein paar weitere Mitglieder des Zaubergamots stimmten in
- 164 -
ihr Lachen ein. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass keiner von
ihnen wirklich amüsiert war.
»Wenn es stimmt, dass die Dementoren nur Befehle vom
Zaubereiministerium entgegennehmen, und wenn es auch stimmt, dass
zwei Dementoren vor einer Woche Harry und seinen Cousin
angegriffen haben, dann folgt daraus logisch, dass jemand im
Ministerium die Angriffe befohlen haben könnte«, sagte Dumbledore
höflich. »Natürlich könnten gerade diese Dementoren außerhalb der
Kontrolle des Ministeriums gewesen sein …«
»Es gibt keine Dementoren außerhalb der Kontrolle des
Ministeriums!«, fauchte Fudge, der ziegelrot geworden war.
Dumbledore neigte den Kopf zu einer leichten Verbeugung. »Dann
wird das Ministerium zweifellos eine umfassende Untersuchung zu
der Frage veranlassen, warum zwei Dementoren so weit von Askaban
entfernt waren und warum sie ohne Genehmigung angriffen.«
»Es liegt nicht an Ihnen, zu entscheiden, was das
Zaubereiministerium tut oder nicht tut, Dumbledore!«, fauchte Fudge
und sein Gesicht hatte nun einen Magentaton, auf den Onkel Vernon
stolz gewesen wäre.
»Natürlich nicht«, sagte Dumbledore milde. »Ich habe lediglich
meine Zuversicht zum Ausdruck gebracht, dass diese Sache nicht im
Dunkeln bleiben wird.«
Er sah hinüber zu Madam Bones, die ihr Monokel zurechtgerückt
hatte und seinen Blick mit leicht gerunzelter Stirn erwiderte.
»Ich möchte alle Anwesenden daran erinnern, dass das Verhalten
dieser Dementoren, sollten sie in der Tat keine Gespinste der
Phantasie dieses Jungen sein, nicht Gegenstand dieser Anhörung ist!«,
sagte Fudge. »Wir sind hier, um Harry Potters Verstöße gegen den
Erlass zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei
Minderjähriger zu untersuchen!«
»Völlig richtig«, sagte Dumbledore, »aber die Anwesenheit von
Dementoren in dieser Gasse ist höchst bedeutsam. Klausel sieben
dieses Erlasses stellt fest, dass unter außergewöhnlichen Umständen
Magie in Anwesenheit von Muggeln eingesetzt werden darf, und zu
- 165 -
diesen außergewöhnlichen Umständen gehören Situationen, in denen
das Leben des Zauberers oder der Hexe selber oder anderer Hexen,
Zauberer oder Muggel bedroht ist, die anwesend sind zu dem
Zeitpunkt, da …«
»Klausel sieben ist uns bekannt, ich danke Ihnen vielmals!«,
knurrte Fudge.
»Selbstverständlich«, sagte Dumbledore höflich. »Dann stimmen
wir darin überein, dass die Verwendung des Patronus-Zaubers durch
Harry unter besagten Umständen exakt unter die Kategorie
außergewöhnlicher Umstände fällt, welche die Klausel beschreibt?«
»Wenn Dementoren anwesend waren, was ich bezweifle.«
»Sie haben es von einer Augenzeugin gehört«, warf Dumbledore
ein. »Wenn Sie ihre Glaubwürdigkeit immer noch anzweifeln, rufen
Sie die Zeugin zurück, befragen Sie sie erneut. Ich bin sicher, sie hätte
keine Einwände.«
»Ich – das – nicht …«, tobte Fudge und fummelte fahrig in seinen
Papieren. »Das geht – ich will das heute noch erledigen,
Dumbledore!«
»Aber selbstverständlich würden Sie es sich nicht nehmen lassen,
eine Zeugin auch mehrmals anzuhören, wenn andernfalls ein schwer
wiegender Justizirrtum drohen würde«, sagte Dumbledore.
»Schwer wiegender Justizirrtum, dass ich nicht lache!«, rief Fudge
mit sich überschlagender Stimme. »Haben Sie sich jemals die Mühe
gemacht, all die Ammenmärchen zu zählen, die uns dieser Junge
aufgetischt hat, Dumbledore, um seinen eklatanten Missbrauch der
Magie außerhalb der Schule zu vertuschen? Ich nehme an, Sie haben
den Schwebezauber vergessen, den er vor drei Jahren benutzt hat …«
»Das war nicht ich, das war ein Hauself!«, sagte Harry.
»SEHEN SIE?«, donnerte Fudge und gestikulierte wichtigtuerisch
in Harrys Richtung. »Ein Hauself! In einem Muggelhaus! Ich bitte
Sie.«
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»Der fragliche Hauself steht gegenwärtig in Diensten der
Hogwarts-Schule«, sagte Dumbledore. »Ich kann ihn augenblicklich
herbeordern, damit er aussagt, wenn Sie dies wünschen.«
»Ich – nein – ich habe keine Zeit, mir Hauselfen anzuhören!
Jedenfalls ist das nicht das Einzige – er hat seine Tante aufgeblasen,
um Himmels willen!«, rief Fudge, schlug mit der Faust auf die
Richterbank und warf dabei ein Tintenfass um.
»Und Sie waren nach diesem Zwischenfall so freundlich, keine
Anklage zu erheben, weil Sie, wie ich annehme, verstanden, dass
selbst die besten Zauberer ihre Gefühle nicht immer unter Kontrolle
halten können«, sagte Dumbledore ruhig, während Fudge versuchte
die Tinte von seinen Papieren zu wischen.
»Und ich habe noch nicht mal erwähnt, was er alles in der Schule
treibt.«
»Aber da nun einmal das Ministerium nicht die Befugnis hat,
Hogwarts-Schüler für ihr Fehlverhalten in der Schule zu bestrafen,
spielt Harrys Verhalten dort für diese Anhörung keine Rolle«, sagte
Dumbledore unvermindert höflich, doch nun mit einem kühlen
Unterton in seinen Worten.
»Oho!«, machte Fudge. »Nicht unsere Angelegenheit, was er in der
Schule treibt, ja? Glauben Sie?«
»Das Ministerium hat nicht die Macht, Schüler von Hogwarts zu
verweisen, Cornelius, woran ich Sie am Abend des zweiten August
erinnert habe«, sagte Dumbledore. »Es hat auch nicht das Recht,
Zauberstäbe zu beschlagnahmen, ehe die Vorwürfe eindeutig
bewiesen wurden; auch daran habe ich Sie am Abend des zweiten
August erinnert. In Ihrer bewundernswerten Eile, dafür Sorge zu
tragen, dass dem Gesetz entsprochen wird, scheinen Sie, gewiss
unabsichtlich, selber einige Gesetze übersehen zu haben.«
»Gesetze lassen sich ändern«, sagte Fudge bissig.
»Natürlich«, sagte Dumbledore und neigte den Kopf. »Und Sie
scheinen beachtlich viele Änderungen vorzunehmen, Cornelius.
Warum ist es in den wenigen kurzen Wochen, seit ich aufgefordert
wurde, den Zaubergamot zu verlassen, bereits gängige Praxis
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geworden, ein umfassendes Straftribunal abzuhalten wegen eines
schlichten Falles von Minderjährigenzauberei!«
Manche der Zauberer über ihnen rutschten unangenehm berührt auf
ihren Plätzen umher. Fudges Gesicht nahm eine noch dunklere
Rotschattierung an. Die krötenartige Hexe zu seiner Rechten jedoch
sah nur mit völlig ausdrucksloser Miene zu Dumbledore hinab.
»Nach meiner Kenntnis«, fuhr Dumbledore fort, »gib t es bis heute
noch kein Gesetz, das besagt, es sei die Aufgabe dieses Gerichts,
Harry für jedes bisschen Magie zu bestrafen, das er je ausgeübt hat. Er
wurde eines bestimmten Vergehens angeklagt und hat seine
Verteidigung vorgetragen. Alles, was er und ic h jetzt tun können, ist
Ihr Urteil abzuwarten.«
Dumbledore legte erneut die Fingerkuppen aneinander und
schwieg. Fudge funkelte ihn an, offensichtlich zornentbrannt. Harry
warf Dumbledore von der Seite einen Blick zu, in der Hoffnung, ein
wenig bestärkt zu werden. Er war sich keineswegs sicher, dass es ein
guter Schritt von Dumbledore war, dem Zaubergamot praktisch nichts
anderes zu sagen, als dass es nun an der Zeit war, eine Entscheidung
zu treffen. Dumbledore schien jedoch Harrys Versuch, Blickkontakt
mit ihm aufzunehmen, erneut nicht zu bemerken. Er sah unentwegt zu
den Bänken hoch, wo alle Zaubergamots sich inzwischen eindringlich
flüsternd berieten.
Harry blickte auf seine Füße. Sein Herz, das auf unnatürliche
Größe angeschwollen schien, pochte laut unter seinen Rippen. Er hatte
erwartet, dass die Anhörung länger dauern würde. Es schien ihm sehr
zweifelhaft, dass er einen guten Eindruck gemacht hatte. Eigentlich
hatte er gar nicht viel gesagt. Er hätte die Sache mit den Dementoren
ausführlicher erklären sollen, wie er gestürzt war, wie sie ihn und
Dudley fast geküsst hätten …
Zweimal blickte er hoch zu Fudge und öffnete den Mund, um zu
sprechen, aber sein geschwollenes Herz drückte ihm nun die Luftröhre
zu und beide Male atmete er nur tief ein und senkte den Blick wieder
auf die Schuhe.
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Dann verstummte das Flüstern. Harry wollte hochblicken zu den
Richtern, stellte aber fest, dass es im Grunde sehr viel leichter war,
weiterhin seine Schnürsenkel zu begutachten.
»Wer ist dafür, den Beschuldigten in allen Anklagepunkten
freizusprechen?«, dröhnte Madam Bones' Stimme.
Harrys Kopf zuckte hoch. Da waren Hände in der Höhe, viele
Hände … mehr als die Hälfte! Rasch atmend versuchte er zu zählen,
doch bevor er es geschafft hatte, fragte Madam Bones: »Und wer ist
für eine Verurteilung?«
Fudge hob die Hand; ein halbes Dutzend andere folgten ihm,
darunter die Hexe zu seiner Rechten, der Zauberer mit dem mächtigen
Schnurrbart und die Hexe mit den Kräuselhaaren in der zweiten
Reihe.
Fudge warf Blicke in die Runde mit einer Miene, als steckte ihm
etwas Dickes im Hals, dann ließ er die Hand sinken. Er atmete
zweimal durch und sagte mit einer Stimme, die von unterdrückter Wut
verzerrt war: »Nun denn, nun denn … in allen Punkten
freigesprochen.«
»Vortrefflich«, sagte Dumbledore munter, sprang auf, zog seinen
Zauberstab und ließ die beiden Chintz-Lehnstühle verschwinden.
»Nun, ich muss mich sputen. Einen guten Tag Ihnen allen.«
Und ohne Harry auch nur einmal anzusehen, rauschte er aus dem
Kerker.
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Mrs. Weasleys Wehklage
Dumbledores abruptes Verschwinden kam für Harry völlig
überraschend. Er blieb in dem Kettenstuhl sitzen und kämpfte mit
Gefühlen von Schock und Erleichterung. Die Zaubergamots erhoben
sich nun, unterhielten sich, sammelten ihre Papiere ein und packten sie
weg. Harry stand auf. Niemand schien im Mindesten auf ihn zu
achten, außer der krötenartigen Hexe zu Fudges Rechten, die nun zu
ihm statt zu Dumbledore hinabspähte. Er beachtete sie nicht weiter
und versuchte Fudges oder Madam Bones' Blick zu treffen, weil er sie
fragen wollte, ob er nun frei war und gehen durfte. Doch Fudge war
offenbar fest entschlossen, keine Notiz von Harry zu nehmen, und
Madam Bones war mit ihrer Aktenmappe beschäftigt, also machte er
ein paar zögernde Schritte in Richtung Tür, und als niemand ihn
zurückrief, ging er zügig drauflos.
Die letzten paar Meter nahm er im Laufschritt. Er riss die Tür auf
und wäre fast mit Mr. Weasley zusammengestoßen, der direkt davor
stand und blass und besorgt wirkte.
»Dumbledore hat nicht gesagt …«
»Freigesprochen«, sagte Harry und zog die Tür hinter sich zu, »in
allen Anklagepunkten!«
Mr. Weasley packte Harry freudestrahlend an den Schultern.
»Harry, das ist ja wunderbar! Natürlich hätten sie dich nie schuldig
sprechen können, nicht bei dieser Beweislage, und trotzdem kann ich
nicht behaupten, dass ich mir keine …«
Aber Mr. Weasley unterbrach sich, denn die Tür zum
Gerichtsraum war soeben wieder aufgegangen. Die Zaubergamots
kamen einer nach dem anderen heraus.
»Beim Barte des Merlin!«, rief Mr. Weasley verblüfft und zog
Harry beiseite, um sie alle vorbeizulassen. »Das gesamte Gericht hat
in deiner Sache verhandelt?«
»Ich glaub schon«, sagte Harry leise.
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Ein, zwei Zauberer nickten Harry im Vorbeigehen zu, und einige,
darunter Madam Bones, sagten »Morgen, Arthur« zu Mr. Weasley,
doch die meisten wandten ihren Blick ab. Cornelius Fudge und die
krötenartige Hexe gehörten zu den Letzten, die den Kerker verließen.
Fudge tat, als wären Mr. Weasley und Harry Luft, doch die Hexe warf
Harry im Vorübergehen abermals einen fast taxierenden Blick zu. Der
Letzte, der vorbeiging, war Percy. Wie Fudge ignorierte er Harry und
seinen Vater vollkommen; er schritt, eine große Rolle Pergament und
eine Hand voll übrig gebliebene Federn an sich gedrückt, mit steifem
Rücken und gereckter Nase an ihnen vorbei. Die Falten um Mr.
Weasleys Mund wurden eine Spur schärfer, doch ansonsten ließ er
sich nicht anmerken, dass er gerade seinen dritten Sohn gesehen hatte.
»Ich bring dich gleich wieder zurück, damit du den anderen die
gute Nachricht übermitteln kannst«, sagte er und winkte Harry weiter,
während Percys Absätze die Treppe zum neunten Stock hoch
verschwanden. »Ich setz dich auf dem Weg zu dieser Toilette in
Bethnal Green ab. Komm mit …«
»Ach, und was müssen Sie jetzt wegen dieser Toilette
unternehmen?«, fragte Harry grinsend. Alles kam ihm plötzlich
fünfmal lustiger vor als sonst. Allmählich drang es zu ihm durch: Er
war freigesprochen, er würde nach Hogwarts zurückkehren.
»Oh, das wird ein ziemlich simpler Gegenfluch«, sagte Mr.
Weasley, während sie die Treppen hochstiegen, »aber die Frage ist
weniger, wie man den Schaden reparieren kann, sondern eher, welche
Haltung hinter diesem Vandalismus steckt, Harry. Muggel zu
schikanieren mag manchen Zauberern witzig vorkommen, aber es ist
Ausdruck von etwas viel Abgründigerem und Bösartigerem, und ich
bin der Meinung …«
Mr. Weasley brach mitten im Satz ab. Sie hatten eben den Korridor
des neunten Stockwerks erreicht, und Cornelius Fudge stand nur ein
paar Schritte von ihnen entfernt und unterhielt sich leise mit einem
großen Mann mit glattem, blondem Haar und einem spitzen, blassen
Gesicht.
Der zweite Mann drehte sich beim Geräusch ihrer Schritte um.
Auch er brach mitten im Gespräch ab, und seine kalten grauen Augen
verengten sich und fixierten Harrys Gesicht.
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»Schön, schön, schön … Patronus Potter«, sagte Lucius Malfoy
kühl.
Harry rang nach Luft, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen.
Diese kalten grauen Augen hatte er zuletzt durch Schlitze in der
Kapuze eines Todessers gesehen, und die Stimme dieses Mannes hatte
er zuletzt auf einem dunklen Friedhof höhnisch lachen gehört,
während Lord Voldemort ihn folterte. Harry konnte nicht glauben,
dass Lucius Malfoy es wagte, ihm ins Gesicht zu blicken; er konnte
nicht glauben, dass er hier war, im Zaubereiministerium, und dass
Cornelius Fudge mit ihm sprach, obwohl Harry Fudge doch erst vor
einigen Wochen berichtet hatte, dass Malfoy ein Todesser war.
»Der Minister hat mir soeben von deinem glücklichen Entkommen
berichtet, Potter«, sagte Mr. Malfoy gedehnt. »Ganz erstaunlich, wie
du dich immer wieder aus den schlimmsten Engpässen herauswindest
… wie eine Schlange, in der Tat.«
Mr. Weasley packte Harry warnend an der Schulter.
»Jaah«, sagte Harry, »ja, ich bin gut im Entkommen.«
Lucius Malfoy hob die Augen und sah Mr. Weasley an.
»Und dann auch noch Arthur Weasley! Was tun Sie hier, Arthur?«
»Ich arbeite hier«, sagte Mr. Weasley knapp.
»Nicht hier, oder?«, sagte Mr. Malfoy, zog die Augenbrauen hoch
und warf einen Blick über Mr. Weasleys Schulter zur Tür. »Ich
dachte, Sie wären oben im zweiten Stock … Sie beschäftigen sich
doch irgendwie damit, Muggelartefakte nach Hause zu schmuggeln
und sie zu verzaubern?«
»Nein«, fauchte Mr. Weasley und seine Finger gruben sich nun in
Harrys Schulter.
»Was tun Sie eigentlich hier?«, fragte Harry Lucius Malfoy.
»Ich denke nicht, dass Privatangelegenheiten zwischen mir und
dem Minister dich irgendetwas angehen, Potter«, sagte Malfoy und
strich seinen Umhang glatt. Harry hörte deutlich ein leises Klimpern,
das nach einer Tasche voller Gold klang. »Im Ernst, nur weil du
Dumbledores Liebling bist, kannst du von uns anderen nicht die
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gleiche Nachgiebigkeit erwarten … wollen wir nun nach oben in Ihr
Büro gehen, Minister?«
»Gewiss«, sagte Fudge und kehrte Harry und Mr. Weasley den
Rücken. »Hier lang, Lucius.«
Sie schritten Seite an Seite davon und sprachen gedämpft weiter.
Mr. Weasley ließ Harrys Schulter erst los, als sie im Lift
verschwunden waren.
»Warum hat er nicht vor Fudges Büro gewartet, wenn sie doch
geschäftliche Dinge zu regeln haben?«, platzte Harry wütend los.
»Was hat der hier unten zu suchen?«
»Wenn du mich fragst, wollte er runter in den Gerichtssaal
schleichen«, antwortete Mr. Weasley äußerst aufgebracht und warf
einen Blick über die Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass
niemand mithörte. »Wollte rausfinden, ob sie dich von der Schule
verweisen. Ich hinterlasse eine Nachricht für Dumbledore, wenn ich
dich absetze, er sollte wissen, dass Malfoy schon wieder mit Fudge
geredet hat.«
»Und was für private Geschäfte machen die eigentlich
miteinander?«
»Gold, vermute ich«, sagte Mr. Weasley zornig. »Malfoy spendet
seit Jahren für alles Mögliche … verschafft ihm Zugang zu den
richtigen Leuten … dann kann er sie um Gefälligkeiten bitten …
Gesetzesvorhaben verschieben, die ihm nicht passen … oh, er hat
glänzende Beziehungen, dieser Lucius Malfoy.«
Der Fahrstuhl war angekommen; er war leer bis auf einen
Schwarm Memos, die um Mr. Weasleys Kopf flatterten, als er den
Knopf für das Atrium drückte und die Türen zuschepperten. Er
verscheuchte sie nervös fuchtelnd.
»Mr. Weasley«, sagte Harry langsam, »wenn Fudge Todesser wie
Malfoy empfängt, wenn er sie unter vier Augen trifft, woher wissen
wir, dass sie ihn nicht mit dem Imperius-Fluch belegt haben?«
»Natürlich haben wir daran auch schon gedacht, Harry«, sagte Mr.
Weasley leise. »Aber Dumbledore meint, dass Fudge gegenwärtig aus
freien Stücken handelt – was im Übrigen, wie Dumbledore sagt, auch
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kein großer Trost ist. Am besten reden wir vorerst nicht weiter
darüber, Harry.«
Die Türen glitten auf und sie traten hinaus in das inzwischen
nahezu verlassene Atrium. Eric, der Sicherheitszauberer, hatte sich
wieder hinter seinem Tagespropheten versteckt. Sie waren eben
geradewegs am goldenen Brunnen vorbeigegangen, als Harry etwas
einfiel.
»Warten Sie …«, sagte er zu Mr. Weasley, zog seinen Geldbeutel
aus der Tasche und lief zum Brunnen zurück.
Er blickte hoch in das Gesicht des stattlichen Zauberers, aber aus
der Nähe kam er Harry eher schwach und dümmlich vor. Die Hexe
hatte ein hohles Lächeln aufgesetzt wie eine Kandidatin bei einem
Schönheitswettbewerb, und nach dem, was Harry über Kobolde und
Zentauren wusste, würden sie kaum je irgendeinen Menschen derart
schleimend anstarren. Nur die kriecherisch dienstbare Haltung des
Hauselfen wirkte überzeugend. Harry grinste bei dem Gedanken, was
Hermine wohl sagen würde, wenn sie die Statue des Elfen sehen
könnte; dann stülpte er seinen Geldbeutel um und warf nicht nur zehn
Galleonen, sondern alles, was drin war. ins Becken.
»Ich hab's gewusst!«, jubelte Ron und stieß die Fäuste in die Luft.
»Du kommst immer mit allem durch!«
»Sie mussten dich freisprechen«, sagte Hermine, die am Rande
eines Nervenzusammenbruchs zu stehen schien, als Harry die Küche
betrat, und sich nun die zittrige Hand über die Augen legte, »die
hatten nichts gegen dich vorzuweisen, überhaupt nichts.«
»Ihr scheint aber trotzdem ziemlich erleichtert, obwohl euch doch
klar war, dass ich da rauskommen würde«, sagte Harry lächelnd.
Mrs. Weasley wischte sich mit ihrer Schürze übers Gesicht, und
Fred, George und Ginny begannen eine Art Kriegstanz und sangen:
»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«
»Das reicht jetzt! Beruhigt euch!«, rief Mr. Weasley, doch auch er
lächelte.
»Hör mal, Sirius, Lucius Malfoy war im Ministerium …«
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»Was?«, sagte Sirius scharf.
»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«
»Seid doch mal leise, ihr drei! Ja, wir haben ihn im neunten Stock
mit Fudge reden sehen, dann gingen sie zusammen hoch in Fudges
Büro. Dumbledore sollte das auch erfahren.«
»Natürlich«, meinte Sirius. »Wir sagen es ihm, mach dir keine
Sorgen.«
»Ich muss mich beeilen, in Bethnal Green wartet eine spuckende
Toilette auf mich. Molly, ich komm erst spät zurück, ich springe ja für
Tonks ein, aber Kingsley schaut vielleicht zum Abendessen vorbei
…«
»Er ist frei, er ist frei, er ist frei …«
»Nun ist es aber gut – Fred – George – Ginny!«, rief Mrs. Weasley,
als Mr. Weasley aus der Küche ging. »Harry, mein Lieber, komm und
setz dich, iss was zu Mittag, du hast doch kaum gefrühstückt.«
Ron und Hermine setzten sich ihm gegenüber. Seit Harry am
Grimmauldplatz angekommen war, hatte er sie nicht so glücklich
gesehen, und von neuem stieg das Schwindel erregende Gefühl der
Erleichterung in ihm hoch, das durch seine Begegnung mit Lucius
Malfoy einen kleinen Dämpfer erhalten hatte. Das düstere Haus kam
ihm nun schlagartig wärmer und gastfreundlicher vor; selbst Kreacher,
der eben seine Schnauzennase in die Küche streckte, um zu sehen,
woher all der Lärm kam, erschien ihm weniger hässlich.
»Natürlich, sobald Dumbledore an deiner Seite aufgetaucht war,
kam es überhaupt nicht mehr in Frage, dich zu verurteilen«, sagte Ron
glücklich, während er große Berge Kartoffelbrei auf ihre Teller häufte.
»Ja, er hat die Sache für mich rumgerissen«, bestätigte Harry. Er
wusste, es würde äußerst undankbar, wenn nicht gar kindisch klingen,
wenn er sagte: »Hätte er doch nur mal mit mir gesprochen. Oder mich
wenigstens angesehen.«
Und bei diesem Gedanken brannte die Narbe auf seiner Stirn so
schmerzhaft, dass er sich mit der Hand dagegen schlug.
»Was ist los?«, fragte Hermine erschrocken.
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»Narbe«, murmelte Harry. »Aber es ist nichts … passiert jetzt
dauernd …«
Von den anderen hatte keiner etwas bemerkt; alle taten sich jetzt
Essen auf und freuten sich diebisch über Harrys knappes Entkommen;
Fred, George und Ginny sangen immer noch. Hermine wirkte
ziemlich besorgt, doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Ron
freudig bemerkt: »Ich wette, Dumbledore taucht heute Abend auf und
feiert mit uns.«
»Ich glaube nicht, dass er Zeit dazu hat, Ron«, warf Mrs. Weasley
ein und stellte eine gewaltige Platte mit gebratenen Hähnchen vor
Harry auf den Tisch. »Er ist im Moment wirklich sehr beschäftigt.«
»ER IST FREI, ER IST FREI, ER IST FREI …«
»RUHE!«, donnerte Mrs. Weasley.
Während der nächsten Tage entging es Harry nicht, dass es
jemanden im Haus Grimmauldplatz Nummer zwölf gab, der nicht
ganz so begeistert davon war, dass Harry nach Hogwarts
zurückkehrte. Sirius hatte, als er die Neuigkeit erfuhr, ziemlich
überzeugend den Glücklichen gespielt, Harry die Hand gedrückt und
gestrahlt wie die anderen auch. Nicht lange jedoch und er war
launischer und mürrischer denn je, redete noch weniger mit allen,
selbst mit Harry, und verbrachte immer mehr Zeit im Zimmer seiner
Mutter, wo er sich mit Seidenschnabel einschloss.
»Fühl dich bloß nicht schuldig!«, sagte Hermine streng, nachdem
Harry ihr und Ron vorsichtig seine Gefühle anvertraut hatte, während
sie ein paar Tage später einen schimmeligen Schrank im dritten Stock
ausschrubbten. »Du gehörst nach Hogwarts und Sirius weiß das. Er ist
egoistisch, wenn du mich fragst.«
»Das ist ein bisschen hart, Hermine«, sagte Ron und versuchte mit
finsterer Miene ein Stück Schimmel abzukratzen, das fest an seinem
Finger klebte. »Du würdest auch nicht gern ohne Gesellschaft in
diesem Haus hier festsitzen.«
»Aber er hat doch Gesellschaft!«, rief Hermine. »Hier ist das
Hauptquartier des Phönixordens, oder nicht? Er hat sich nur große
Hoffnungen gemacht, dass Harry bald mit ihm hier leben würde.«
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»Ich glaub nicht, dass das stimmt«, erwiderte Harry und wrang sein
Tuch aus. »Er hat mir nicht mal eine klare Antwort gegeben, als ich
ihn danach gefragt hab.«
»Er wollte doch nur seine eigenen Hoffnungen nicht noch weiter
hochschrauben«, sagte Hermine altklug. »Und er hat sich
wahrscheinlich selber ein wenig schuldig gefühlt, denn ich glaube, im
Grunde hat er ein bisschen gehofft, sie würden dich rauswerfen. Dann
wärt ihr beide gemeinsam Verstoßene gewesen.«
»Jetzt hör auf zu spinnen!«, sagten Harry und Ron wie aus einem
Mund, doch Hermine zuckte nur die Achseln.
»Wie ihr meint. Aber manchmal denke ich, Rons Mutter hat Recht
und Sirius kriegt nicht ganz auf die Reihe, ob du nun du bist oder dein
Vater, Harry.«
»Willst du etwa sagen, er hat sie nicht mehr alle?«, erwiderte Harry
aufgebracht.
»Nein, ich glaube nur, dass er lange Zeit sehr einsam war«, sagte
Hermine schlicht.
In diesem Moment betrat Mrs. Weasley das Schlafzimmer.
»Immer noch nicht fertig?«, sagte sie und steckte den Kopf in den
Schrank.
»Ich dachte, du kommst, um uns zu sagen, dass wir mal Pause
machen sollen«, sagte Ron bitter. »Weißt du, wie viel Schimmel wir
weggemacht haben, seit wir hier sind?«
»Du wolltest den Orden unbedingt unterstützen«, sagte Mrs.
Weasley, »das kannst du, indem du dein Teil dazu beiträgst, dass das
Hauptquartier bewohnbar wird.«
»Ich komm mir vor wie ein Hauself«, grummelte Ron.
»Aha! Wenn du jetzt begreifst, was für ein schreckliches Leben sie
führen, engagierst du dich vielleicht ein bisschen mehr für
B.ELFE.R!«, sagte Hermine hoffnungsvoll, als Mrs. Weasley sie
wieder allein ließ. »Weißt du, vielleicht wäre es gar keine so schlechte
Idee, den Leuten mal richtig zu zeigen, wie furchtbar es ist, die ganze
Zeit zu putzen – wir könnten mal einen gesponserten Großputz im
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Gemeinschaftsraum von Gryffindor organisieren, alle Erlöse an
B.ELFE.R, das würde das Bewusstsein und die Kasse stärken.«
»Ich sponser dich, wenn du mit diesem Gebelfer aufhörst«,
murmelte Ron ärgerlich, aber so leise, dass nur Harry ihn hören
konnte.
Je näher das Ende der Ferien rückte, desto mehr schwelgte Harry in
Tagträumen von Hogwarts; er konnte e« nicht mehr erwarten, Hagrid
wieder zu sehen, Quidditch zu spielen und sogar durch die
Gemüsebeete zu den Kräuterkunde-Gewächshäusern zu schlendern;
wie herrlich würde es sein, endlich aus diesem staubigen, modrigen
Haus herauszukommen, wo die Hälfte der Schränke immer noch
verriegelt war und Kreacher einem aus dunklen Winkeln
Beleidigungen hinterherkeuchte. Allerdings erwähnte Harry in
Hörweite von Sirius mit Bedacht kein Wort davon.
Das Leben im Hauptquartier der Widerstandsbewegung gegen
Voldemort war nicht annähernd so interessant oder aufregend, wie
Harry erwartet hatte, bevor er es kennen gelernt hatte. Mitglieder des
Phönixordens gingen zwar regelmäßig ein und aus, mal blieben sie
zum Essen, mal nur für ein paar Minuten, in denen sie sich flüsternd
besprachen, doch Mrs. Weasley sorgte dafür, dass Harry und den
anderen nichts zu Ohren kam (ob lang gezogen oder nicht), und
niemand, nicht einmal Sirius, schien der Meinung zu sein, Harry
müsste noch ein wenig mehr erfahren, als er am Abend seiner Ankunft
gehört hatte.
Am allerletzten Tag der Ferien wischte Harry gerade Hedwigs Mist
vom Schrank, als Ron mit ein paar Umschlägen in ihr Schlafzimmer
kam.
»Die Bücherlisten sind angekommen«, sagte er und warf Harry,
der auf einem Stuhl stand, einen Umschlag zu. »Wird auch Zeit, ich
dachte, sie hätten's vergessen, normalerweise kommen sie viel früher
…«
Harry wischte den letzten Mist in einen Müllbeutel und schleuderte
ihn über Rons Kopf hinweg in den Papierkorb in der Ecke, der ihn
schluckte und laut rülpste. Dann öffnete er seinen Brief. Er enthielt
zwei Pergamentblätter: das eine mit der üblichen Erinnerung, dass das
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Schuljahr am ersten September begann; auf dem anderen wurde ihm
mitgeteilt, welche Bücher er für das kommende Jahr benötigte.
»Nur zwei neue«, sagte er und las die Liste. »Lehrbuch der
Zaubersprüche, Band 5, von Miranda Habicht, und Theorie magischer
Verteidigung von Wilbert Slinkhard.«
Knall.
Fred und George apparierten direkt neben Harry. Er hatte sich
inzwischen so daran gewöhnt, dass er nicht mal vom Stuhl fiel.
»Wir haben uns gerade gefragt, wer das Slinkhard-Buch auf die
Liste gesetzt hat«, sagte Fred beiläufig.
»Das heißt nämlich, dass Dumbledore einen neuen Lehrer für
Verteidigung gegen die dunklen Künste gefunden hat«, sagte George.
»Wurde auch Zeit«, sagte Fred.
»Was soll das heißen?«, fragte Harry und sprang neben ihnen zu
Boden.
»Naja, vor ein paar Wochen haben wir mit den Langziehohren
Mum und Dad abgehört«, erklärte ihm Fred, »und was wir so
mitgekriegt haben, war, dass Dumbledore echte Probleme hatte,
jemanden zu finden, der dieses Jahr den Job machen wollte.«
»Nicht gerade überraschend, wenn man bedenkt, was mit den
letzten vieren passiert ist«, bemerkte George.
»Einer rausgeworfen, einer tot, einem wurde das Gedächtnis
gelöscht und einer neun Monate lang in einen Koffer gesperrt«, sagte
Harry und zählte sie an den Fingern ab. »Ja, ich versteh, was ihr
meint.«
»Was hast du, Ron?«, fragte Fred.
Ron gab keine Antwort. Harry drehte sich zu ihm um.
Ron stand reglos da, den Mund leicht geöffnet, und starrte auf
seinen Brief aus Hogwarts.
»Was ist los?«, fragte Fred ungeduldig, trat hinter Ron und spähte
ihm über die Schulter auf das Pergament.
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Auch Fred klappte der Mund auf.
»Vertrauensschüler?«, sagte er und starrte ungläubig auf den Brief.
»Vertrauensschüler?«
George stürzte vor, riss Ron den Umschlag aus der anderen Hand
und schüttelte ihn aus. Harry sah etwas Scharlachrotes und Goldenes
in Georges Hand fallen.
»Nicht möglich«, hauchte George.
»Das ist ein Irrtum«, sagte Fred, schnappte Ron den Brief weg und
hielt ihn gegen das Licht, als wollte er das Wasserzeichen prüfen.
»Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde Ron zum
Vertrauensschüler machen.«
Die Zwillinge wandten gleichzeitig die Köpfe und starrten Harry
an.
»Wir dachten, du hättest das schon in der Tasche!«, sagte Fred in
einem Ton, der klang, als hätte Harry sie irgendwie reingelegt.
»Wir dachten, Dumbledore könnte nur dich wählen!«, sagte
George entrüstet.
»Wo du das Trimagische gewonnen hast und überhaupt!«, sagte
Fred.
»Vermutlich haben diese ganzen verrückten Geschichten gegen ihn
gesprochen«, sagte George zu Fred.
»Jaah«, sagte Fred langsam. »Ja, du hast zu viel Ärger gemacht,
Mann. Naja, wenigstens einer von euch weiß seine Prioritäten zu
setzen.«
Er trat hinüber zu Harry und klopfte ihm auf die Schulter,
gleichzeitig warf er Ron einen vernichtenden Blick zu.
»Vertrauensschüler … Putzi-Putzi-Ronnie, der Vertrauensschüler.«
»Ooh, Mum wird völlig durchdrehen«, stöhnte George und streckte
Ron das Vertrauensschülerabzeichen entgegen, als könnte es ihn
vergiften.
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Ron, der immer noch kein Wort gesagt hatte, nahm das Abzeichen,
musterte es kurz, dann hielt er es Harry hin, als würde er wortlos um
Bestätigung bitten, dass es echt war. Harry nahm es in die Hand. Auf
den Gryffindor-Löwen war ein großes »V« geprägt. Er hatte an
seinem ersten Tag in Hogwarts genau ein solches Abzeichen auf
Percys Brust gesehen.
Die Tür krachte auf. Hermine kam hereingestürmt, mit geröteten
Wangen und wehendem Haar. In der Hand hielt sie einen Umschlag.
»Habt ihr – habt ihr …?«
Sie bemerkte das Abzeichen in Harrys Hand und stieß einen
spitzen Schrei aus.
»Ich wusste es!«, rief sie erregt und wedelte mit ihrem Brief. »Ich
auch, Harry, ich auch!«
»Nein«, entgegnete Harry rasch und drückte Ron das Abzeichen
wieder in die Hand. »Nicht ich, Ron ist es.«
»Es – was?«
»Ron ist Vertrauensschüler, nicht ich«, sagte Harry.
»Ron?«, sagte Hermine und die Kinnlade fiel ihr herunter. »Aber
… bist du sicher? Ich meine …«
Sie errötete, als Ron ihr mit trotziger Miene das Gesicht zuwandte.
»In dem Brief steht mein Name«, sagte er.
»Ich …«, erwiderte Hermine abgrundtief verwirrt. »Ich … nun …
irre! Toll, Ron! Das ist wirklich …«
»Unerwartet.« George nickte.
»Nein«, sagte Hermine und wurde noch röter, »nein, ist es nicht …
Ron hat 'ne Menge ge… er ist wirklich …«
Die Tür hinter ihr ging ein wenig weiter auf und Mrs. Weasley
kam mit einem Stapel frisch gewaschener Umhänge rücklings ins
Zimmer.
»Ginny meint, die Bücherliste ist endlich gekommen«, sagte sie,
blickte auf all die Umschläge ringsum, trat hinüber zum Bett und fing
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an, die Umhänge auf zwei Stapel zu verteilen. »Wenn ihr sie mir gebt,
nehme ich sie heute Nachmittag mit rüber in die Winkelgasse und
besorg euch die Bücher, während ihr packt. Ron, ich muss dir noch
Schlafanzüge kaufen, die hier sind mindestens zehn Zentimeter zu
kurz, nicht zu fassen, wie schnell du wächst … welche Farbe hättest
du denn gern?«
»Kauf ihm doch was Rot-Goldenes, passend zu seinem
Abzeichen«, sagte George und feixte.
»Passend zu was?«, fragte Mrs. Weasley zerstreut, rollte ein Paar
kastanienbraune Socken zusammen und legte sie auf Rons Stapel.
»Seinem Abzeichen«, sagte Fred mit einer Miene, als wolle er das
Schlimmste rasch hinter sich bringen. »Seinem hübschen glänzenden
neuen Vertrauensschülerabzeichen.« Es dauerte einen Moment, bis
Freds Worte zu der mit den Schlafanzügen beschäftigten Mrs.
Weasley durchgedrungen waren.
»Seinem … aber … Ron, du bist doch nicht …?«
Ron hielt sein Abzeichen hoch.
Wie Hermine stieß auch Mrs. Weasley einen spitzen Schrei aus.
»Ich kann's nicht fassen! Ich glaub es nicht! Oh, Ron, wie
wunderbar! Vertrauensschüler! Wie alle in der Familie!«
»Und was sind Fred und ich, Nachbarn von nebenan?«, sagte
George beleidigt, aber seine Mutter schob ihn beiseite und schloss
ihren jüngsten Sohn in die Arme.
»Wenn dein Vater das erfährt! Ron, ich bin so stolz auf dich, das
sind ja wunderbare Neuigkeiten, am Ende wirst du noch
Schulsprecher wie Bill und Percy, das ist der erste Schritt! Oh, dass so
etwas passiert, mitten in all den schweren Zeiten! Ich find's einfach
toll, oh, Ronnie …«
Fred und George machten hinter ihrem Rücken laute
Würgegeräusche, doch Mrs. Weasley beachtete sie nicht; die Arme
fest um Rons Hals geschlungen, küsste sie ihm das Gesicht ab, das
inzwischen ein leuchtenderes Scharlachrot angenommen hatte als sein
Abzeichen.
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»Mum … nicht … Mum, ist ja schon gut …«, murmelte er und
versuchte sich von ihr zu lösen.
Sie ließ von ihm ab. »Nun, was soll es sein?«, sagte sie atemlos.
»Percy haben wir eine Eule geschenkt, aber du hast natürlich schon
eine.«
»W-was meinst du?«, fragte Ron und sah drein, als würde er seinen
Ohren nicht trauen.
»Dafür musst du doch eine Belohnung kriegen!«, sagte Mrs.
Weasley liebevoll. »Wie wär's mit einer hübschen neuen Garnitur
Festumhänge?«
»Wir haben ihm schon was in der Richtung gekauft«, sagte Fred
säuerlich und sah aus, als würde er diese Großzügigkeit aufrichtig
bedauern.
»Oder einen neuen Kessel, Charlies alter rostet ja durch, oder eine
neue Ratte, du hast doch Krätze immer so gemocht …«
»Mum«, sagte Ron hoffnungsvoll, »kann ich einen neuen Besen
haben?«
Mrs. Weasleys Gesicht fiel ein wenig ein; Besen waren teuer.
»Keinen wirklich guten!«, fügte Ron hastig hinzu. »Nur – nur
einen neuen – zur Abwechslung mal …«
Mrs. Weasley zögerte, dann lächelte sie.
»Natürlich … nun, ich beeil mich besser, wenn ich dir noch einen
Besen kaufen soll. Wir sehen uns dann alle später … der kleine
Ronnie, ein Vertrauensschüler! Und vergesst nicht, eure Koffer zu
packen … Vertrauensschüler … oh, ich bin ganz hibbelig!«
Sie gab Ron noch einen Kuss auf die Wange, schniefte laut und
wuselte hinaus.
Fred und George tauschten Blicke.
»Es macht dir doch nichts aus, wenn wir dich nicht küssen, Ron?«,
erkundigte sich Fred in gespielt besorgtem Tonfall.
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»Wir könnten einen Knicks machen, wenn du magst«, sagte
George.
»Ach, haltet die Klappe«, erwiderte Ron und blickte sie finster an.
»Und wenn nicht?«, sagte Fred und ein böses Grinsen machte sich
auf seinem Gesicht breit. »Willst du uns Strafarbeiten verpassen?«
»Würd ja gern mal sehen, wie er's versucht«, kiekste George.
»Das könnte er, seht euch vor!«, erregte sich Hermine.
Fred und George prusteten los und Ron murmelte: »Lass gut sein,
Hermine.«
»In Zukunft müssen wir aber aufpassen, George«, sagte Fred und
tat, als würde er zittern, »wenn die beiden hinter uns her sind …«
»Ja, sieht so aus, als wäre unsere kriminelle Karriere endlich
vorbei«, sagte George kopfschüttelnd.
Und mit einem lauten Knall disapparierten die Zwillinge.
»Diese beiden!«, sagte Hermine zornig und starrte an die Decke,
durch die sie Fred und George jetzt im Zimmer oben dröhnend lachen
hören konnten. »Mach dir nichts draus, Ron, die sind nur
eifersüchtig!«
»Das glaub ich nicht«, entgegnete Ron mit zweifelnder Miene und
blickte ebenfalls zur Decke. »Die haben immer gesagt, nur Schwätzer
werden Vertrauensschüler … aber immerhin«, fügte er ein wenig
besser gelaunt hinzu, »haben sie auch nie einen neuen Besen gekriegt!
Wenn ich nur mit Mum gehen und selbst aussuchen könnte … einen
Nimbus wird sie sich nie leisten können, aber es gibt einen neuen
Sauberwisch, der war klasse … ja, ich glaub, ich geh und sag ihr, ich
hätte gern den Sauberwisch, nur damit sie Bescheid weiß …«
Er flitzte aus dem Zimmer und lie ß Harry und Hermine allein.
Aus irgendeinem Grund war Harry nicht danach zumute, Hermine
anzusehen. Er drehte sich zum Bett um, nahm den Stapel sauberer
Umhänge, den Mrs.
Weasley dort abgelegt hatte, und ging durchs Zimmer zu seinem
Koffer.
- 184 -
»Harry«, sagte Hermine vorsichtig.
»Toll, Hermine«, sagte Harry, so buttrig, dass es gar nicht nach
ihm klang, und immer noch ohne sie anzusehen fügte er hinzu:
»Hervorragend. Vertrauensschülerin. Großartig.«
»Danke«, sagte Hermine. »Ähm – Harry – könnte ich mir Hedwig
ausleihen, damit ich es Mum und Dad schreiben kann? Die werden
sich echt freuen – immerhin, Vertrauensschülerin ist etwas, das sie
verstehen können.«
»Ja klar, kein Problem«, sagte Harry, immer noch mit der buttrigen
Stimme, die nicht nach seiner klang. »Nimm sie nur!«
Er beugte sich über seinen Koffer, legte die Umhänge hinein und
tat so, als würde er nach etwas stöbern, während Hermine hinüber
zum Schrank ging und Hedwig herunterrief. Einige Augenblicke
vergingen; Harry hörte die Tür gehen, blieb aber vornübergebeugt
stehen und lauschte. Alles, was er nun hören konnte, waren das leere
Bild an der Wand, das erneut kicherte, und der Papierkorb in der
Ecke, der den Eulenmist aushustete.
Er richtete sich auf und blickte sich um. Hermine war gegangen
und Hedwig war verschwunden. Harry kehrte langsam zu seinem Bett
zurück, ließ sich darauf sinken und starrte mit leerem Blick den Fuß
des Schrankes an.
Er hatte völlig vergessen, dass im fünften Jahr die
Vertrauensschüler ausgewählt wurden. Er hatte sich zu viele Sorgen
darüber gemacht, dass er womöglich von der Schule verwiesen wurde,
um einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass bereits Abzeichen
auf geflügeltem Weg zu bestimmten Leuten sein mussten. Aber wenn
es ihm doch eingefallen wäre … wenn er nun doch daran gedacht
hätte … was hätte er dann erwartet?
Nicht das, sagte eine leise und ehrliche Stimme in seinem Kopf.
Harry verzog das Gesicht und vergrub es in den Händen. Er konnte
sich nicht selbst belügen; wenn er gewusst hätte, dass das
Vertrauensschülerabzeichen unterwegs war, dann hätte er erwartet, es
würde zu ihm kommen, nicht zu Ron. War er nun genauso hochmütig
- 185 -
wie Draco Malfoy? Hielt er sich für allen anderen überlegen? Glaubte
er wirklich, dass er besser war als Ron?
Nein, sagte die leise Stimme trotzig.
War das die Wahrheit?, fragte sich Harry und horchte beunruhigt
in sich hinein.
Ich bin besser im Quidditch, sagte die Stimme. Aber sonst bin ich
in nichts besser.
Das stimmte eindeutig, dachte Harry; im Unterricht war er nicht
besser als Ron. Aber wie war es sonst? Was war mit all den
Abenteuern, die er, Ron und Hermine zusammen erlebt hatten, seit sie
in Hogwarts waren, und bei denen sie oft Schlimmeres als den
Rauswurf riskiert hatten?
Jedenfalls waren Ron und Hermine die meiste Zeit mit mir
zusammen, sagte die Stimme in Harrys Kopf.
Allerdings nicht die ganze Zeit, sagte Harry zu sich selbst. Sie
haben nicht mit mir gegen Quirrell gekämpft. Sie haben es nicht mit
Riddle und dem Basilisken aufgenommen. Sie haben nicht all die
Dementoren verjagt in der Nacht, als Sirius geflohen ist. Sie waren
nicht mit mir zusammen auf diesem Friedhof, in der Nacht, als
Voldemort zurückkam …
Und wieder stieg das Gefühl in ihm hoch, schlecht behandelt zu
werden, das ihn schon am Abend seiner Ankunft beschlichen hatte.
Ich hab eindeutig mehr geleistet, dachte Harry entrüstet. Ich hab mehr
geleistet als die beiden!
Aber vielleicht, sagte die leise Stimme klar vernehmlich, vielleicht
bestimmt Dumbledore jemanden nicht deshalb zum
Vertrauensschüler, weil er in eine Menge gefährliche Situationen
geraten ist … vielleicht trifft er seine Wahl aus anderen Gründen …
Ron muss etwas haben, das du nicht …
Harry öffnete die Augen und lugte durch seine Finger auf die
Klauenfüße des Schrankes. Ihm ging durch den Kopf, was Fred gesagt
hatte: »Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde Ron zum
Vertrauensschüler machen …«
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Harry lachte kurz auf. Einen Moment später fand er sich selbst
ekelhaft.
Ron hatte Dumbledore nicht um das Abzeichen gebeten. Ron
konnte nichts dafür. Wollte er, Harry, Rons allerbester Freund, den
Beleidigten spielen, nur weil er kein Abzeichen hatte, wollte er sich
wie die Zwillinge über Ron lustig machen, ihm alles verderben, nun,
da Ron ihm zum ersten Mal etwas voraushatte?
In diesem Moment hörte er wieder Rons Schr itte auf der Treppe.
Er stand auf, rückte seine Brille zurecht und setzte ein Grinsen auf, als
Ron durch die Tür stürmte.
»Hab sie grade noch erwischt«, sagte er freudestrahlend. »Sie will
den Sauberwisch besorgen, wenn's geht.«
»Cool«, sagte Harry und hörte erleichtert, dass seine Stimme nicht
mehr so buttrig klang. »Hör mal – Ron – toll, Mann.«
Das Lächeln schwand aus Rons Gesicht.
»Ich hätte nie gedacht, dass er mich nimmt!«, sagte er
kopfschüttelnd. »Ich dachte, du wirst es!«
»Nö, ich hab zu viel Ärger gemacht«, wiederholte Harry, was
schon Fred gesagt hatte.
»Jaah«, sagte Ron, »ja, wahrscheinlich … also, vielleicht sollten
wir jetzt unsere Koffer packen, was?«
Es war merkwürdig, wie sich ihre Habseligkeiten seit ihrer
Ankunft in alle Himmelsrichtungen verstreut hatten. Sie brauchten
fast den gesamten Nachmittag, um ihre Bücher und Sachen im ganzen
Haus zusammenzusuchen und sie wieder in ihren Schulkoffern zu
verstauen. Harry fiel auf, dass Ron sein Vertrauensschülerabzeichen
ständig mit sich herumtrug. Erst hatte er es aufs Nachttischchen
gelegt, dann steckte er es in die Tasche seiner Jeans, schließlich holte
er es wieder heraus und legte es auf seine gefalteten Umhänge, als
wolle er prüfen, wie das Rot auf dem Schwarz wirkte. Erst als Fred
und George vorbeischauten und ihm anboten, das Abzeichen mit
einem Dauerklebefluch an seine Stirn zu heften, wickelte er es
liebevoll in einen seiner kastanienbraunen Socken und schloss es in
den Koffer.
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Gegen sechs kam Mrs. Weasley aus der Winkelgasse zurück,
beladen mit Büchern und einem länglichen, in dickes Packpapier
gewickelten Paket, das Ron ihr mit einem sehnsuchtsvollen Stöhnen
abnahm.
»Du brauchst es jetzt gar nicht erst auszupacken, die anderen
kommen gleich zum Abendessen, ich will euch sofort unten sehen«,
sagte sie, doch kaum war sie außer Sicht, riss Ron in wilder Hektik
das Paket auf und musterte mit verzückter Miene jeden Zentimeter
seines neuen Besens.
Unten im Keller hatte Mrs. Weasley ein scharlachrotes Spruchband
über den schwer beladenen Tisch gespannt, auf dem stand:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH
DEN NEUEN VERTRAUENSSCHÜLERN
RON UND HERMINE
Harry hatte Mrs. Weasley während der ganzen Ferien nicht in so
guter Stimmung gesehen.
»Heute gibt's kein Abendessen am Tisch, hab ich mir gedacht,
sondern eine kleine Party«, verkündete sie Harry, Ron, Hermine, Fred,
George und Ginny, als sie in die Küche kamen. »Dein Vater und Bill
sind unterwegs, Ron. Ich hab ihnen Eulen geschickt und sie sind
einfach hin und weg«, fügte sie strahlend hinzu.
Fred verdrehte die Augen.
Sirius, Lupin, Tonks und Kingsley Shacklebolt waren schon da,
und gerade als Harry sich ein Butterbier eingeschenkt hatte, stapfte
Mad-Eye Moody herein.
»Oh, Alastor, ich bin froh, dass du hier bist«, empfing ihn Mrs.
Weasley fröhlich, während Mad-Eye seinen Reisemantel ablegte.
»Wir wollten dich schon ewig um einen Gefallen bitten – könntest du
einen Blick in das Schreibpult im Salon werfen und uns sagen, was
dort drinsteckt? Wir wollten es nicht öffnen, falls es etwas wirklich
Bösartiges ist.«
»Kein Problem, Molly …«
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Moodys strahlend blaues Auge schwenkte nach oben und starrte
unverwandt durch die Küchendecke.
»Salon …«, knurrte er und die Pupille verengte sich. »Schreibpult
in der Ecke? Ja, ich seh's … jaah, ist ein Irrwicht … soll ich
hochgehen und ihn erledigen, Molly?«
»Nein, nein, das mach ich später dann selbst«, strahlte Mrs.
Weasley, »du trinkst jetzt erst mal was. Wir haben übrigens eine
kleine Feier …« Sie deutete auf das scharlachrote Spruchband. »Der
vierte Vertrauensschüler in der Familie!«, sagte sie liebevoll und
zerzauste Ron die Haare.
»Vertrauensschüler, he?«, knurrte Moody, richtete das normale
Auge auf Ron und schwenkte das magische Auge, so dass es seitlich
in seinen Kopf hineinstarrte. Harry hatte das äußerst unangenehme
Gefühl, es würde ihn ansehen, und verzog sich zu Sirius und Lupin.
»Nun, Glückwunsch«, sagte Moody und sah Ron weiterhin mit
dem normalen Auge an. »Autoritätspersonen ziehen ständig Ärger an,
aber ich vermute, Dumbledore glaubt, dass du den meisten schweren
Flüchen widerstehen kannst, sonst hätte er dich nicht ernannt …«
Ron schien recht verdutzt über diese Sicht der Dinge, konnte sich
jedoch eine Antwort ersparen, da in diesem Moment sein Vater und
sein ältester Bruder hereinkamen. Mrs. Weasley war so gut gelaunt,
dass sie sich nicht einmal darüber beschwerte, dass sie Mundungus
mitgebracht hatten. Er trug einen langen Mantel, der an den
merkwürdigsten Stellen fürchterlich ausgebeult wirkte, und lehnte das
Angebot ab, ihn auszuziehen und zu Moodys Reisemantel zu hängen.
»Nun, ich denke, ein Toast wäre angebracht«, sagte Mr. Weasley,
als sie mit Getränken versorgt waren. Er hob seinen Kelch. »Auf Ron
und Hermine, die neuen Vertrauensschüler von Gryffindor!«
Ron und Hermine strahlten, während alle auf ihr Wohl tranken und
dann applaudierten.
»Ich war nie Vertrauensschülerin«, hörte Harry Tonks gut gelaunt
hinter sich sagen, als alle zum Tisch gingen, um sich Essen aufzutun.
Ihr Haar war heute tomatenrot und hüftlang; sie hätte Ginnys ältere
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Schwester sein können. »Meine Hauslehrerin meinte, mir würden
gewisse notwendige Eigenschaften fehlen.«
»Wie zum Beispiel?«, fragte Ginny und nahm sich eine
Backkartoffel.
»Wie die Fähigkeit, mich zu benehmen«, sagte Tonks.
Ginny lachte; Hermine sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie lächeln
sollte oder nicht, und beschied sich damit, einen besonders großen
Schluck Butterbier zu nehmen, an dem sie sich verschluckte.
»Und was ist mit dir, Sirius?«, fragte Ginny, während sie Hermine
auf den Rücken klopfte.
Sirius, der neben Harry stand, ließ sein bellendes Lachen hören.
»Keiner hätte mich zum Vertrauensschüler gemacht, ich hab zu
viele Strafstunden mit James abgesessen. Lupin war damals der brave
Junge, er hat das Abzeichen gekriegt.«
»Dumbledore hat anscheinend gehofft, ich könnte meine besten
Freunde ein wenig bändigen«, sagte Lupin. »Ich muss wohl kaum
sagen, dass ich jämmerlich gescheitert bin.«
Harrys Laune besserte sich schlagartig. Sein Vater war auch kein
Vertrauensschüler gewesen. Auf einmal erschien ihm das Fest viel
vergnüglicher; er lud sich seinen Teller voll und freute sich doppelt
über alle Leute, die da waren.
Ron schwärmte jedem, der es hören wollte, von seinem neuen
Besen vor. »… von null auf siebzig in zehn Sekunden, nicht schlecht,
was? Wenn man bedenkt, dass es der Komet Zwei-Neunzig laut
Besentest nur von null auf sechzig bringt, und zwar mit ordentlichem
Rückenwind …«
Hermine legte Lupin sehr ernsthaft ihre Ansichten über Elfenrechte
dar.
»Das ist doch der gleiche Unsinn wie die Ausgrenzung der
Werwölfe, oder? Das kommt alles von dieser schrecklichen Neigung
der Zauberer zu denken, dass sie anderen Geschöpfen überlegen sind
…«
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Mrs. Weasley und Bill hatten ihre übliche Auseinandersetzung
über Bills Haare. »… da musst du jetzt unbedingt was machen, wo du
doch eigentlich so gut aussiehst, kürzer würde dir viel besser stehen,
nicht wahr, Harry?«
»Oh – weiß nicht …«, sagte Harry, gelinde erschrocken, dass seine
Meinung gefragt war; er stahl sich davon, hinüber zu Fred und
George, die in einer Ecke die Köpfe mit Mundungus
zusammengesteckt hatten.
Mundungus verstummte, als er Harry sah, aber Fred zwinkerte
Harry zu und winkte ihn heran.
»Schon in Ordnung«, erklärte er Mundungus, »Harry können wir
vertrauen, er ist unser Finanzier.«
»Schau mal, was Dung uns mitgebracht hat«, sagte George und
streckte Harry die Hand entgegen. Sie war, wie es aussah, voll
schrumpliger schwarzer Schoten. Ein leises Rasseln ging von ihnen
aus, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegten.
»Giftige Tentakelsamen«, sagte George. »Die brauchen wir für
unsere Nasch-und-Schwänz-Leckereien, aber sie sind
Nichtverkäufliche Substanzen der Klasse C, also hatten wir 'ne Menge
Schwierigkeiten, sie zu kriegen.«
»Wie sieht's aus, Dung, zehn Galleonen für alle?«, sagte Fred.
»Beim ganzen Ärger, den ich gehabt hab, bis ich die
beisammenhatte?«, erwiderte Mundungus und seine triefenden,
blutunterlaufenen Augen wurden noch größer. »Tut mir Leid, Jungs,
zwanzig, und keinen Knut weniger.«
»Dung macht gern Witze«, sagte Fred zu Harry gewandt.
»Ja, sein bester bisher waren sechs Sickel für einen Sack
Knarlkiele«, sagte George.
»Vorsicht«, warnte sie Harry leise.
»Was denn?«, meinte Fred. »Mum ist doch nur noch am Gurren
wegen Ron, unserem Vertrauensschüler, mach dir keine Sorgen.«
»Aber Moody könnte sein Auge auf euch werfen«, erklärte Harry.
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Mundungus blickte nervös über die Schulter.
»Da hat er völlig Recht«, grunzte er. »Na schön, Jungs, 'nen
Zehner, aber macht mal hinne.«
»Danke, Harry!«, sagte Fred entzückt, als Mundungus seine
Taschen in die ausgestreckten Hände der Zwillinge gele ert hatte und
dann eilends in Richtung Büffet verschwunden war. »Die bringen wir
am besten gleich nach oben …«
Harry sah ihnen mit leisem Unbehagen nach. Ihm war mit einem
Mal eingefallen, dass Mr. und Mrs. Weasley sich fragen würden, wie
Fred und George ihren Scherzartikelladen finanzierten, wenn sie, was
unvermeidlich war, eines Tages davon erfuhren. Er hatte den
Zwillingen damals seinen Gewinn aus dem Trimagischen Turnier
ohne groß nachzudenken geschenkt, aber was, wenn das zu einem
neuen Familienkrach führte und zu einer Entfremdung wie schon bei
Percy? Würde Mrs. Weasley Harry immer noch als eine Art Sohn
betrachten, wenn sie herausfand, dass er es Fred und George
ermöglicht hatte, eine Laufbahn einzuschlagen, die sie für völlig
unpassend hielt?
Er stand da, wo die Zwillinge ihn verlassen hatten, nur mit einem
drückenden Schuldgefühl in der Magengrube, als er seinen Namen
hörte. Kingsley Shacklebolts tiefe Stimme war auch durch das
allgemeine Geschnatter hindurch zu verstehen.
»… warum hat Dumbledore nicht Potter zum Vertrauensschüler
gemacht?«, fragte Kingsley.
»Er wird seine Gründe gehabt haben«, antwortete Lupin.
»Aber damit hätte er ihm sein Vertrauen bewiesen. Ich an seiner
Stelle jedenfalls hätte es getan«, beharrte Kingsley, »gerade weil sich
der Tagesprophet alle paar Tage über ihn hermacht …«
Harry wandte sich nicht um, er wollte nicht, dass Lupin oder
Kingsley merkten, dass er zugehört hatte. Obwohl er kein bisschen
hungrig war, folgte er Mundungus zurück an den Tisch. Seine Freude
an dem Fest war so rasch verflogen, wie sie gekommen war; am
liebsten wäre er oben in seinem Bett gewesen.
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Mad-Eye Moody beschnüffelte mit den Resten seiner Nase ein
Hühnerbein; offensichtlich konnte er keine Spuren von Gift
entdecken, denn schon riss er mit den Zähnen eine Strähne Fleisch ab.
»… der Stiel ist aus spanischer Eiche mit Anti-Fluch-Lackierung
und eingebauter Vibrationskontrolle …«, erklärte Ron gerade Tonks.
Mrs. Weasley gähnte herzhaft.
»Ach, ich glaub, diesen Irrwicht erledige ich noch, bevor ich ins
Bett gehe … Arthur, ich will nicht, dass diese Rasselbande zu lange
aufbleibt, ja? Gute Nacht, Harry, mein Lieber.«
Sie verließ die Küche. Harry stellte seinen Teller ab und überlegte,
ob er ihr folgen konnte, ohne Aufsehen zu erregen.
»Alles in Ordnung mit dir, Potter?«, brummte Moody.
»Jaah, alles klar«, log Harry.
Moody nahm einen Schluck aus seinem Flachmann, während sein
strahlend blaues Auge Harry von der Seite her anstarrte.
»Schau mal, ich hab was, das dich vielleicht interessieren wird«,
sagte er.
Aus einer Innentasche seines Umhangs zog Moody ein sehr
zerknittertes altes Zaubererfoto.
»Original der Orden des Phönix«, knurrte Moody. »Hab's gestern
Nacht gefunden, als ich nach meinem zweiten Tarnumhang gesucht
hab, dieser Podmore hat ja nicht mal den Anstand, mir meinen besten
zurückzubringen … dachte, die Leute würden es gern sehen.«
Harry nahm das Foto in die Hand. Eine kleine Gruppe von
Menschen schaute zu ihm hoch, manche winkten, andere hoben ihre
Gläser.
»Das bin ich«, sagte Moody und deutete überflüssigerweise auf
sich selbst. Der Moody im Bild war nicht zu verwechseln, auch wenn
sein Haar nicht ganz so grau und seine Nase heil war. »Und das neben
mir ist Dumbledore, auf der anderen Seite Dädalus Diggel … das ist
Marlene McKinnon, sie wurde zwei Wochen nach dieser Aufnahme
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umgebracht, die haben ihre ganze Familie ausgelöscht. Das sind Frank
und Alice Longbottom …«
Harrys Magen, ohnehin schon flau, verkrampfte sich, als er Alice
Longbottom ansah; er kannte ihr rundes, freundliches Gesicht sehr
gut, obwohl er sie nie getroffen hatte, denn ihr Sohn Neville war ihr
wie aus dem Gesicht geschnitten.
»… arme Teufel«, knurrte Moody. »Besser der Tod als das, was
mit ihnen geschehen ist … und das ist Emmeline Vance, du hast sie
schon kennen gelernt, und das hie r ist natürlich Lupin … Benjy
Fenwick, auch ihn hat's erwischt, wir haben nur Stücke von ihm
gefunden … rückt mal auf hier«, fügte er hinzu und stupste gegen das
Bild, und die kleinen Leute im Foto rückten zur Seite, so dass, wer
bisher halb verdeckt gewesen war, nach vorn kommen konnte.
»Das ist Edgar Bones … Bruder von Amelia Bones, ihn und seine
Familie haben sie auch erwischt, war ein großartiger Zauberer …
Sturgis Podmore, verdammt, sieht der jung aus … Caradoc Dearborn,
sechs Monate später verschwunden, wir haben seine Leiche nie
gefunden … Hagrid, sieht natürlich genauso aus wie immer …
Elphias Doge, den hast du kennen gelernt, hatte ganz vergessen, dass
er immer diesen blöden Hut trug … Gideon Prewett, fünf Todesser
waren nötig, ihn und seinen Bruder Fabian zu töten, sie haben
gekämpft wie Helden … weiterrücken, weiterrücken …«
Die kleinen Leute in dem Foto drängelten und schubsten ein wenig
und die bislang ganz hinten Verborgenen erschienen vorn im Bild.
»Das ist Dumbledores Bruder Aberforth, das ein zige Mal, dass ich
ihn getroffen hab, merkwürdiger Kerl … das ist Dorcas Meadowes,
Voldemort hat sie eigenhändig umgebracht … Sirius, als er noch
kurze Haare hatte … und … da sind sie, ich dachte, das würd dich
interessieren!«
Harry blieb das Herz stehen. Seine Mutter und sein Vater strahlten
zu ihm hoch. Sie saßen zu beiden Seiten eines kleinen Mannes mit
wässrigen Augen, den Harry sofort als Wurmschwanz erkannte, der
den Aufenthaltsort seiner Eltern an Voldemort verraten und so ihren
Tod mit herbeigeführt hatte.
»Na?«, sagte Moody.
- 194 -
Harry blickte in Moodys tief vernarbtes und zerfurchtes Gesicht.
Offensichtlich glaubte Moody, er hätte Harry soeben eine Art Gefallen
getan.
»Ja«, sagte Harry und versuchte wieder zu grinsen. »Ähm … hören
Sie, mir ist gerade eingefallen, ich hab meinen Koffer noch nicht …«
Es blieb ihm erspart, sich etwas einfallen zu lassen, was er mit dem
Koffer noch nicht gemacht hatte. Sirius hatte gerade gesagt: »Was
hast du da, Mad-Eye?«, und Moody hatte sich ihm zugewandt. Harry
durchquerte die Küche, glitt durch die Tür und die Treppe hoch, bevor
ihn noch jemand zurückrufen konnte.
Er wusste nicht, warum es ein solcher Schock gewesen war.
Schließlich hatte er früher schon Bilder seiner Eltern gesehen und er
hatte Wurmschwanz getroffen … aber sie so plötzlich vorgesetzt zu
kriegen, wenn er es am wenigsten erwartet hätte … darüber würde
sich niemand freuen, dachte er zornig …
Und sie dann auch noch von all diesen anderen glücklichen
Gesichtern umgeben zu sehen … von Benjy Fenwick, den sie in
Stücken gefunden hatten, und Gideon Prewett, der wie ein Held
gestorben war, und den Longbottoms, die durch Folter in den
Wahnsinn getrieben worden waren … alle winkten sie für immer und
ewig aus dem Foto, ohne zu wissen, dass sie dem Tod geweiht waren
… Moody fand das vielleicht interessant … er, Harry, fand es
beunruhigend …
Harry ging auf Zehenspitzen die Treppe in der Halle hoch, vorbei
an den ausgestopften Elfenköpfen, froh wieder alleine zu sein, doch
als er sich dem ersten Treppenabsatz näherte, hörte er Geräusche. Im
Salon schluchzte jemand.
»Hallo?«, sagte Harry.
Niemand antwortete, aber das Schluchzen hielt an. Zwei Stufen auf
einmal nehmend, eilte er vollends hoch, lief über den Treppenabsatz
und öffnete die Salontür.
Jemand kauerte an der dunkle n Wand, den Zauberstab in der Hand,
und schluchzte, dass es den ganzen Körper schüttelte. In einem
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Flecken Mondlicht, auf dem staubigen alten Teppich ausgestreckt, lag
Ron, offensichtlich tot.
Die Luft schien aus Harrys Lungen zu entweichen; ihm war, als
fiele er durch den Fußboden; sein Gehirn wurde eiskalt – Ron tot,
nein, das war nicht möglich Aber Moment mal, das war nicht möglich
– Ron war unten …
»Mrs. Weasley?«, krächzte Harry.
»R-r-riddikulus!«, schluchzte Mrs. Weasley und deutete mit ihrem
zitternden Zauberstab auf Rons Leiche.
Knall.
Rons Leiche verwandelte sich in die Bills, rücklings und alle viere
von sich gestreckt lag er da, die Augen aufgerissen und leer. Mrs.
Weasley schluchzte noch heftiger.
»R-riddikulus!«, schluchzte sie erneut.
Knall.
An Bills Stelle erschien Mr. Weasley, die Brille schief auf der
Nase, ein Rinnsal Blut im Gesicht.
»Nein!«, stöhnte Mrs. Weasley. »Nein … riddikulus! Riddikulus!
RIDDIKULUS!«
Knall. Die Zwillinge tot. Knall. Percy tot. Knall. Harry tot …
»Mrs. Weasley, Sie müssen hier raus!«, rief Harry und starrte auf
seinen leblosen Körper am Boden. »Lassen Sie jemand anderen …«
»Was ist hier los?«
Lupin war in den Salon gestürmt, dicht gefolgt von Sirius, und
Moody stapfte hinterdrein. Lupin blickte von Mrs. Weasley auf den
toten Harry am Boden und schien augenblicklich zu begreifen. Er zog
seinen Zauberstab und sagte, sehr laut und deutlich:
»Riddikulus!«
Harrys Leiche verschwand. Über der Stelle, wo sie gelegen hatte,
schwebte eine silbrige Kugel. Lupin schwang noch einma l seinen
Zauberstab und die Kugel löste sich in eine Rauchwolke auf.
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»Oh – oh – oh!«, jammerte Mrs. Weasley, vergrub das Gesicht in
den Händen und brach heftig in Tränen aus.
»Molly«, sagte Lupin mit düsterer Stimme und trat zu ihr. »Molly,
nicht …«
Im nächsten Moment weinte sie sich an Lupins Schulter die Seele
aus dem Leib.
»Molly, das war doch nur ein Irrwicht«, tröstete er sie und
tätschelte sanft ihren Kopf. »Nur ein dummer Irrwicht …«
»Ich seh sie immer – t-t-tot!«, stöhnte Mrs. Weasley an seiner
Schulter. »I-i-immer noch! Ich w-w-werd davon träumen …«
Sirius starrte auf die Stelle des Teppichs, wo der Irrwicht, der sich
in Harrys Körper verwandelt hatte, gelegen hatte. Moody hatte den
Blick auf Harry geheftet, der es vermied, ihn anzusehen. Er hatte das
komische Gefühl, dass Moodys magisches Auge ihm die ganze Zeit
gefolgt war, seit er die Küche verlassen hatte.
»S-s-sag bloß nichts zu Arthur«, würgte Mrs. Weasley jetzt hervor
und wischte sich hektisch mit den Ärmeln die Augen. »Ich w-w-will
nicht, dass er's erfährt … wie albern …«
Lupin reichte ihr ein Taschentuch und sie putzte sich die Nase.
»Harry, tut mir furchtbar Leid. Was denkst du jetzt bloß von mir?«,
sagte sie zittrig. »Nicht mal mit einem Irrwicht wird sie fertig …«
»Ach was«, sagte Harry und versuchte zu lächeln.
»Ich mach mir nur s-s-solche Sorgen«, sagte sie und wieder
quollen ihr Tränen aus den Augen. »Die halbe F-F-Familie ist im
Orden, das war ein W-W-Wunder, wenn wir alle heil da rauskommen
würden … und P-P-Percy redet nicht mit uns … und wenn etwas Sch-
Sch-Schreckliches passiert und wir haben uns n-n-nie mit ihm
ausgesöhnt? Und was passiert, wenn Arthur und ich umkommen, wer
w-w-wird sich um Ron und Ginny kümmern?«
»Molly, jetzt ist es aber genug«, sagte Lupin entschieden. »Es ist
nicht wie beim letzten Mal. Der Orden ist besser vorbereitet, wir sind
im Vorteil, wir wissen, was Voldemort plant …«
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Mrs. Weasley ließ bei dem Namen einen kleinen spitzen
Angstschrei hören.
»Oh, Molly, nun komm, es wird langsam Zeit, dass du dich daran
gewöhnst, diesen Namen zu hören – schau, ich kann nicht
versprechen, dass keinem etwas geschieht, niemand kann das, aber wir
sind viel besser dran als letztes Mal. Du warst damals nicht im Orden,
du verstehst das nicht. Das letzte Mal waren uns die Todesser zwanzig
zu eins überlegen und sie haben sich einen nach dem anderen von uns
geholt …«
Harry dachte wieder an das Foto, an die strahlenden Gesichter
seiner Eltern. Er wusste, dass Moody ihn immer noch beobachtete.
»Mach dir keine Sorgen wegen Percy«, warf Sirius unvermittelt
ein. »Er wird schon noch zu uns stoßen. Es ist nur eine Frage der Zeit,
bis Voldemort offen auftritt; sobald er das tut, wird uns das ganze
Ministerium um Verzeihung bitten. Und ich bin nicht sicher, ob ich
ihre Entschuldigung annehme«, fügte er bitter hinzu.
»Und was Ron und Ginny angeht, falls du und Arthur sterben
solltet«, sagte Lupin mit einem leisen Lächeln, »was glaubst du, was
wir tun würden – sie verhungern lassen?«
Mrs. Weasley lächelte zittrig.
»War albern von mir«, murmelte sie noch einmal und wischte sich
die Augen.
Aber Harry, als er etwa zehn Minuten später die Schlafzimmertür
hinter sich schloss, hielt Mrs. Weasley nicht für albern. Noch immer
sah er seine Eltern aus dem zerknitterten alten Foto zu ihm
aufstrahlen. Sie wussten nicht, dass ihr Leben, wie das so vieler
anderer in ihrem Umkreis, dem Ende zuging. Das Bild des Irrwichts,
der nacheinander die Totengestalt aller Weasleys angenommen hatte,
tauchte immer wieder vor ihm auf.
Ohne Vorwarnung spürte er erneut einen scharfen Schmerz in
seiner Stirnnarbe und sein Magen verkrampfte sich fürchterlich.
»Schluss damit«, sagte er entschieden und rieb sich die Narbe,
während der Schmerz nachließ.
- 198 -
»Das erste Zeichen des Wahnsinns, mit dem eigenen Kopf reden«,
sagte eine hinterlistige Stimme aus dem leeren Bild an der Wand.
Harry beachtete sie nicht. Er fühlte sich so alt wie noch nie im
Leben und es kam ihm äußerst merkwürdig vor, dass er sich kaum
eine Stunde zuvor noch Gedanken wegen eines Scherzartikelladens
und wegen eines Vertrauensschülerabzeichens gemacht hatte.
- 199 -
Luna Lovegood
Harry hatte eine unruhige Nacht. Seine Eltern flochten sich durch
seine Träume, ohne ein Wort zu sprechen; Mrs. Weasley stand
schluchzend über Kreachers Leiche gebeugt, Ron und Hermine, die
Kronen trugen, beobachteten sie, und abermals sah sich Harry einen
Korridor entlanggehen, der vor einer verschlossenen Tür endete. Er
fuhr aus dem Schlaf hoch, seine Narbe ziepte und er erblickte Ron vor
sich, der bereits angezogen war und mit ihm sprach.
»… beeil dich lieber, Mum tickt völlig aus, sie sagt, wir verpassen
den Zug …«
Im Haus herrschte Aufruhr. Aus dem, was Harry mitbekam,
während er sich in Windeseile anzog, reimte er sich zusammen, dass
Fred und George, um sich die Mühe des Schleppens zu ersparen, ihre
Koffer behext hatten, treppab zu fliegen. Dabei waren sie gegen Ginny
geknallt, die zwei Treppen tief in die Halle gestürzt war; Mrs. Black
und Mrs. Weasley schrien beide aus Leibeskräften.
»… HÄTTE SICH SCHWER VERLETZEN KÖNNEN, IHR
DUMMKÖPFE …«
»… SCHMUTZIGE HALBBLÜTER, BESUDELN DAS HAUS
MEINERVÄTER …«
Harry zog gerade seine Turnschuhe an, als Hermine in heller
Aufregung hereingestürmt kam. Auf ihrer Schulter schwankte Hedwig
und in den Armen trug sie einen sich sträubenden Krummbein.
»Hedwig ist gerade eben von Mum und Dad zurückgekommen.«
Die Eule flatterte folgsam hinüber zu ihrem Käfig und ließ sich darauf
nieder. »Bist du schon fertig?«
»Fast. Wie geht's Ginny?«, fragte Harry und setzte sich die Brille
auf.
»Mrs. Weasley hat sie zusammengeflickt«, sagte Hermine. »Aber
jetzt besteht Mad-Eye darauf, dass wir nicht rauskönnen, solange
Sturgis Podmore nicht da ist, sonst hat die Leibgarde einen Mann zu
wenig.«
- 200 -
»Leibgarde?«, sagte Harry. »Müssen wir mit Begleitschutz nach
King's Cross?«
»Du musst mit Begleitschutz nach King's Cross«, korrigierte ihn
Hermine.
»Wieso?«, fragte Harry ärgerlich. »Ich dachte, Voldemort hält sich
bedeckt, oder willst du mir erzählen, dass er demnächst hinter einer
Mülltonne hervorspringt und mich allemachen will?«
»Keine Ahnung, Mad-Eye sagt das«, erwiderte Hermine zerstreut
und sah auf ihre Uhr, »aber wenn wir nicht bald aufbrechen, verpassen
wir den Zug garantiert …«
»KOMMT IHR ALLE JETZT BITTE SOFORT RUNTER!«,
brüllte Mrs. Weasley und Hermine schreckte hoch wie von der
Tarantel gestochen und hastete aus dem Zimmer. Harry packte
Hedwig, stopfte sie ohne viel Federlesen in den Käfig, schleifte den
Koffer hinter sich her und folgte Hermine nach unten.
Mrs. Blacks Porträt kreischte zornig, aber niemand machte sich die
Mühe, die Vorhänge vor ihrer Nase zu schließen; all der Lärm in der
Halle würde sie ohnehin wieder in Rage bringen.
»Harry, du gehst mit mir und Tonks«, rief Mrs. Weasley – über die
»SCHLAMMBLÜTER! ABSCHAUM! GOSSEN-KINDER!«-Rufe
hinweg –, »lass Koffer und Eule da, Alastor kümmert sich um das
Gepäck … oh, um Himmels willen, Sirius, Dumbledore hat nein
gesagt!«
Ein bärenartiger schwarzer Hund war an Harrys Seite aufgetaucht
und stieg über die diversen in der Halle umherstehenden Koffer
hinweg, um zu Mrs. Weasley zu gelangen.
»Also ehrlich …«, sagte Mrs. Weasley entnervt. »Na gut, auf deine
Verantwortung …«
Sie zog die Haustür auf und trat hinaus ins weiche Licht der
Septembersonne. Harry und der Hund folgten ihr. Die Tür schlug
hinter ihnen zu und im selben Moment waren Mrs. Bla cks Schreie
nicht mehr zu hören.
- 201 -
»Wo ist Tonks?«, fragte Harry und blickte sich um, während sie
die Steinstufen vor Nummer zwölf hinuntergingen, die verschwanden,
sobald sie den Gehweg betreten hatten.
»Sie wartet gleich dort drüben auf uns«, sagte Mrs. Weasley steif
und wandte den Blick von dem schwarzen Hund ab, der neben Harry
hertänzelte.
An der Straßenecke wurden sie von einer alten Frau begrüßt. Sie
hatte dicht gelocktes graues Haar und trug einen lila Hut, der aussah
wie eine Fleischpastete.
»So 'ne Überraschung, Harry«, sagte sie augenzwinkernd. »Wir
sollten uns beeilen, nicht wahr, Molly?«, fügte sie mit einem Blick auf
ihre Uhr hinzu.
»Ich weiß, ich weiß«, stöhnte Mrs. Weasley und schritt noch
entschiedener aus, »aber Mad-Eye wollte auf Sturgis warten … wenn
Arthur uns doch nur wieder Autos aus dem Ministerium besorgt hätte
… aber Fudge will ihn heutzutage nicht mal mehr ein leeres
Tintenfass ausleihen lassen … wie ertragen die Muggel bloß das
Reisen ohne Zauberei …«
Doch der große schwarze Hund bellte freudig auf, sprang um sie
herum, schnappte nach Tauben und jagte seinen eigenen Schwanz.
Harry musste lachen. Sirius hatte sehr lange im Haus festgesessen.
Mrs. Weasley schürzte die Lippen fast so wie Tante Petunia.
Sie brauchten zwanzig Minuten zu Fuß bis King's Cross, und bis
dahin geschah nichts Bedeutenderes, als dass Sirius, um Harry zu
belustigen, ein paar Katzen erschreckte. Sobald sie im Bahnhof waren,
stellten sie sich lässig an die Absperrung zwischen Gleis neun und
zehn, bis die Luft rein war, dann lehnten sie sich der Reihe nach
dagegen und kippten ohne weiteres auf den Bahnsteig von Gleis
neundreiviertel, wo der Hogwarts-Express bereitstand und rußigen
Dampf über das dichte Getümmel abreisender Schüler und deren
Familien blies. Harry atmete den vertrauten Geruch ein und spürte,
wie seine Lebensgeister erwachten … er kehrte tatsächlich zurück …
»Hoffentlich schaffen es die anderen noch rechtzeitig«, sagte Mrs.
Weasley besorgt und spähte hinter sich zu dem schmiedeeisernen
- 202 -
Bogen, der sich über den Bahnsteig wölbte und unter dem die
Neuankömmlinge erschienen.
»Hübscher Hund, Harry!«, rief ein großer Junge mit Rastalocken.
»Danke, Lee«, sagte Harry grinsend und Sirius wedelte wild mit
dem Schwanz.
»Oh, gut«, sagte Mrs. Weasley erleichtert, »da ist Alastor mit dem
Gepäck, schau …«
Moody, mit einer tief über seine so verschiedenen Augen
gezogenen Gepäckträgermütze, kam unter dem Bogen
hindurchgehumpelt und schob eine Karre mit ihren Koffern vor sich
her.
»Alles in Ordnung«, murmelte er Mrs. Weasley und Tonks zu,
»glaub nicht, dass wir verfolgt wurden …«
Sekunden später erschien Mr. Weasley mit Ron und Hermine auf
dem Bahnsteig. Sie hatten Moodys Gepäckkarre schon fast entladen,
als Fred, George und Ginny mit Lupin auftauchten.
»Kein Ärger?«, knurrte Moody.
»Nichts«, sagte Lupin.
»Die Sache mit Sturgis melde ich trotzdem an Dumbledore«, sagte
Moody. »Das ist schon das zweite Mal, dass er eine Woche lang nicht
auftaucht. Wird allmählich so unzuverlässig wie Mundungus.«
»Also, passt auf euch auf«, sagte Lupin und schüttelte ihnen
reihum die Hände. Zuletzt gab er Harry einen Klaps auf die Schulter.
»Du auch, Harry. Sei vorsichtig.«
»Ja, den Kopf in Deckung und die Augen offen halten«, sagte
Moody und schüttelte Harry ebenfalls die Hand. »Und vergesst nicht,
das gilt für alle – seid vorsichtig, was ihr schreibt. Wenn ihr euch
einer Sache nicht sicher seid, schreibt lieber nichts davon in einem
Brief.«
»War großartig, euch alle kennen zu lernen«, sagte Tonks und
umarmte Hermine und Ginny. »Ich denke, wir sehen uns bald.«
- 203 -
Ein Warnpfiff ertönte, und wer noch auf dem Bahnsteig war, stieg
nun eilends in den Zug.
»Jetzt aber los!«, sagte Mrs. Weasley zerstreut und umarmte sie
alle aufs Geratewohl, wobei sie Harry gleich doppelt erwischte.
»Schreibt uns … seid brav … wenn ihr was vergessen habt, schicken
wir es nach … jetzt aber rein in den Zug, schnell …«
Einen kurzen Moment lang stellte sich der große schwarze Hund
auf die Hinterläufe und legte die Vorderpfoten auf Harrys Schultern,
aber Mrs. Weasley schob Harry weiter zur Waggontür und zischte:
»Um Himmels willen, benimm dich mal ein bisschen mehr wie ein
Hund, Sirius!«
»Bis dann!«, rief Harry aus dem offenen Fenster, als der Zug
anfuhr, und neben ihm winkten Ron, Hermine und Ginny. Die
Umrisse von Tonks, Lupin, Moody und Mr. und Mrs. Weasley
wurden rasch kleiner, aber der schwarze Hund sprang neben ihnen am
Fenster her und wedelte mit dem Schwanz; verschwommene Gestalten
auf dem Bahnsteig beobachteten lachend, wie er dem Zug nachjagte,
dann ging es in eine Kurve und Sirius war verschwunden.
»Er hätte nicht mitkommen sollen«, sagte Hermine besorgt.
»Ach, mach dir keine Gedanken«, erwiderte Ron, »der arme Kerl
hat doch seit Monaten kein Tageslicht mehr gesehen.«
»Nun«, sagte Fred und klatschte in die Hände, »wir können hier
nicht den ganzen Tag rumstehen und quatschen, wir haben mit Lee
geschäftliche Dinge zu besprechen. Bis später dann.« Und er und
George verschwanden nach rechts den Gang entlang.
Der Zug beschleunigte noch immer, die Häuser vor dem Fenster
flitzten vorbei und sie gerieten ins Schwanken.
»Wollen wir uns nicht ein Abteil suchen?«, fragte Harry.
Ron und Hermine tauschten Blicke.
»Ähm«, sagte Ron.
»Wir – ja – Ron und ich müssen ins Vertrauensschülerabteil«,
sagte Hermine verlegen.
- 204 -
Ron mied Harrys Blick; er schien sich brennend für die
Fingernägel seiner linken Hand zu interessieren.
»Oh«, sagte Harry. »Gut. Na schön.«
»Ich glaub nicht, dass wir die ganze Fahrt über dort bleiben
müssen«, fügte Hermine rasch hinzu. »In unseren Briefen steht, dass
wir nur Anweisungen von den beiden Schulsprechern
entgegennehmen und dann von Zeit zu Zeit einen Streifzug durch die
Gänge machen müssen.«
»Na schön«, wiederholte Harry. »Nun, wir – wir sehen uns dann
später, vielleicht.«
»Ja, bestimmt«, sagte Ron und warf Harry flüchtig einen besorgten
Blick zu. »Stinkt mir, dass ich da hinmuss, ich würd lieber – aber wir
müssen – also, mir gefällt's nicht, ich bin ja nicht Percy«, schloss er
trotzig.
»Weiß ich doch«, sagte Harry und grinste. Doch als Hermine und
Ron ihre Koffer mitsamt Krummbein und Pigwidgeon im Käfig in
Richtung Lok davonschleiften, fühlte sich Harry merkwürdig
verlassen. Noch nie war er ohne Ron im Hogwarts-Express gereist.
»Komm schon«, mahnte ihn Ginny, »wenn wir uns beeilen, können
wir ihnen Plätze freihalten.«
»Stimmt«, sagte Harry und nahm Hedwigs Käfig in die eine und
den Koffergriff in die andere Hand. Sie kämpften sich durch die
Gänge und spähten im Vorbeigehen durch die Glastüren in die bereits
voll besetzten Abteile. Harry fiel auf, dass viele seine Blicke höchst
interessiert erwiderten und manche ihre Nachbarn anstießen und auf
ihn deuteten. Nachdem ihm das bei fünf Abteilen in Folge passiert
war, erinnerte er sich wieder, dass der Tagesprophet seinen Lesern den
ganzen Sommer über berichtet hatte, was für ein lügnerischer Angeber
er war. Er fragte sich betrübt, ob die Leute, die jetzt guckten und
flüsterten, diese Geschichten glaubten.
Im allerletzten Waggon trafen sie Neville Longbottom, er war wie
Harry jetzt im fünften Gryffindor-Jahr. Sein rundes Gesic ht glänzte
von der Anstrengung, den Koffer hinter sich herzuschleifen und
- 205 -
gleichzeitig mit einer Hand seine widerspenstige Kröte Trevor
festzuhalten.
»Hi, Harry«, keuchte er. »Hi, Ginny … alles voll hier … ich find
keinen Platz …«
»Was soll der Unsinn?«, sagte Ginny, die sich an Neville
vorbeigequetscht hatte und in das Abteil hinter ihm spähte. »Hier ist
Platz, da sitzt nur Loony Lovegood drin …«
Neville nuschelte etwas von wegen, er wolle niemanden stören.
»Stell dich nicht so an«, sagte Ginny und lachte, »sie ist in
Ordnung.«
Sie schob die Tür auf und zog ihren Koffer hinein. Harry und
Neville folgten.
»Hi, Luna«, sagte Ginny, »ist es okay für dich, wenn wir uns hier
reinsetzen?«
Das Mädchen am Fenster blickte auf. Sie hatte zotteliges,
hüftlanges, schmutzig blondes Haar, sehr helle Augenbrauen und
Glubschaugen, die ihr einen Ausdruck permanenten Erstaunens
verliehen. Harry wusste sofort, warum Neville an diesem Abteil lieber
vorbeigegangen war. Eine Aura von außerordentlicher Spleenigkeit
umgab dieses Mädchen. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie ihren
Zauberstab zur sicheren Aufbewahrung hinter ihr linkes Ohr
geklemmt hatte oder dass sie ein Halsband aus Butterbierkorken trug
oder dass sie ihr Magazin verkehrt hemm las. Ihr Blick wanderte über
Neville und blieb an Harry kleben. Sie nickte.
»Danke«, sagte Ginny und lächelte sie an.
Harry und Neville verstauten die drei Koffer und Hedwigs Käfig
im Gepäckregal und setzten sich. Luna beobachtete sie über ihr
umgedrehtes Magazin hinweg, das Der Klitterer hieß. Sie schien nicht
so oft blinzeln zu müssen wie gewöhnliche Menschen. Unablässig
starrte sie Harry an, der sich auf den Platz ihr gegenüber gesetzt hatte
und es jetzt bereute.
»Einen schönen Sommer verbracht, Luna?«, fragte Ginny.
- 206 -
»Ja«, sagte Luna verträumt, ohne die Augen von Harry
abzuwenden. »Ja, war eigentlich ganz schön. Du bist Harry Potter«,
fügte sie hinzu.
»Das weiß ich«, sagte Harry.
Neville gluckste. Nun wandte Luna ihre blassen Augen ihm zu.
»Und ich weiß nicht, wer du bist.«
»Ich bin niemand«, sagte Neville hastig.
»Nein, bist du nicht«, sagte Ginny scharf. »Neville Longbottom –
Luna Lovegood. Luna ist in meinem Jahrgang, aber in Ravenclaw.«
»Witzigkeit im Übermaß ist des Menschen größter Schatz«, sagte
Luna mit Singsangstimme.
Sie hob ihr umgedrehtes Magazin so hoch, dass es ihr Gesicht
verbarg, und verfiel in Schweigen. Harry und Neville sahen sich mit
hochgezogenen Brauen an. Ginny verkniff sich ein Kichern.
Der Zug ratterte dahin und trug sie schnell hinaus ins offene Land.
Es war ein merkwürdig unbeständiger Tag; mal war das Abteil
sonnendurchflutet und im nächsten Moment schon fuhren sie unter
bedrohlich grauen Wolken dahin.
»Rat mal, was ich zum Geburtstag bekommen hab«, sagte Neville.
»Noch ein Erinnermich?«, sagte Harry und dachte an die
murmelartige Kugel, die Nevilles Großmutter ihm geschickt hatte in
der Hoffnung, damit sein miserables Gedächtnis aufzubessern.
»Nein«, sagte Neville. »Könnt allerdings eins gebrauchen, mein
altes hab ich schon vor 'ner Ewigkeit verloren … nein, schau mal …«
Während er Trevor mit der einen Hand festhielt, steckte er die
andere in seine Schultasche, stöberte ein wenig darin und brachte
etwas zum Vorschein, das wie ein kleiner grauer Kaktus in einem
Topf aussah, nur dass er nicht mit Stacheln, sondern offenbar mit
Furunkeln überzogen war.
»Mimbulus mimbeltonia«, sagte er stolz.
Harry starrte das Ding an. Es pulsierte leicht, was ihm das ziemlich
grausige Aussehen eines kranken inneren Organs verlieh.
- 207 -
»Der ist echt total selten«, sagte Neville und strahlte. »Ich weiß
nicht mal, ob sie in Hogwarts einen davon im Gewächshaus haben.
Den muss ich unbedingt Professor Sprout zeigen. Mein Großonkel
Algie hat ihn für mich aus Assyrien mitgebracht. Mal sehen, ob ich
Ableger davon züchten kann.«
Harry wusste, dass Kräuterkunde Nevilles Lieblingsfach war, aber
er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Neville mit
dieser kümmerlichen kleinen Pflanze anfangen wollte.
»Tut der – ähm – irgendwas?«, fragte er.
»'ne ganze Menge!«, rief Neville stolz. »Er hat einen irren
Verteidigungsmechanismus. Hier, halt mal Trevor …«
Er ließ die Kröte in Harrys Schoß plumpsen und holte eine
Schreibfeder aus seiner Schultasche. Luna Lovegoods
hervorquellende Augen erschienen wieder über dem Rand ihres auf
dem Kopf stehenden Magazins, um zu sehen, was Neville anstellte.
Neville, die Zunge zwischen den Zähnen, hob den Mimbulus
mimbeltonia auf Augenhöhe, wählte einen Punkt und versetzte dem
Gewächs mit der Federspitze einen kräftigen Stich.
Aus allen Furunkeln der Pflanze spritzte eine Flüssigkeit – dicke,
stinkende dunkelgrüne Strahlen. Sie trafen die Decke, die Fenster und
spritzten über Luna Lovegoods Magazin; Ginny, die gerade noch
rechtzeitig die Arme vors Gesicht gerissen hatte, sah nur aus, als hätte
sie einen grünen Schleimhut auf. Harry jedoch, dessen Hände vollauf
damit beschäftigt waren, Trevor an der Flucht zu hindern, bekam eine
volle Ladung ins Gesicht. Das Zeug roch nach ranziger Jauche.
Neville, dessen Gesicht und Oberkörper ebenfalls völlig nass
waren, schüttelte den Kopf, um das Gröbste aus den Augen zu
kriegen.
»'tschulligung«, keuchte er. »Das hab ich noch nie ausprobiert …
wusste gar nicht, dass es doch so … aber macht euch keine Sorgen,
Stinksaft ist nicht giftig«, fügte er fahrig hinzu, als Harry einen Mund
voll zu Boden spuckte.
Genau in diesem Moment wurde die Tür ihres Abteils
aufgeschoben.
- 208 -
»Oh … hallo, Harry«, sagte eine nervöse Stimme. »Ähm … stör
ich gerade?«
Harry wischte mit der trevorfreien Hand seine Brillengläser ab. Ein
sehr hübsches Mädchen mit langen, glänzend schwarzen Haaren stand
in der Tür und lächelte ihn an: Cho Chang, die Sucherin der
Quidditch-Mannschaft von Ravenclaw.
»Oh … hi«, sagte Harry tonlos.
»Ähm …«, sagte Cho. »Naja … ich wollt nur mal kurz hallo sagen
… also dann tschüss.«
Sie war ziemlich rosa im Gesicht, als sie die Tür schloss und
davonging. Harry sackte stöhnend auf seinen Platz zurück. Wenn Cho
ihn doch nur zusammen mit ein paar sehr coolen Leuten gesehen
hätte, die sich kugelten vor Lachen über einen Witz, den er gerade
erzählt hatte. Stattdessen saß er hier mit Neville und Loony Lovegood,
hielt eine Kröte umkrallt und triefte vor Stinksaft.
»Macht nichts«, sagte Ginny munter. »Schaut mal, das kriegen wir
ganz einfach wieder weg.« Sie zog ihren Zauberstab. »Ratzeputz!«
Der Stinksaft verschwand.
»'tschulligung«, sagte Neville zum wiederholten Mal mit
kleinlauter Stimme.
Ron und Hermine ließen sich fast eine Stunde lang nicht blicken
und inzwischen war der Imbisswagen schon da gewesen. Harry,
Ginny und Neville hatten ihre Kürbiskuchen aufgegessen und
tauschten nun eifrig Schokofroschkarten, als die Abteiltür aufglitt und
die beiden hereinkamen, begleitet von Krummbein und einem schrill
in seinem Käfig schreienden Pigwidgeon.
»Ich verhungre noch!«, sagte Ron, verstaute Pigwidgeon neben
Hedwig, schnappte sich einen Schokofrosch von Harry und ließ sich
auf den Sitz neben ihm fallen. Er riss die Verpackung auf, biss dem
Frosch den Kopf ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück,
als hätte er einen sehr anstrengenden Morgen hinter sich.
- 209 -
»Also, in jedem Haus gibt es zwei Vertrauensschüler aus der
fünften Klasse«, sagte Hermine, offenbar gründlich schlecht gelaunt,
und setzte sich auf ihren Platz. »Jeweils ein Junge und ein Mädchen.«
»Und ratet mal, wer der Vertrauensschüler in Slytherin ist«, sagte
Ron, ohne die Augen zu öffnen.
»Malfoy«, antwortete Harry sofort, er war sich gewiss, dass seine
schlimmste Befürchtung bestätigt würde.
»Klar«, sagte Ron bitter, stopfte sich den Rest seines Frosches in
den Mund und nahm sich noch einen.
»Und diese blöde Kuh Pansy Parkinson«, sagte Hermine böse.
»Wie die Vertrauensschülerin geworden ist, obwohl sie dümmer ist als
ein Troll mit Gehirntrauma …«
»Und wer ist es in Hufflepuff?«, fragte Harry.
»Ernie Macmillan und Hannah Abbott«, sagte Ron mit vollem
Mund.
»Und in Ravenclaw Anthony Goldstein und Padma Patil«, sagte
Hermine.
»Du bist doch mit Padma Patil zum Weihnachtsball gegangen«,
sagte eine undeutliche Stimme. Alle wandten sich Luna Lovegood zu,
die über den Klitterer hinweg mit starrem Blick Ron ansah. Er
schluckte seinen Schokofrosch hinunter.
»Ja, weiß ich wohl«, sagte er, offensichtlich ein wenig überrascht.
»Ihr hat's nicht besonders gefallen«, unterrichtete ihn Luna. »Sie
findet, du hast sie nicht sonderlich gut behandelt, weil du doch nicht
mit ihr tanzen wolltest. Ich glaub, mir hätte das nichts ausgemacht«,
fügte sie nachdenklich hinzu, »ich steh nicht so auf Tanzen.«
Sie zog sich wieder hinter ihren Klitterer zurück. Ron starrte einige
Sekunden lang mit offenem Mund das Titelblatt an, dann wandte er
sich Ginny zu, als könne sie ihm das irgendwie erklären, doch sie
hatte sich eine Faust in den Mund gesteckt und biss sich auf die
Knöchel, um ihr Kichern zu unterdrücken. Ron schüttelte
nachdenklich den Kopf und blickte auf seine Uhr.
- 210 -
»Wir sollen hin und wieder durch die Gänge laufen«, erklärte er
Harry und Neville, »und wir können Strafen erteilen, wenn sich Leute
schlecht benehmen. Ich bin schon scharf drauf, Crabbe und Goyle
wegen irgendwas dranzukriegen …«
»Du sollst deine Position nicht missbrauchen, Ron!«, sagte
Hermine scharf.
»Ja, klar, Malfoy macht das ja auch nicht«, erwiderte Ron
sarkastisch.
»Also willst du dich auf seine Ebene herablassen?«
»Nein, ich will nur sicherstellen, dass ich seine Kumpels
drankriege, bevor er meine kriegt.«
»Um Himmels willen, Ron …«
»Ich lass Goyle Strafarbeiten schreiben, das macht ihn fertig,
Schreiben hasst er nämlich«, sagte Ron launig. Er verzog das Gesicht,
als würde er sich unter Qualen konzentrieren, grunzte mit tiefer
Stimme wie Goyle und schrieb mit der Hand in die Luft. »Ich … darf
… nicht … aussehen … wie … ein … Pavianpopo.«
Alle lachten, am heftigsten aber Luna Lovegood. Sie stieß einen
Juchzer aus, dass Hedwig aufwachte und entrüstet mit den Flügeln
schlug und Krummbein fauchend auf die Gepäckablage sprang. Luna
lachte so heftig, dass ihr das Heft aus der Hand und über die Beine zu
Boden rutschte.
»Das war lustig!«
Ihre hervortretenden Augen schwammen in Tränen, sie schnappte
nach Luft und starrte Ron an. Völlig perplex wandte Ron sich den
anderen zu, und die lachten nun über seinen Gesichtsausdruck und
über das lächerlich lange Gelächter von Luna Lovegood, die vor und
zurück wippte und sich die Seiten hielt.
»Willst du mich verulken?«, sagte Ron und sah sie ärgerlich an.
»Pavian … popo!«, keuchte sie und presste die Hände gegen die
Rippen.
- 211 -
Alle sahen Luna beim Lachen zu, aber Harry, der einen Blick auf
das Heft am Boden geworfen hatte, fiel plötzlich etwas auf und er
bückte sich flugs danach. Verkehrt herum gehalten war es schwierig
gewesen, auszumachen, wen das Bild auf der Titelseite darstellen
sollte, doch jetzt sah Harry, dass es sich um eine ziemlich schlechte
Karikatur von Cornelius Fudge handelte. Harry erkannte ihn nur dank
des limonengrünen Bowlers. Fudge umklammerte mit der einen Hand
einen Sack Gold, mit der anderen würgte er einen Kobold. Der Text
zu der Karikatur lautete: Wie weit wird Fudge gehen, um sich
Gringotts zu sichern?
Darunter standen die Themen von weiteren Artikeln im Magazin
aufgelistet.
Korruption in der Quidditch-Liga :
Wie die Tornados die Kontrolle übernehmen Geheimnisse uralter
Runen enthüllt Sirius Black: Schurke oder Opfer?
»Kann ich da mal reinschauen?«, fragte Harry gespannt.
Luna, die immer noch Ron anstarrte und japste vor Lachen, nickte.
Harry schlug das Heft auf und überflog das Inhaltsverzeichnis. Bis
zu diesem Moment hatte er das Magazin, das Kingsley Mr. Weasley
für Sirius mitgegeben hatte, völlig vergessen, doch es musste diese
Ausgabe des Klitterers gewesen sein.
Er schlug die Seite mit dem Artike l auf und fing aufgeregt an zu
lesen.
Auch dieser Text war mit einer ziemlich schlechten Karikatur
bebildert; tatsächlich wäre Harry nicht darauf gekommen, dass sie
Sirius darstellen sollte, wenn es nicht dabeigestanden hätte. Sirius
stand mit gezücktem Zauberstab auf einem Haufen menschlicher
Knochen. Die Überschrift des Artikels lautete: SIRIUS BLACK SO
SCHWARZ, WIE ER GEMALT WIRD? Berüchtigter Massenmörder
oder unschuldiges Sangeswunder?
Diesen ersten Satz musste Harry mehrmals lesen, bis er sicher war,
dass er ihn nicht missverstanden hatte. Seit wann war Sirius ein
Sangeswunder?
- 212 -
Seit vierzehn Jahren gilt Sirius Black als verantwortlich für den
Massenmord an zwölf unschuldigen Muggeln und einem Zauberer.
Blacks waghalsige Flucht aus Askaban vor zwei Jahren löste die
größte Fahndung aus, die das Zaubereiministerium je in die Wege
geleitet hat. Niemand von uns hat jemals in Zweifel gestellt, dass er
wieder gefangen genommen und den Dementoren ausgehändigt
werden muss. ABER HAT ER DAS VERDIENT?
In jüngster Zeit kamen sensationelle neue Hinweise ans Licht,
wonach Sirius Black die Verbrechen, für die er nach Askaban
geschickt wurde, vielleicht gar nicht begangen hat. Tatsächlich, so
behauptet Doris Purkiss aus Little Norton, Bärenklauweg achtzehn,
war Black damals womöglich überhaupt nicht am Tatort.
»Die Leute wissen ja gar nicht, dass Sirius Black ein falscher
Name ist«, sagt Mrs. Purkiss. »Der Mann, den sie für Sirius Black
halten, ist in Wahrheit Stubby Boardman, Lead-Sänger der beliebten
Gesangsgruppe The Hobgoblins, der sich aus dem öffentlichen Leben
zurückzog, nachdem ihn vor fast fünfzehn Jahren bei einem Konzert
im Gemeindehaus von Little Norton eine Rübe am Ohr getroffen
hatte. Ich hab ihn sofort erkannt, als ich sein Bild in der Zeitung sah.
Nun kann aber Stubby unmöglich diese Verbrechen begangen haben,
weil er an dem fraglichen Tag zufällig ein romantisches Candlelight-
Dinner mit mir genossen hat. Ich habe an das Zaubereiministerium
geschrieben und erwarte nun jeden Tag, dass es sich bei Stubby alias
Sirius umfassend entschuldigt.«
Harry hatte zu Ende gelesen und starrte ungläubig auf die Seite.
Vielleicht ist es ein Witz, dachte er, vielleicht druckt das Magazin ja
regelmäßig Enten. Er blätterte ein paar Seiten zurück und fand den
Artikel über Fudge.
Zaubereiminister Cornelius Fudge bestritt bei seiner Wahl vor fünf
Jahren, dass er irgendwelche Pläne zur Übernahme der Zaubererbank
Gringotts habe. Fudge hat immer betont, er wolle mit den Wächtern
unseres Goldes nichts weiter als »friedlich zusammenarbeiten«.
ABER STIMMT DAS?
Dem Minister nahe stehende Quellen enthüllten kürzlich, dass
Fudge vor Ehrgeiz brennt, die Goldvorräte der Kobolde unter seine
- 213 -
Kontrolle zu bringen, und dass er nicht zögern wird, wenn nötig auch
Gewalt anzuwenden.
»Das wäre übrigens nicht das erste Mal«, sagte ein Kenner des
Ministeriums. »Cornelius ›Kobold-Killer‹ Fudge, so nennen ihn seine
Freunde. Wenn Sie ihn hören könnten in Momenten, da er sich sicher
glaubt, oh, andauernd redet er von den Kobolden, die er beseitigt hat;
er ließ sie ertränken, von Gebäuden stürzen, vergiften und zu Pasteten
verarbeiten …«
Harry hörte auf zu lesen. Fudge mochte viele Fehler haben, aber
Harry fiel es äußerst schwer, sich vorzustellen, er könnte befohlen
haben, Kobolde zu Pasteten zu verarbeiten. Er blätterte den Rest des
Magazins durch. Alle paar Seiten innehaltend, las er: eine
Anschuldigung, dass die Tutshill Tornados in der Quidditch-Liga
durch eine Mischung aus Erpressung, illegaler Besenmanipulation und
Folter den Meistertitel holen würden; ein Interview mit einem
Zauberer, der behauptete, auf einem Sauberwisch Sechs zum Mond
geflogen zu sein, und zum Beweis dafür einen Sack voll Mondfrösche
mitgebracht hatte; und einen Artikel über uralte Runen, der zumindest
erklärte, warum Luna den Klitterer verkehrt herum gelesen hatte. Dem
Magazin zufolge musste man die Runen nur auf den Kopf drehen,
dann gaben sie angeblich einen Zauberspruch preis, der die Ohren
eines jeden Feindes in Kumquats verwandelte. Tatsächlich war die
Behauptung, Sirius könnte in Wahrheit der Lead-Sänger der
Hobgoblins sein, im Vergleich zu den anderen Artikeln noch durchaus
vernünftig zu nennen.
»Steht da was Brauchbares drin?«, fragte Ron, als Harry das Heft
zuschlug.
»Natürlich nicht«, sagte Hermine verächtlich, noch bevor Harry
antworten konnte. »Der Klitterer ist totaler Mist, das weiß doch
jeder.«
»Entschuldige mal«, sagte Luna; ihre Stimme hatte plötzlich den
verträumten Ton verloren. »Mein Vater ist der Chefredakteur.«
»Ich – oh«, stammelte Hermine peinlich berührt. »Nun, da sind ein
paar interessante … ich meine, er ist durchaus …«
- 214 -
»Ich möchte ihn gern zurückhaben, danke«, sagte Luna kalt, beugte
sich vor und riss Harry das Heft aus der Hand. Sie überschlug es bis
Seite siebenundfünfzig, drehte es entschlossen erneut auf den Kopf
und verschwand dahinter, genau in dem Moment, als sich die
Abteiltür zum dritten Mal öffnete.
Harry wandte den Blick zur Tür, er hatte damit gerechnet, aber das
machte den Anblick Draco Malfoys, wie er da zwischen seinen
Kumpeln Crabbe und Goyle stand und ihn anfeixte, nicht gerade
erfreulicher.
»Was gibt's?«, sagte Harry angriffslustig, noch bevor Malfoy den
Mund aufmachen konnte.
»Benimm dich, Potter, oder ich muss dir eine Strafarbeit
verpassen«, sagte Malfoy genüsslich, der das glatte blonde Haar und
das spitze Kinn seines Vaters hatte. »Du siehst, dass ich im Gegensatz
zu dir zum Vertrauensschüler ernannt wurde, was heißt, dass ich im
Gegensatz zu dir die Befugnis habe, Strafen zu erteilen.«
»Ja«, sagte Harry, »aber du bist im Gegensatz zu mir ein Mistkerl,
also raus hier und lass uns in Ruhe.«
Ron, Hermine, Ginny und Neville lachten. Malfoys Lippen
kräuselten sich.
»Sag mal, wie fühlt man sich, wenn man Zweitbester nach
Weasley ist, Potter?«, fragte er.
»Halt die Klappe, Malfoy«, sagte Hermine scharf.
»Da scheine ich ja einen Nerv getroffen zu haben«, sagte Malfoy
grinsend. Ȇbrigens, sieh dich vor, Potter, weil ich dir auf den Fersen
bleibe wie ein Hund, falls du aus der Reihe tanzen solltest.«
»Raus hier!«, sagte Hermine und stand auf.
Malfoy kicherte und versetzte Harry noch einen bösartigen Blick,
dann ging er den Gang entlang davon und Crabbe und Goyle
trampelten hinter ihm drein. Hermine knallte die Abteiltür zu und
drehte sich zu Harry um. Sofort war ihm klar, dass auch sie gemerkt
hatte, was Malfoy gesagt hatte, und darüber nicht minder bestürzt war.
- 215 -
»Lass doch noch mal 'nen Frosch springen«, sagte Ron, der
offensichtlich überhaupt nichts mitbekommen hatte.
Vor Neville und Luna konnte Harry nicht offen reden. Er tauschte
noch einen unruhigen Blick mit Hermine und starrte dann aus dem
Fenster.
Dass Sirius mit ihm zum Bahnhof gekommen war, hatte er für
einen kleinen Spaß gehalten, doch plötzlich kam es ihm leichtsinnig,
wenn nicht gar gefährlich vor … Hermine hatte Recht gehabt …
Sirius hätte ihn nicht begleiten sollen. Wenn nun Mr. Malfoy der
schwarze Hund aufgefallen war und er es Draco gesagt hatte? Wenn er
nun den Schluss gezogen hatte, dass die Weasleys, Lupin, Tonks und
Moody wussten, wo Sirius sich versteckt hielt? Oder hatte Malfoy nur
rein zufällig die Worte »wie ein Hund« gebraucht?
Es ging immer weiter nach Norden und das Wetter blieb
unbeständig. Mal benetzte halbherziger Regen die Fenster, dann
wiederum hatte die Sonne einen schwachen Auftritt, bis sie erneut von
Wolken verdeckt wurde. Als die Dunkelheit hereinbrach und die
Lampen in den Abteilen angingen, rollte Luna den Klitterer
zusammen, verstaute ihn bedächtig in ihrer Tasche und beschied sich
fortan damit, ihre Mitreisenden anzustarren.
Harry hatte die Stirn ans Fenster gedrückt und versuchte einen
ersten Blick auf das ferne Hogwarts zu erhaschen, doch es war eine
mondlose Nacht und das Fenster, über das sich Regenschlieren zogen,
war rußig.
»Wir sollten uns schon mal umziehen«, meinte Hermine
schließlich.
Sie und Ron steckten sich gewissenhaft das
Vertrauensschülerabzeichen an die Brust. Harry bemerkte, wie Ron im
schwarzen Fenster sein Spiegelbild prüfte.
Endlich verlangsamte der Zug seine Fahrt, und sie hörten gangauf
und gangab den üblichen Tumult losbrechen, als alle überstürzt ihr
Gepäck und ihre Tiere zusammensuchten und sich zum Aussteigen
bereitmachten.
- 216 -
Weil Ron und Hermine dies beaufsichtigen sollten, verschwanden
sie wieder aus dem Abteil und überließen es Harry und den anderen,
sich um Krummbein und Pigwidgeon zu kümmern.
»Ich trage diese Eule, wenn du willst«, sagte Luna zu Harry und
langte nach Pigwidgeon, während Neville Trevor vorsichtig in seine
Innentasche steckte.
»Oh – ähm – danke«, sagte Harry, reichte ihr den Käfig und
schloss den von Hedwig fester in die Arme.
Sie drängten sich aus dem Abteil, und als sie sich in die Menge auf
dem Gang einreihten, spürten sie den ersten Hauch der Nachtluft auf
den Gesichtern. Langsam ging es voran zu den Türen. Harry konnte
die Kiefern riechen, die den Weg zum See hinunter säumten. Er trat
auf den Bahnsteig, sah sich um und lauschte nach dem vertrauten Ruf:
»Erstklässler hier rüber … Erstklässler …«
Aber er kam nicht. Stattdessen rief eine ganz andere Stimme, eine
barsche Frauenstimme: »Erstklässler hierher in eine Reihe, bitte! Alle
Erstklässler zu mir!«
Eine Laterne schwang auf Harry zu, und in ihrem Licht sah er das
markante Kinn und den strengen Haarschnitt von Professor Raue-
Pritsche, der Hexe, die Hagrid letztes Jahr in Pflege magischer
Geschöpfe für eine Weile vertreten hatte.
»Wo ist Hagrid?«, fragte er laut.
»Ich weiß nicht«, antwortete Ginny, »aber wir sollten uns mal hier
wegbewegen, wir versperren die Tür.«
»Oh, ja …«
Harry und Ginny verloren einander, als sie über den Bahnsteig und
durch den Bahnhof gingen. Von der Menge hin und her geschubst,
spähte Harry durch die Dunkelheit nach einem Zeichen von Hagrid; er
musste hier sein, Harry hatte fest mit ihm gerechnet – darauf, Hagrid
wieder zu sehen, hatte er sich am meisten gefreut. Doch keine Spur
von ihm.
- 217 -
Er kann nicht fort sein, sagte sich Harry, während er im Strom der
Menge langsam durch eine enge Tür und hinaus auf die Straße
drängte. Er ist bloß erkältet oder so …
Er hielt Ausschau nach Ron und Hermine, weil er wissen wollte,
was sie davon hielten, dass Professor Raue -Pritsche wieder
aufgetaucht war, aber von den beiden war nichts zu sehen, und so ließ
er sich die dunkle, regennasse Straße vor dem Bahnhof von
Hogsmeade entlangtreiben.
Hier standen die rund hundert pferdelosen Kutschen, in denen die
Schüler ab der zweiten Kla sse zum Schloss hochgebracht wurden.
Harry warf einen kurzen Blick auf sie, wandte sich ab, um weiter nach
Ron und Hermine Ausschau zu halten, stutzte und drehte sich wieder
um.
Die Kutschen waren nicht mehr pferdelos. Zwischen den Deichseln
standen Kreaturen. Hätte er ihnen Namen geben müssen, dann hätte er
sie wohl Pferde genannt, obwohl sie auch Reptilien ähnelten. Sie
waren vollkommen fleischlos, ihre schwarzen Decken klebten an
ihren Skeletten, von denen jeder Knochen sichtbar war. Sie hatten
drachenartige Köpfe und ihre pupillenlosen Augen waren weiß und
blickten starr. Aus den Widerristen ragten Flügel – gewaltige
schwarze ledrige Flügel, die aussahen, als würden sie
Riesenfledermäusen gehören. Grausig und Unheil bringend wirkten
die Geschöpfe, wie sie da still und ruhig in der Düsternis standen.
Harry konnte nicht begreifen, warum die Kutschen von diesen
schaurigen Pferden gezogen wurden, wo sie sich doch von allein
bewegen konnten.
»Wo ist Pig?«, sagte Rons Stimme direkt hinter Harry.
»Diese Luna trägt ihn«, antwortete Harry und wandte sich rasch
um, weil er unbedingt Ron nach Hagrid fragen wollte. »Wo, glaubst
du, ist …«
»… Hagrid? Keine Ahnung«, sagte Ron mit besorgter Stimme.
»Hoffentlich geht's ihm gut …«
Nicht weit von ihnen kam Draco Malfoy daher, gefolgt von einer
kleinen Schar seiner Spießgesellen, darunter Crabbe, Goyle und Pansy
Parkinson. Er stieß ein paar offensichtlich verängstigte Zweitklässler
- 218 -
aus dem Weg, damit er und seine Freunde eine Kutsche für sich alle in
bekamen. Sekunden später löste sich Hermine keuchend aus der
Menge.
»Malfoy war dahinten absolut gemein zu einem Erstklässler. Ich
melde das, ich schwör's, jetzt hat er sein Abzeichen gerade mal drei
Minuten und schon schikaniert er die Leute noch schlimmer als sonst
… Wo ist Krummbein?«
»Ginny hat ihn«, sagte Harry. »Da ist sie …«
Ginny tauchte gerade aus der Menge auf, sie hielt den
widerspenstigen Krummbein an sich geklammert.
»Danke«, sagte Hermine und nahm Ginny den Kater ab. »Kommt,
wir nehmen uns zusammen eine Kutsche, bevor alle besetzt sind …«
»Pig fehlt noch!«, sagte Ron, aber Hermine war schon auf dem
Weg zur nächsten freien Kutsche. Harry hielt sich hinter Ron.
»Was, glaubst du, sind das für Wesen?«, fragte er Ron, während
die anderen Schüler an ihnen vorbeiwogten, und nickte zu den
grausigen Pferden hinüber.
»Was für Wesen?«
»Diese Pferd …«
Lima erschien mit Pigwidgeons Käfig in den Armen; wie immer
zwitscherte die kleine Eule aufgeregt.
»Da hast du ihn«, sagte sie. »Das ist ja 'ne süße kleine Eule, was?«
»Ähm … jaah … er ist schon in Ordnung«, sagte Ron schroff.
»Also, jetzt kommt, steigen wir ein … was wolltest du sagen, Harry?«
»Ich wollte wissen, was das für Pferdewesen sind«, sagte Harry,
während er, Ron und Lima auf die Kutsche zugingen, in der bereits
Hermine und Ginny saßen.
»Was für Pferdewesen?«
»Diese Pferdewesen, die die Kutschen ziehen!«, sagte Harry
ungeduldig.
- 219 -
Immerhin waren sie nur etwa einen Meter vom nächsten entfernt,
das sie mit leeren weißen Augen beobachtete. Ron allerdings sah
Harry verdutzt an.
»Wovon redest du eigentlich?«
»Wovon ich rede – mach doch mal die Augen auf!«
Harry packte Ron am Arm und wirbelte ihn herum, so dass er von
Angesicht zu Angesicht dem geflügelten Pferd gegenüberstand. Ron
starrte eine Sekunde lang unverwandt hin, dann drehte er sich zu
Harry um.
»Was soll ich bitte schön angucken?«
»Das – hier, zwischen den Deichseln! Vor die Kutsche gespannt!
Direkt da vor deiner …«
Doch während Ron weiterhin verwirrt dreinsah, ging Harry ein
merkwürdiger Gedanke durch den Kopf.
»Kannst du … kannst du sie nicht sehen?«
»Was denn sehen?«
»Kannst du nicht sehen, von wem die Kutschen gezogen werden?«
Ron sah jetzt ernstlich besorgt aus.
»Alles in Ordnung mit dir, Harry?«
»Ich … jaah …«
Harry war völlig bestürzt. Das Pferd stand zum Greifen nah vor
ihm, es schimmerte unverkennbar im schwachen Licht, das aus den
Bahnhofsfenstern hinter ihnen drang, und stieß aus seinen Nüstern
Dampf in die kalte Nachtluft. Und doch, wenn Ron nicht flunkerte –
und das wäre ein ziemlich schlechter Scherz –, konnte er nichts davon
sehen.
»Steigen wir jetzt ein, oder was?«, fragte Ron verunsichert und
blickte Harry an, als würde er sich Sorgen um ihn machen.
»Ja«, sagte Harry. »Ja, geh schon …«
- 220 -
»Alles in Ordnung«, sagte eine verträumte Stimme neben Harry,
als Ron ins dunkle Kutscheninnere verschwand. »Du wirst nicht
verrückt oder so. Ich kann sie auch sehen.«
»Wirklich?«, sagte Harry begierig und wandte sich zu Luna um. Er
sah, dass sich die Pferde mit ihren Fledermausflügeln in ihren weiten
silbrigen Augen spiegelten.
»O ja«, sagte Luna, »ich hab sie schon an meinem ersten Tag hier
gesehen. Die haben die Kutschen immer gezogen. Mach dir keine
Sorgen. Du bist genauso wenig verrückt wie ich.«
Mit einem matten Lächeln kletterte sie Ron hinterher in die
muffige Kutsche. Harry folgte ihr nicht sonderlich überzeugt.
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Das neue Lied des Sprechenden
Huts
Harry mochte den anderen nicht erzählen, dass Lima und er die
gleiche Halluzination hatten, wenn es denn eine war. So setzte er sich
in die Kutsche, schlug die Tür hinter sich zu und sagte kein Wort mehr
über die Pferde. Und dennoch sah er wie gebannt aus dem Fenster und
beobachtete, wie sich ihre Silhouetten bewegten.
»Habt ihr die olle Raue-Pritsche gesehen?«, fragte Ginny. »Was
hat die hier unten eigentlich zu suchen? Hagrid kann doch nicht weg
sein, oder?«
»Da war ich ganz froh drüber«, meinte Luna, »er ist kein guter
Lehrer, findet ihr nicht auch?«
»Doch, ist er!«, erwiderten Harry, Ron und Ginny wütend.
Harry sah Hermine streng an. Sie räusperte sich und sagte rasch:
»Ähm … doch … er ist sehr gut.«
»Nun ja, wir in Ravenclaw halten ihn für 'ne Art Witzfigur«, sagte
Luna ungerührt.
»Dann ist euer Sinn für Humor eben zum Kotzen«, fauchte Ron,
als die Räder unter ihnen sich knarrend in Bewegung setzten.
Luna ließ sich durch Rons Grobheit offensichtlich nicht aus der
Ruhe bringen, im Gegenteil. Sie betrachtete ihn nur ein Weilchen wie
eine mäßig spannende Fernsehsendung.
Die Kutschenkolonne ratterte und schwankte den Weg hoch. Als
sie die hohen Steinsäulen mit den geflügelten Ebern zu beiden Seiten
des Tores passierten und auf das Schulgelände fuhren, beugte sich
Harry vor, um nachzusehen, ob in Hagrids Hütte am Verbotenen Wald
Lichter brannten, doch auf den Ländereien herrschte vollkommene
Dunkelheit. Schloss Hogwarts jedoch rückte dräuend näher: ein hoch
aufragendes Massiv aus Türmen, pechschwarz gegen den dunklen
Himmel, und hie und da strahlte ein Fenster feuerhell in die Nacht
hinaus.
- 222 -
Die Kutschen hielten klirrend an der Steintreppe, die zu den
Eichenportalen hinaufführte, und Harry stieg als Erster aus. Noch
einmal wandte er sich um und spähte nach einem beleuchteten Fenster
am Waldrand, doch aus Hagrids Hütte drang eindeutig kein
Lebenszeichen. Widerwillig wandte er den Blick erneut den
unheimlichen Skelettgeschöpfen zu, die ruhig und mit leeren,
schimmernd weißen Augen in der kalten Nachtluft standen, denn
halben Herzens hatte er gehofft, sie wären verschwunden.
Harry hatte schon einmal erlebt, dass er etwas sah, was Ron nicht
sehen konnte, aber damals war es ein Spiegelbild gewesen, etwas viel
Ungreifbareres als hundert sehr handfest aussehende Tierwesen, die
stark genug waren, eine ganze Armada von Kutschen zu ziehen. Wenn
er Luna Glauben schenken konnte, dann waren diese Tiere, wenn auch
unsichtbar, immer schon da gewesen. Warum also konnte Harry sie
plötzlich sehen und Ron nicht?
»Kommst du jetzt, oder was?«, sagte Ron neben ihm.
»Oh … ja«, gab Harry rasch zurück und sie schlossen sich den
Scharen an, die über die steinerne Treppe hoch ins Schloss eilten.
Die Eingangshalle stand in loderndem Fackellicht und hallte wider
vom Getrappel der Schüler, die den steingefliesten Boden nach rechts
überquerten, zur Flügeltür der Großen Halle hin, wo die
Begrüßungsfeier stattfand.
Allmählich bevölkerten sich die vier langen Haustische unter dem
sternlosen schwarzen Himmel der Großen Halle, der genau dem
Himmel glich, den sie durch die hohen Fenster noch erahnen konnten.
Kerzen schwebten über den Tischen und warfen ihr Licht auf die hie
und da verteilten silbrigen Gespenster und auf die Gesichter der
Schüler, die eifrig Neuigkeiten über ihre Sommerferien austauschten,
Freunden aus anderen Häusern Grüße zuriefen und neue Haarschnitte
und Umhänge mit flüchtigen Blicken bedachten. Wieder bemerkte
Harry, dass manche ihre Köpfe zusammensteckten und wisperten,
wenn er vorbeiging; er biss die Zähne zusammen und tat so, als ob es
ihm weder auffiele noch etwas ausmachte.
Am Ravenclaw-Tisch trennte sich Luna von ihnen. Kaum hatten
sie den Tisch der Gryffindors erreicht, wurde Ginny lauthals von ein
- 223 -
paar anderen Viertklässlern begrüßt und setzte sich zu ihnen. Harry,
Ron, Hermine und Neville fanden etwa in der Mitte des Tisches
zusammen Platz, zwischen dem Fast Kopflosen Nick, dem
Hausgespenst der Gryffindors, und Parvati Patil und Lavender Brown,
die Harry allzu lebhaft und freundlich begrüßten, woraus er den
sicheren Schluss zog, dass sie noch einen kurzen Augenblick zuvor
über ihn geredet hatten. Allerdings gab es Wichtigeres, worüber er
sich Gedanken machte: Er spähte über die Köpfe der Schülerinnen
und Schüler hinweg zum Lehrertisch, der längs der Stirnseite der
Halle aufgestellt war.
»Er ist nicht da.«
Auch Ron und Hermine suchten den Lehrertisch ab, obwohl es
eigentlich nicht nötig war; Hagrid war so groß, dass er in jeder Gruppe
sofort ins Auge fiel.
»Er kann doch nicht weg sein«, sagte Ron beklommen.
»Natürlich nicht«, sagte Harry entschieden.
»Ihr glaubt nicht, dass er … verletzt ist oder so?«, meinte Hermine
bedrückt.
»Nein«, erwiderte Harry sofort.
»Aber wo ist er dann?«
Eine Pause trat ein, dann sagte Harry sehr leise, damit Neville,
Parvati und Lavender es nicht hören konnten: »Vielleicht ist er noch
nicht zurück. Ihr wisst schon – sein Auftrag – was er den Sommer
über für Dumbledore erledigen sollte.«
»Jaah … ja, das wird's sein«, sagte Ron und klang schon
zuversichtlicher, aber Hermine biss sich auf die Lippe und ließ den
Blick über den Lehrertisch wandern, als hoffte sie eine schlüssige
Erklärung für Hagrids Fehlen zu finden.
»Wer ist das denn?«, sagte sie spitz und deutete zur Mitte des
Lehrertisches.
Harry folgte ihren Augen. Sein Blick fiel zunächst auf Professor
Dumbledore, der auf seinem goldenen hohen Lehnstuhl in der Mitte
des langen Lehrertisches saß, in einem dunkelvioletten Umhang, der
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mit silbernen Sternen gesprenkelt war, und mit einem dazu passenden
Hut. Dumbledore hatte den Kopf seiner Nachbarin zugeneigt, die ihm
ins Ohr sprach. Sieht aus wie eine alte Jungfer, ging es Harry durch
den Kopf: untersetzt, mit kurzen, mausgrauen Locken, in die sie einen
fürchterlichen rosa Haarreif gesteckt hatte, passend zu der flaumigen
rosa Strickjacke, die sie über ihrem Umhang trug. Sie wandte leicht
den Kopf, um an ihrem Trinkkelch zu nippen, und erschrocken
erkannte er es wieder, das fahle, krötenartige Gesicht mit den
hervorquellenden Triefaugen.
»Das ist diese Umbridge!«
»Wer?«, sagte Hermine.
»Die war bei meiner Anhörung dabei, sie arbeitet für Fudge!«
»Hübsche Strickjacke«, sagte Ron grinsend.
»Sie arbeitet für Fudge!«, wiederholte Hermine stirnrunzelnd.
»Was um Himmels willen hat sie dann hier zu suchen?«
»Weiß nicht …«
Hermine kniff die Augen zusammen und suchte den Lehrertisch
ab.
»Nein«, murmelte sie, »nein, sicher nicht …«
Harry hatte keine Ahnung, wovon sie redete, fragte aber nicht
danach; sein Augenmerk war auf Professor Raue-Pritsche gerichtet,
die eben hinter dem Lehrertisch aufgetaucht war; sie drängte sich bis
ganz ans Ende durch und setzte sich auf den Platz, der eigentlich
Hagrids war. Also mussten die Erstklässler den See überquert haben
und im Schloss angekommen sein, und tatsächlich, nach wenigen
Augenblicken öffnete sich die Tür zur Eingangshalle. In einer langen
Reihe kamen die verängstigt wirkenden Neulinge herein, angeführt
von Professor McGonagall, die einen Stuhl trug, auf dem ein alter
Zauberhut lag, arg geflickt und gestopft und mit einem breiten Riss
über der ausgefransten Krempe.
Das Stimmengewirr in der Großen Halle erstarb. Die Erstklässler
stellten sich vor dem Lehrertisch auf, die Gesichter den anderen
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Schülern zugewandt, während Professor McGonagall den Stuhl
bedächtig vor sie hinstellte und dann beiseite trat.
Die Gesichter der Neuen schimmerten bleich im Kerzenlicht. Ein
kleiner Junge in der Mitte der Reihe schien zu zittern. Harry erinnerte
sich flüchtig, wie schrecklich es für ihn gewesen war, dort zu stehen
und auf die unbekannte Prüfung zu warten, die bestimmen sollte, zu
welchem Haus er gehörte.
Die ganze Schule wartete mit angehaltenem Atem. Dann öffnete
sich der Riss nahe der Hutkrempe weit wie ein Mund und der
Sprechende Hut begann zu singen:
In alter Zeit, als ich noch neu,
Hogwarts am Anfang stand,
Die Gründer unsrer noblen Schule
noch einte ein enges Band.
Sie hatten ein gemeinsam' Ziel
Sie hatten ein Bestreben:
Die beste Zauberschule der Welt,
Und Wissen weitergeben.
»Zusammen wollen wir bau'n und lehr'n!«
Das nahmen die Freunde sich vor.
Und niemals hätten die vier geahnt,
Dass ihre Freundschaft sich verlor.
Gab es so gute Freunde noch
Wie Slytherin und Gryffindor?
Es sei denn jenes zweite Paar
Aus Hufflepuff und Ravenclaw?
Weshalb ging dann dies alles schief,
Hielt diese Freundschaft nicht?
Nun, ich war dort und ich erzähl
Die traurige Geschicht'.
Sagt Slytherin: »Wir lehr'n nur die
Mit reinstem Blut der Ahnen.«
Sagt Ravenclaw: »Wir aber lehr'n,
Wo Klugheit ist in Bahnen.«
Sagt Gryffindor: »Wir lehr'n all die,
Die Mut im Namen haben.«
Sagt Hufflepuff: »Ich nehm sie all'
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Ohne Ansehen ihrer Gaben.«
Am Anfang gab es wenig Streit
Nur Unterschiede viele,
Denn jeder der vier Gründer hatte
Ein Haus für seine Ziele.
Sie holten sich, wer da gefiel;
So Slytherin nahm auf,
Wer Zauberer reinen Blutes war
Und listig obendrauf.
Und nur wer hellsten Kopfes war,
Der kam zu Ravenclaw.
Die Mutigsten und Kühnsten doch
Zum tapferen Gryffindor.
Den Rest nahm auf die Hufflepuff,
Tat allen kund ihr Wissen,
So standen die Häuser und die Gründer denn
In Freundschaft, nicht zerrissen.
In Hogwarts herrschte Friede nun
In manchen glücklichen Jahren,
Doch bald kam hässliche Zwietracht auf,
Aus Schwächen und Fehlern entfahren.
Die Häuser, die vier Säulen gleich
Einst unsre Schule getragen,
Sie sahen sich jetzt als Feinde an,
Wollten herrschen in diesen Tagen.
Nun sah es so aus, als sollte der Schule
Ein frühes Ende sein.
Durch allzu viele Duelle und Kämpfe
Und Stiche der Freunde allein.
Und schließlich brach ein Morgen an,
Da Slytherin ging hinfort.
Und obwohl der Kampf nun verloschen war,
Gab's keinen Frieden dort.
Und nie, seit unsere Gründer vier
Gestutzt auf dreie waren,
Hat Eintracht unter den Häusern geherrscht,
Die sie doch sollten bewahren.
Nun hört gut zu dem Sprechenden Hut,
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Ihr wisst, was euch beschieden:
Ich verteil euch auf die Häuser hier,
Wie's mir bestimmt ist hienieden.
Ja, lauscht nur meinem Liede gut,
Dies Jahr werd ich weitergehen:
Zu trennen euch bin ich verdammt,
Doch könnt man's als Fehler sehen.
Zwar muss ich meine Pflicht erfüllen
Und jeden Jahrgang teilen.
Doch wird nicht bald durch diese Tat
Das Ende uns ereilen?
Oh, seht das Verderben und deutet die Zeichen,
Die aus der Geschichte erstehen.
Denn unsere Schule ist in Gefahr,
Sie mag durch äußere Feinde vergehen.
Wir müssen uns stets in Hogwarts vereinen
Oder werden zerfallen von innen.
Ich hab's euch gesagt, ich habe gewarnt …
Lasst die Auswahl nun beginnen.
Der Hut erstarrte wieder, Beifall brandete auf, aber zum ersten
Mal, soweit sich Harry erinnern konnte, war dazwischen ein Murmeln
und Wispern zu hören. Überall in der Großen Halle tuschelten Schüler
mit ihren Nachbarn, und Harry, der wie alle anderen klatschte, wusste
genau, worüber sie sprachen.
»Ist dieses Jahr ein bisschen abgeschweift, was?«, sagte Ron mit
hochgezogenen Augenbrauen.
»Und völlig zu Recht«, erwiderte Harry.
Der Sprechende Hut beschränkte sich normalerweise darauf, die
unterschiedlichen Eigenschaften zu beschreiben, die von den vier
Hogwarts-Häusern verlangt wurden, und auf seine eigene Aufgabe,
die Schüler dementsprechend auf die Häuser zu verteilen. Harry
konnte sich nicht erinnern, dass der Hut je versucht hätte, der Schule
einen Rat zu erteilen.
»Hat er eigentlich überhaupt schon mal eine Warnung
ausgesprochen?«, fragte Hermine in leicht beunr uhigtem Ton.
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»Ja, in der Tat«, sagte der Fast Kopflose Nick wissend und lehnte
sich durch Neville zu ihr hinüber (Neville zuckte zusammen; es war
nicht gerade angenehm, wenn sich ein Geist durch einen
hindurchlehnte). »Der Hut hält es für seine Ehrenpflicht, die Schule
geziemend zu warnen, wann immer er der Meinung ist …«
Aber Professor McGonagall, die Anstalten machte, die Liste mit
den Namen der Erstklässler zu verlesen, versetzte den flüsternden
Schülern einen Blick von der vernichtenden Sorte. Der Fast Kopflose
Nick legte einen durchsichtigen Finger auf die Lippen und setzte sich
wieder stocksteif hin, als plötzlich das Gemurmel verstummte.
Professor McGonagall ließ den Blick noch einmal finster über die vier
Haustische schweifen, dann senkte sie die Augen auf ihr langes Stück
Pergament und rief laut den ersten Namen auf.
»Abercrombie, Euan.«
Der verängstigt wirkende Junge, der Harry schon aufgefallen war,
stolperte nach vorne und setzte sic h den Hut auf; einzig seine weit
abstehenden Ohren verhinderten, dass er ihm sogleich auf die
Schultern rutschte. Der Hut überlegte einen Moment, dann öffnete
sich der Riss an der Krempe wieder und er verkündete:
»Gryffindor!«
Harry klatschte laut mit den anderen Gryffindors, während Euan
Abercrombie an ihren Tisch getaumelt kam und sich setzte. Er machte
den Eindruck, als würde er am liebsten im Boden versinken und nie
wieder einen Blick auf sich ziehen wollen.
Allmählich dünnte die lange Reihe der Erstklässler aus. In den
Pausen zwischen dem Aufrufen der Namen und den Entscheidungen
des Sprechenden Huts konnte Harry Rons Magen laut rumoren hören.
Schließlich wurde »Zeller, Rose« dem Haus Hufflepuff zugeteilt,
Professor McGonagall nahm Hut und Stuhl und schritt mit ihnen
davon, und Professor Dumbledore erhob sich.
Bei aller Bitterkeit, die Harry in der letzten Zeit gegenüber seinem
Schulleiter gehegt hatte, fühlte er sich nun, da er Dumbledore vor
ihnen allen stehen sah, einigermaßen besänftigt. Hagrid fehlte, dazu
noch diese Drachenpferde – das alles hatte ihm das Gefühl gegeben,
seine Rückkehr nach Hogwarts, die er so lange gespannt erwartet
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hatte, wäre voll leidiger Überraschungen, gleich Misstönen in einem
vertrauten Lied. Doch nun war es endlich so, wie es sein sollte: Ihr
Schulleiter erhob sich, um sie alle beim Empfangsessen zu begrüßen.
»An unsere Neuen«, sagte Dumbledore mit schallender Stimme,
die Arme weit ausgebreitet und ein strahlendes Lächeln auf den
Lippen, »willkommen! An unsere alten Hasen – willkommen zurück!
Es gibt eine Zeit, um Reden zu halten, aber dies ist sie nicht. Haut
rein!«
Es gab anerkennendes Gelächter, und Beifall brandete auf, als sich
Dumbledore elegant setzte und sich den langen Bart über die Schulter
warf, damit er ihm beim Essen nicht in die Quere kam – denn aus dem
Nichts waren Speisen erschienen, und die fünf langen Tische ächzten
unter Braten und Pasteten und Schüsseln mit Gemüse, unter Brot und
Soßen und Krügen voll Kürbissaft.
»Klasse«, sagte Ron mit einem hungrigen Stöhnen, griff sich die
nächstbeste Platte mit Koteletts und fing an, seinen Teller zu beladen,
unter den wehmütigen Blicken des Fast Kopflosen Nick.
»Was haben Sie vorhin noch gesagt?«, fragte Hermine das
Gespenst. »Von wegen, dass der Sprechende Hut Warnungen
ausspricht?«
»Oh, ja«, sagte Nick, offenbar froh über einen Grund, sich von Ron
abzuwenden, der inzwischen mit fast unanständiger Begeisterung
Bratkartoffeln aß. »Ja, ich habe den Hut schon mehrmals Warnungen
aussprechen hören, immer zu Zeiten, da er große Gefahr für die
Schule spürte. Und natürlich lautete sein Rat immer gleich: Steht
zusammen und seid stark von innen heraus.«
»Ui gan ein ut wischn da di schuhe ingefah isch?«, sagte Ron.
Er hatte den Mund so voll, dass Harry sich wunderte, wie er es
schaffte, überhaupt einen Mucks von sich zu geben.
»Verzeihung, bitte?«, fragte der Fast Kopflose Nick höflich,
während Hermine angewidert dreinsah. Ron schluckte seinen
gewaltigen Bissen hinunter und sagte: »Wie kann ein Hut wissen, dass
die Schule in Gefahr ist?«
- 230 -
»Ich habe keine Ahnung«, sagte der Fast Kopflose Nick.
»Immerhin lebt er in Dumbledores Büro, also würde ich sagen, er
schnappt dort dies und jenes auf.«
»Und er will, dass alle Häuser untereinander befreundet sind?«,
sagte Harry und warf einen Blick hinüber zum Tisch der Slytherins,
wo Draco Malfoy Hof hielt. »Darauf kann er lange warten.«
»Nun, also, du solltest dir diese Haltung nicht zu Eigen machen«,
sagte Nick vorwurfsvoll. »Friedliche Zusammenarbeit, das ist die
Devise. Wir Gespenster pflegen freundschaftliche Bande, auch wenn
wir zu unterschiedlichen Häusern gehören. Trotz der Konkurrenz
zwischen Gryffindor und Slytherin würde ich nicht im Traum daran
denken, Streit mit dem Blutigen Baron zu suchen.«
»Nur weil Sie schreckliche Angst vor ihm haben«, entgegnete Ron.
Der Fast Kopflose Nick schien höchst entrüstet.
»Angst? Ich hoffe doch, dass ich, Sir Nicholas de Mimsy-
Porpington, mich während meines ganzen Lebens nie der Feigheit
schuldig gemacht habe! Das edle Blut, das in meinen Adern fließt …«
»Welches Blut?«, fragte Ron. »Sie haben doch ganz bestimmt kein
…?«
»Das ist eine Redensart!«, sagte der Fast Kopflose Nick,
inzwischen so verärgert, dass sein Kopf auf seinem nicht ganz
durchtrennten Hals bedrohlich zitterte. »Ich nehme an, es ist mir
immer noch erlaubt, jedwede Worte zu gebrauchen, die mir belieben,
selbst wenn mir die Genüsse des Essens und Trinkens versagt bleiben!
Aber sei versichert, ich bin durchaus an Schüler gewöhnt, die sich
über meinen Tod lustig machen!«
»Nick, er hat Sie wirklich nicht ausgelacht!«, sagte Hermine und
warf Ron einen zornigen Blick zu.
Unglücklicherweise war Rons Mund schon wieder gestopft voll
und alles, was er herausbrachte, war ein »Nö isch wollschi nisch
feraaschn«, was Nick offenbar nicht als angemessene Entschuldigung
zu würdigen bereit war. Er erhob sich in die Luft, rückte seinen
Federhut zurecht und entschwebte zum anderen Ende des Tisches, wo
er sich zwischen den Creevey-Brüdern Colin und Dennis niederließ.
- 231 -
»Na toll, Ron«, fauchte Hermine.
»Was?«, sagte Ron entrüstet, der es endlich geschafft hatte, seinen
Bissen hinunterzuschlucken. »Darf man hier nicht mal einfache
Fragen stellen?«
»Ach, vergiss es«, erwiderte Hermine ärgerlich und den Rest des
Essens verbrachten die beiden in gekränktem Schweigen.
Harry kannte ihr Gekabbel nur zu gut und mühte sich gar nicht
erst, sie zu versöhnen; er hatte das Gefühl, seine Zeit besser zu nutzen,
indem er ordentlich Steak-und-Nieren-Pastete futterte und
anschließend einen großen Teller mit seiner Lieblings-Siruptorte
verschlang.
Als alle Schüler mit dem Essen fertig waren und der Lärm in der
Halle allmählich wieder anschwoll, erhob sich Dumbledore erneut.
Die Unterhaltungen verstummten schlagartig und alle wandten sich
dem Schulleiter zu. Harry fühlte sich inzwischen angenehm dösig.
Sein Himmelbett wartete irgendwo da oben auf ihn, wunderbar warm
und weich …
»Nun, jetzt, da wir alle ein weiteres herrliches Festessen verdauen,
bitte ich für einige Momente um eure Aufmerksamkeit für die
üblichen Bemerkungen zum Schuljahrsbeginn«, sagte Dumbledore.
»Die Erstklässler sollten wissen, dass der Wald auf dem
Schlossgelände für Schüler verboten ist – und einige unserer älteren
Schüler sollten es inzwischen auch wissen.« (Harry, Ron und Hermine
tauschten ein künstliches Lächeln.)
»Mr. Filch, der Hausmeister, hat mich, wie er sagt, zum
vierhundertzweiundsechzigsten Mal gebeten, euch daran zu erinnern,
dass Zauberei zwischen den Unterrichtsstunden auf den Gängen nicht
erlaubt ist, ebenso wenig wie eine Reihe anderer Dinge, die alle auf
der erschöpfenden Liste nachzulesen sind, die jetzt an Mr. Filchs
Bürotür hängt.
Dieses Jahr haben wir zwei Veränderungen im Kollegium. Wir
freuen uns sehr, Professor Raue-Pritsche erneut willkommen zu
heißen, die Pflege magischer Geschöpfe unterrichten wird; wir freuen
uns ebenfalls, Professor Umbridge vorstellen zu können, unsere neue
Lehrerin für Verteidigung gegen die dunklen Künste.«
- 232 -
Es gab höflichen, wenn auch kaum begeisterten Beifall und Harry,
Ron und Hermine warfen sich leicht panische Blicke zu; Dumbledore
hatte nicht gesagt, wie lange Raue-Pritsche unterric hten würde.
Dumbledore fuhr fort: »Auswahlspiele für die Quidditch-
Mannschaften der Häuser finden statt am …«
Er unterbrach sich und sah Professor Umbridge fragend an. Da sie
im Stehen nicht viel größer war als im Sitzen, begriff einen Moment
lang niemand, warum Dumbledore aufgehört hatte zu reden, doch
dann räusperte sich Professor Umbridge, »chrm, chrm«, und es war
klar, dass sie aufgestanden war und die Absicht hatte, eine Rede zu
halten.
Dumbledore wirkte nur einen Moment lang verdutzt, dann setzte er
sich munter und sah Professor Umbridge aufmerksam an, als ob er
sich nichts sehnlicher wünschte, als ihrem Vortrag zu lauschen.
Andere Mitglieder des Kollegiums konnten ihre Überraschung nicht
so geschickt verbergen. Professor Sprouts Augenbrauen waren in
ihrem zerzausten Haar verschwunden und Professor McGonagalls
Mund war so dünnlippig, wie ihn Harry noch nie gesehen hatte.
Niemals zuvor hatte ein neuer Lehrer Dumbledore unterbrochen. Viele
Schüler grinsten; diese Frau wusste offensichtlich nicht, wie es in
Hogwarts zuging.
»Danke, Direktor«, sagte Professor Umbridge geziert, »für diese
freundlichen Willkommensworte.«
Sie hatte eine hohe, hauchzarte Kleinmädchenstimme, und Harry
spürte erneut eine mächtige Woge der Abneigung, die er sich nicht
erklären konnte; er wusste nur, dass er alles an ihr verabscheute, von
ihrer albernen Stimme bis zu ihrer flauschigen rosa Strickjacke.
Erneut ließ sie ein kleines hüstelndes Räuspern hören (chrm, chrm),
dann fuhr sie fort.
»Nun, es ist wunderbar, wieder in Hogwarts zu sein, muss ich
sagen!« Sie lächelte und offenbarte dabei sehr spitze Zähne. »Und
solch glückliche kleine Gesichter zu mir aufblicken zu sehen!«
Harry ließ den Blick umherschweifen. Keines der Gesichter, die er
sehen konnte, wirkte glücklich. Im Gegenteil, sie wirkten eher
verblüfft, wie Fünfjährige angesprochen zu werden.
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»Ich freue mich sehr darauf, Sie alle kennen zu lernen, und ich bin
sicher, wir werden sehr gute Freunde werden!«
Die Schüler sahen sich verwundert an, manche unterdrückten kaum
noch ein Grinsen.
»Meinetwegen bin ich ihre Freundin, solange ich mir diese
Strickjacke nicht ausleihen muss«, wisperte Parvati Lavender zu und
beide brachen in stummes Kichern aus.
Professor Umbridge räusperte sich erneut (chrm, chrm), doch als
sie fortfuhr, war ihre Stimme nicht mehr ganz so zart. Sie klang
weitaus geschäftsmäßiger und ihre Worte hatten jetzt einen drögen
Ton, als würde sie etwas auswendig Gelerntes vortragen.
»Das Zaubereiministerium hat der Ausbildung junger Hexen und
Zauberer immer die größte Bedeutung beigemessen. Die seltenen
Gaben, die Sie von Geburt an besitzen, könnten verkümmern, wenn
wir sie nicht durch sorgfältige Anleitung fördern und hegen würden.
Die uralten Fähigkeiten, die der Gemeinschaft der Zauberer
vorbehalten sind, müssen von Generation zu Generation
weitergegeben werden, wenn wir sie nicht für immer verlieren wollen.
Der Schatz magischen Wissens, den unsere Vorfahren
zusammengetragen haben, muss bewahrt, erweitert und vertieft
werden von jenen, die zum ehrenvollen Dienst des Lehrers berufen
sind.«
Hier legte Professor Umbridge eine Pause ein und machte eine
kleine Verbeugung hin zu ihren Kollegen, von denen keiner sie
erwiderte. Professor McGonagalls dunkle Augenbrauen hatten sich
dermaßen zusammengezogen, dass sie nun eindeutig wie ein Falke
wirkte, und Harry sah deutlich, wie sie mit Professor Sprout einen viel
sagenden Blick tauschte. Umbridge ließ wiederum ein leises Chrm,
chrm hören und fuhr mit ihrer Rede fort:
»Jeder Schulleiter, jede Schulleiterin von Hogwarts hat etwas
Neues zu der schweren Aufgabe beigetragen, diese geschichtsträchtige
Schule zu führen, und das ist auch gut so, denn ohne Fortschritt treten
Stillstand und Verfall ein. Und doch muss dem Fortschritt um des
Fortschritts willen eine Absage erteilt werden, denn häufig bedürfen
unsere erprobten und bewährten Traditionen nicht des
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Herumstümperns. Ein Gleichgewicht also zwischen Altem und
Neuem, zwischen Dauer und Wandel, zwischen Tradition und
Innovation …«
Harry spürte, dass seine Aufmerksamkeit verebbte, dass sein
Denken sich abwechselnd trübte und wieder schärfte. Die Stille, die
stets den Raum beherrschte, wenn Dumbledore sprach, verflog, seine
Mitschüler steckten flüsternd und kichernd die Köpfe zusammen.
Drüben am Ravenclaw-Tisch plauderte Cho Chang angeregt mit ihren
Freundinnen. Ein paar Plätze von Cho entfernt hatte Luna Lovegood
erneut ihren Klitterer herausgeholt. Am Hufflepuff-Tisch indes war
Ernie Macmillan einer der wenigen, die immer noch Professor
Umbridge anstarrten, wenn auch mit glasigen Augen, und Harry war
sicher, dass er nur so tat, als würde er zuhören, ganz bestrebt, dem
neuen Vertrauensschülerabzeichen, das auf seiner Brust schimmerte,
gerecht zu werden.
Professor Umbridge schien die Unruhe im Publikum nicht
wahrzunehmen. Harry hatte den Eindruck, eine ausgewachsene
Randale hätte direkt vor ihrer Nase losbrechen können und sie hätte
ihre Rede weiter durchgezogen. Die Lehrer jedoch lauschten immer
noch sehr aufmerksam, und Hermine schien jedes von Professor
Umbridges Worten einzusaugen, auch wenn sie, ihrer Miene nach zu
schließen, überhaupt nicht nach ihrem Geschmack waren.
»… weil manche Änderungen zum Besseren ausschlagen, während
andere im Urteil der Geschichte sich als Fehlentscheidungen erweisen
werden. Desgleichen werden manche alten Gewohnheiten bewahrt
werden, und das ganz zu Recht, während andere, veraltet und
überholt, aufgegeben werden müssen. Gehen wir also voran in eine
neue Ära der Offenheit, der Effizienz und der Verantwortlichkeit,
bestrebt, das zu bewahren, was bewahrenswert ist, zu
vervollkommnen, was vervollkommnet werden muss, und zu säubern,
wo wir Verhaltensweisen finden, die verboten gehören.«
Sie setzte sich. Dumbledore klatschte. Die Lehrer folgten seinem
Beispiel, allerdings fiel Harry auf, dass einige von ihnen ihre Hände
nur ein- oder zweimal zusammenschlugen und dann innehielten. Ein
paar wenige Schüler schlossen sich dem Beifall an, doch die meisten,
die nicht mehr als einige Worte lang zugehört hatten, waren vom Ende
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der Rede überrascht worden, und bevor sie ordentlich applaudieren
konnten, hatte sich Dumbledore bereits wieder erhoben.
»Ich danke Ihnen vielmals, Professor Umbridge, das war eine
höchst aufschlussreiche Rede«, sagte er und verbeugte sich vor ihr.
»Nun, wie gesagt, die Quidditch-Auswahlspiele finden statt am …«
»Ja, das war wirklich aufschlussreich«, sagte Hermine mit
gedämpfter Stimme.
»Willst du sagen, du fandest sie gut?«, fragte Ron leise und wandte
sich mit trüben Augen Hermine zu. »Das war so ziemlich die
langweiligste Rede, die ich je gehört habe, und ich bin immerhin mit
Percy aufgewachsen.«
»Ich hab gesagt aufschlussreich, nicht gut«, sagte Hermine. »Sie
hat vieles erklärt.«
»Tatsächlich?«, sagte Harry überrascht. »Mir kam's vor wie ein
Haufen Geschwafel.«
»In dem Geschwafel waren einige wichtige Hinweise versteckt«,
sagte Hermine grimmig.
»Wirklich?«, sagte Ron mit ratloser Miene.
»Was ist mit: ›Dem Fortschritt um des Fortschritts willen muss
eine Absage erteilt werden‹? Oder mit: ›Säubern, wo wir
Verhaltensweisen finden, die verboten gehören‹?«
»Naja, was soll das heißen?«, sagte Ron ungeduldig.
»Ich will dir erklären, was das heißt«, sagte Hermine unheilvoll.
»Das heißt, das Ministerium mischt sich in Hogwarts ein.«
Ringsum begann ein großes Stühlerücken und Fußgetrappel;
offenbar hatte Dumbledore die Feier aufgelöst, denn alle standen auf
und machten sich bereit, die Halle zu verlassen. Hermine sprang hoch,
in heller Aufregung.
»Ron, wir müssen den Erstklässlern den Weg zeigen!«
»Ach ja«, sagte Ron, der es offensichtlich vergessen hatte. »Hey –
hey, ihr da! Ihr Knirpse!«
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»Ron!«
»Naja, das sind sie doch, Winzlinge …«
»Das weiß ich, aber du kannst sie nicht Knirpse nennen! –
Erstklässler!«, rief Hermine gebieterisch über den Tisch hinweg.
»Hier lang, bitte!«
Eine Gruppe von Neulingen ging schüchtern zwischen dem
Gryffindor- und dem Hufflepuff-Tisch hindurch, alle äußerst bemüht,
auf keinen Fall als Anführer dazustehen. Tatsächlich schienen sie sehr
klein; Harry war sich sicher, dass er nicht so jung gewirkt hatte, als er
hier angekommen war. Er grinste ihnen zu. Ein blonder Junge neben
Euan Abercrombie schien vor Schreck zu erstarren; er stupste Euan an
und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Euan Abercrombie war offenbar nicht
minder erschrocken und warf Harry einen angsterfüllten Blick zu.
Harry spürte das Grinsen von seinem Gesicht tröpfeln wie Stinksaft.
»Bis später dann«, sagte er zu Ron und Hermine und verließ allein
die Große Halle, er war entschlossen, unterwegs nicht mehr auf
Geflüster, Gestarre und auf ihn deutende Finger zu achten. Er blickte
stur geradeaus und schlängelte sich durch die Menge in der
Eingangshalle, dann eilte er die Marmortreppe hoch, nahm ein paar
verborgene Abkürzungen und hatte bald das größte Gedränge hinter
sich gelassen.
Es war dumm von ihm gewesen, nicht mit so etwas zu rechnen,
überlegte er zornig, während er durch die viel ruhigeren Korridore in
den oberen Stockwerken ging. Natürlich starrten ihn alle an; er war
zwei Monate zuvor aus dem Trimagischen Irrgarten aufgetaucht, die
Leiche eines Mitschülers an sich gepresst, und hatte behauptet, er habe
Lord Voldemort an die Macht zurückkehren sehen. Im vergangenen
Schuljahr war keine Zeit gewesen, alles zu erklären, bevor sie nach
Hause gefahren waren – selbst wenn er sich imstande gefühlt hätte,
der ganzen Schule einen genauen Bericht über die schrecklichen
Ereignisse auf jenem Friedhof zu liefern.
Harry hatte das Ende des Korridors zum Gemeinschaftsraum der
Gryffindors erreicht und blieb vor dem Porträt der fetten Dame stehen,
da fiel ihm ein, dass er das neue Passwort nicht kannte.
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»Ähm …«, sagte er verdrießlich und starrte zur fetten Dame hoch,
die die Falten ihres rosa Seidenkleides glatt strich und seinen Blick
streng erwiderte.
»Kein Passwort, kein Zutritt«, sagte sie hochmütig.
»Harry, ich weiß es!« Jemand keuchte von hinten auf ihn zu, und
als er sich umwandte, sah er Neville herantraben. »Rat mal, wie es
heißt! Ich kann's mir nämlich endlich mal merken …« Er fuchtelte mit
dem mickrigen Kaktus, den er ihnen im Zug gezeigt hatte. »Mimbulus
mimbeltonia!«
»Richtig«, sagte die fette Dame, und ihr Porträt schwang ihnen
entgegen wie eine Tür und gab den Blick auf ein rundes Loch in der
Wand dahinter frei, durch das Harry und Neville jetzt kletterten.
Der Gemeinschaftsraum der Gryffindors, der unverändert gastlich
wirkte, war ein behagliches rundes Turmzimmer voll zerschlissener
knuddliger Sessel und wackliger alter Tische. Im Kamin prasselte ein
munteres Feuer und ein paar Schüler wärmten sich daran die Hände,
bevor sie zu ihren Schlafsälen hinaufstiegen; auf der anderen Seite des
Zimmers pinnten Fred und George Weasley etwas an das schwarze
Brett. Harry wünschte ihnen mit einer Handbewegung gute Nacht und
ging flugs auf die Tür zum Jungenschlafsaal zu; momentan war ihm
nicht sonderlich nach Gesprächen zumute. Neville folgte ihm.
Dean Thomas und Seamus Finnigan waren schon im Schlafsaal
und gerade dabei, Poster und Fotos an die Wände neben ihren Betten
zu hängen. Sie hatten sich unterhalten, als Harry die Tür öffnete,
verstummten aber jäh, kaum dass sie ihn sahen. Harry fragte sich, ob
sie über ihn geredet hatten, und gleich darauf, ob er unter
Verfolgungswahn litt.
»Hi«, sagte er, ging hinüber zu seinem Koffer und öffnete ihn.
»Hey, Harry«, sagte Dean, der sic h gerade seinen Pyjama in den
Farben von West Harn anzog. »Schöne Ferien gehabt?«
»Ging so«, murmelte Harry, da ein wahrheitsgetreuer Bericht über
seine Ferien den größten Teil der Nacht in Anspruch genommen hätte
und er dazu keine Lust hatte. »Und du?«
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»Ja, war okay«, kicherte Dean. »Besser als bei Seamus jedenfalls,
er hat's mir gerade erzählt.«
»Warum, was ist passiert, Seamus?«, fragte Neville und stellte den
Mimbulus mimbeltonia liebevoll auf sein Nachtschränkchen.
Seamus antwortete nicht gleich; zunächst sorgte er penibel dafür,
dass sein Quidditch-Poster der Kenmare Kestrels auch ja gerade hing.
Dann sagte er, Harry immer noch den Rücken zugekehrt: »Meine
Mum wollte nicht, dass ich wieder zurückkomme.«
»Was?«, sagte Harry und hielt beim Ausziehen seines Umhangs
inne.
»Sie wollte nicht, dass ich nach Hogwarts zurückkomme.«
Seamus wandte sich von seinem Poster ab und zog seinen
Schlafanzug aus dem Koffer, noch immer ohne Harry anzusehen.
»Aber – wieso?«, sagte Harry erstaunt. Er wusste, dass Seamus'
Mutter eine Hexe war, deshalb konnte er nicht verstehen, warum sie
sich so wie die Dursleys aufgeführt hatte.
Seamus antwortete erst, als er seinen Schlafanzug ganz zugeknöpft
hatte.
»Nun ja«, sagte er in gemessenem Ton, »ich vermute … wegen
dir.«
»Was soll das heißen?«, fragte Harry rasch.
Sein Herz schlug ziemlich schnell. Er hatte das vage Gefühl, als ob
etwas bedrohlich auf ihn zunicken würde.
»Nun ja«, sagte Seamus wieder und mied weiterhin Harrys Blick,
»sie … ähm … nun ja, es ist nicht nur wegen dir, auch wegen
Dumbledore …«
»Sie glaubt dem Tagespropheten?«, sagte Harry. »Sie denkt, ich sei
ein Lügner und Dumbledore ein alter Narr?«
Seamus blickte zu ihm auf.
»Ja, so ungefähr.«
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Harry schwieg. Er warf seinen Zauberstab auf den Nachttisch, zog
seinen Umhang aus, stopfte ihn zornig in den Koffer und schlüpfte in
seinen Pyjama. Es widerte ihn an; er hatte es satt, der zu sein, der
angestarrt wurde und über den man die ganze Zeit redete. Wenn nur
einer von ihnen wüsste, wenn nur einer die leiseste Ahnung hätte, wie
es war, wenn einem all diese Dinge passierten … Mrs. Finnigan,
schoss es ihm wutentbrannt durch den Kopf, diese dumme Frau, sie
hatte doch keine Ahnung.
Er stieg ins Bett und wollte gerade die Vorhänge zuziehen, als
Seamus sagte: »Hör mal … was ist denn jetzt in dieser Nacht passiert,
als … du weißt schon, als … das mit Cedric Diggory und so?«
Seamus klang nervös und wissbegierig zugleich. Dean, der sich
über seinen Koffer gebeugt hatte und einen Pantoffel herauszuklauben
versuchte, wurde merkwürdig still, und Harry wusste, dass er mit
gespitzten Ohren lauschte.
»Was willst du von mir?«, erwiderte Harry. »Warum liest du nicht
einfach den Tagespropheten wie deine Mutter? Da steht alles drin,
was du wissen musst.«
»Hör auf, meine Mutter zu beleidigen«, fauchte Seamus.
»Ich beleidige jeden, der mich einen Lügner nennt«, entgegnete
Harry.
»So redest du nicht mit mir!«
»Ich red mit dir, wie es mir passt«, sagte Harry und seine Wut
kochte so schnell hoch, dass er seinen Zauberstab vom Nachttisch
schnappte. »Wenn du ein Problem damit hast, dass du mit mir in
einem Schlafsaal bist, dann geh und frag McGonagall, ob du
umziehen kannst … dann braucht sich deine Mami keine Sorgen mehr
zu machen …«
»Lass meine Mutter aus dem Spiel, Potter!«
»Was ist hier los?«
Ron stand in der Tür. Er hatte die Augen aufgerissen und sah von
Harry, der auf dem Bett kniete und mit dem Zauberstab auf Seamus
zielte, zu Seamus, der mit erhobenen Fäusten dastand.
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»Er beleidigt meine Mutter!«, rief Seamus.
»Was?«, sagte Ron. »Das würde Harry nie tun – wir haben deine
Mutter kennen gelernt, wir fanden sie ganz nett …«
»Da hat sie noch nicht jedes Wort geglaubt, das dieser stinkende
Tagesprophet über mich schreibt!«, sagte Harry laut.
»Oh«, sagte Ron und allmählich begann es auf seinem
sommersprossigen Gesicht zu dämmern. »Oh … verstehe.«
»Weißt du was?«, erhitzte sic h Seamus und versetzte Harry einen
giftigen Blick. »Er hat Recht, ich will nicht mehr in einem Schlafsaal
mit ihm sein, er ist verrückt.«
»Das ist voll daneben, Seamus«, sagte Ron, dessen Ohren
inzwischen rot glühten – immer ein Zeichen von Gefahr.
»Voll daneben, ja?«, rief Seamus, der im Gegensatz zu Ron bleich
wurde. »Du glaubst den ganzen Käse, den er über Du-weißt-schonwen
erzählt hat, du meinst, er sagt die Wahrheit?«
»Ja, allerdings!«, sagte Ron zornig.
»Dann bist du auch verrückt«, sagte Seamus verächtlich.
»Jaah? Tja, Pech für dich, Mann, dass ich zufällig auch
Vertrauensschüler bin!«, sagte Ron und stupste sich mit dem Finger
auf die Brust. »Also pass auf, was du sagst, außer du willst
Strafarbeiten verpasst kriegen!«
Seamus schaute ein paar Sekunden lang drein, als wären
Strafarbeiten ein annehmbarer Preis dafür, sagen zu können, was ihm
durch den Kopf ging; aber dann drehte er sich mit einem verächtlichen
Schnauben auf dem Absatz um, hechtete ins Bett und zog die
Vorhänge mit solcher Wut zu, dass sie abrissen und zu einem
staubenden Haufen auf den Boden niedersanken. Ron blickte Seamus
böse an, dann wandte er sich Dean und Neville zu.
»Hat noch jemand Eltern, die ein Problem mit Harry haben?«,
sagte er angriffslustig.
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»Meine Eltern sind Muggel, Alter«, sagte Dean achselzuckend.
»Die wissen gar nichts von irgendwelchen Toten in Hogwarts, weil
ich nicht so blöd bin und es ihnen auch noch erzähle.«
»Du kennst meine Mutter nicht, die quetscht alles aus jedem
raus!«, fauchte ihn Seamus an. »Außerdem krie gen deine Eltern nicht
den Tagespropheten. Die wissen gar nicht, dass unser Schulleiter aus
dem Zaubergamot und aus der Internationalen Zauberervereinigung
rausgeschmissen wurde, weil er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat
…«
»Meine Omi sagt, das ist Kokolores«, meldete sich Neville zu
Wort. »Sie sagt, es ist der Tagesprophet, der den Bach runtergeht, und
nicht Dumbledore. Sie hat ihr Abo gekündigt. Wir glauben Harry«,
sagte er schlicht. Er stieg ins Bett, zog die Decke hoch bis ans Kinn
und äugte wie eine Eule zu Seamus hinüber. »Meine Omi hat immer
gesagt, Du-weißt-schon-wer wird eines Tages zurückkommen. Sie
glaubt, wenn Dumbledore sagt, er ist zurück, dann ist er auch zurück.«
Harry spürte einen jähen Anflug von Dankbarkeit gegenüber
Neville. Niemand sonst sagte ein Wort. Seamus holte seinen
Zauberstab hervor, reparierte die Bettvorhänge und verschwand hinter
ihnen. Dean legte sich ins Bett, drehte sich um und schwieg. Neville,
der offenbar auch nichts weiter zu sagen hatte, betrachtete zärtlich
seinen mondbeschienenen Kaktus.
Harry lehnte sich in seine Kissen zurück, während Ron am
Nachbarbett damit beschäftigt war, seine Sachen zu verstauen. Der
Streit mit Seamus, den er immer sehr gemocht hatte, hatte Harry
erschüttert. Wie viele Leute würden ihm noch unterstellen, er würde
lügen oder sei durchgeknallt?
Hatte auch Dumbledore den ganzen Sommer über so gelitten, als
ihn erst der Zaubergamot, dann die Internationale
Zauberervereinigung aus ihren Reihen verstoßen hatten? War es
vielleicht Zorn auf Harry, der Dumbledore seit Monaten davon
abhielt, mit ihm Kontakt aufzunehmen? Schließlich waren sie beide in
diese Sache verstrickt; Dumbledore hatte Harry geglaubt, der ganzen
Schule seine Version der Ereignisse mitgeteilt und dann der gesamten
Zaubererschaft. Jeder, der Harry für einen Lügner hielt, musste auch
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Dumbledore für einen Lügner halten oder aber glauben, dass man
Dumbledore hinters Licht geführt hatte …
Eines Tages werden sie wissen, dass wir Recht hatten, dachte
Harry niedergeschlagen, als Ron ins Bett stieg und die letzte Kerze im
Schlafsaal löschte. Doch er fragte sich, wie viele Angriffe ähnlich dem
von Seamus er noch aushalten musste, bevor dieser Tag kam.
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