Für: SweetRaspberryxXx
Weil die ganze Welt auf diesen Minho x Enhyuk Oneshot wartet und du die ganze Welt bist (?). Spaß beiseite: du hast mir in den letzten paar Monaten mit deiner positiven Art oft ein Lächeln ins Gesicht gezaubert und bist der perfekte staytiny-partner in crime, der all meine SKZ und ATEEZ Memes dankend entgegen nimmt. Vielen Dank dafür und alles Gute zum Geburtstag.
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Ebenfalls ganz viel Liebe für MaybeAnotherWraith fürs Betalesen. Dein Einsatz ist INSANE und ich bin dir (hab ichs schon erwähnt?) unglaublich dankbar.
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Content Warnung: Alkohol Missbrauch & Gewalt
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o n e s h o t
HAPPY BIRTHDAY
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Hyukjaes Brustkorb prallt auf die Motorhaube. Grob wird er nach unten gedrückt, während seine Beine nachgeben und sein Atem stockt. Alles um ihn herum dreht sich im Blaulicht, während der Offizier, der ihm Handschellen anlegt, etwas zu seiner Kollegin hinüber brüllt. Hyukjae bekommt kein Wort davon mit. Er ist von Kopf bis Fuß klatschnass, in etwa so zurechnungsfähig wie eine Heuschrecke auf Ayahuasca und muss seine gesamte Konzentration aufwenden, um nicht auf die Motorhaube des Polizeiwagens zu kotzen.
Fuck. Keine Pointe, kein Garnichts. Einfach nur Fuck.
So hat er sich seinen 36. Geburtstag nicht vorgestellt. So hat er sich überhaupt keinen Tag seines Lebens vorgestellt. Wo zum Teufel ist er bloß falsch abgebogen, um hier zu landen?
Die Handschellen klicken zu und ein bisschen Magensäure schleicht sich Hyukjaes Speiseröhre hoch. Irgendwo tief in seinem Gehirn stirbt sein letztes bisschen Stolz, gemeinsam mit der Hoffnung, je in der Lage zu sein seiner Schwester das Wasser zu reichen.
Er ist ein Versager und er kann niemandem die Schuld dafür geben außer sich selbst.
───── 4.5 Stunden vor der Verhaftung
„Das ist nicht Ihr Ernst?", sagt Hyukjae empört zu dem Türsteher. Der Mann ist knapp 1.90 groß, hat Oberarme dicker als Hyukjaes Beine und zuckt nicht mit der Wimper.
Er starrt gelangweilt zu Hyukjae herunter und wiederholt ungerührt: „Doch, es ist mein Ernst. Sie sind zu alt für den Club." Er nickt Richtung Eintrittsschild, auf dem in Großbuchstaben Golden Beach Club steht. Darunter Hiphop Night. Und nochmals darunter 20 bis 35 Jahre. „Zutritt bis und mit 35 Jahre", sagt der Muskelprotz. „Sie sind 36."
„Seit heute!", jammert Hyukjae aufgebracht. Seit über zehn Jahren geht er regelmäßig in den Golden Beach Club – er kennt sogar einige der Barkeeper beim Namen – es kann doch nicht sein, dass sie ihn jetzt nicht mehr reinlassen.
„Ich mache nicht die Regeln. Und jetzt tun Sie mir den Gefallen und treten Sie zur Seite." Kaum hat der Türsteher das letzte Wort ausgesprochen, packt er Hyukjae am Oberarm und schiebt ihn vom Eingang weg, als wäre er ein Pappkarton-Aussteller. Ein äußerst nutzloser, vergilbter Pappkarton-Aussteller.
Was ist nur los mit Hyukjae? In letzter Zeit will ihm nichts gelingen. Wobei „in letzter Zeit" untertrieben ist. „Immer" wäre passender, denn er bekommt nie irgendetwas auf die Reihe. Während all seine Schulfreunde Jobs und Partner gefunden haben, Häuser kaufen und Kinder bekommen, treibt er sich in Clubs rum, für die er mittlerweile buchstäblich zu alt ist. Es ist erbärmlich. Er ist erbärmlich.
„Ausweis bitte", sagt der Türsteher zur nächsten Person in der Schlange. Es ist ein junger Mann, der bei den Worten das Gesicht verzieht.
„Schon klar", sagt er schnippisch, „ich sehe in diesem Outfit betörend jung aus, aber ich bin bereits 24, Sie müssen meinen Ausweis also nicht kontrollieren."
Hyukjae schnaubt. Diese Worte sind dermaßen bescheuert, dass sie nur von einem Minderjährigen stammen können. Einem Minderjährigen, dessen Outfit absolut lächerlich aussieht. Der junge Mann hat braunes Haar, perfekt glatte Haut und trägt eine goldene Bluse mit einer engen, schwarzen Jeans. Eine goldene Bluse! Es sieht bizarr overdressed und zugleich nicht schick genug aus. Vor allem wirkt es aber kindisch, weil es kaum warm genug ist, um nachts ohne Jacke unterwegs zu sein. Das ist fast noch erbärmlicher als Hyukjaes Situation, zumal Hyukjae zumindest gut gekleidet ist.
„Ausweis", wiederholt der Türsteher schroff.
„Nerven Sie nicht", sagt der Goldjunge. „Ich schwöre beim Leben meiner Großmutter, dass ich 24 bin." Der Türsteher hebt eine überraschend bedrohliche Augenbraue, worauf der Goldjunge rasch hinzufügt: „Okay okay, sie ist bereits mause-fucking-tot, aber ich schwöre beim Leben meines Großvaters und dem ist es verdammt wichtig, dass man immer aufrichtig ist – und so'n Kram."
„Ohne Ausweis kein Eintritt", wiederholt der Türsteher und will den Goldjungen genau wie Hyukjae zuvor zur Seite schieben, aber anders als Hyukjae lässt der Goldjunge das nicht einfach so mit sich machen.
„Jetzt tun Sie mal nicht so", entgegnet er aggressiv. „Muss ich meinen Vater auf Sie loslassen? Wie ist Ihr Name? Ein Anruf und Sie sind..."
„Der Näch..."
Komplett aus dem Nichts scheuert der Goldjunge dem Türsteher seine rechte Faust entgegen. Sie prallt dumpf gegen dessen Nase. Der Goldjunge flucht laut und hält sich die Knöchel, während der Türsteher nach einem kurzen Schockmoment vortritt und ihn am Kragen packt.
„Fassen Sie mich nicht an!", japst der Goldjunge. „Das dürfen Sie nicht. Das ist... das ist illegal. Hey du!" Hyukjae registriert verzögert, dass die letzten Worte an ihn gerichtet sind. Sobald er dem Goldjungen in die Augen sieht, sagt dieser: „Hilf mir! Der kann das nicht mit mir machen. Bring ihn dazu mich loszulassen."
Hyukjae steht wie angewurzelt da. Er ist sich nicht sicher, ob das gerade wirklich passiert oder ob es sich doch nur um einen seiner vielen Alpträume handelt, in denen alles in seinem Leben schief läuft und er nichts tun kann, als zusehen und innerlich sterben. Diese Träume hat er in letzter Zeit vermehrt. Oft rennt er dabei allein durch den Wald. Es ist dunkel und kalt und nass und er kommt einfach nicht voran. Etwas verfolgt ihn, aber er kann es nicht sehen. Er kann es bloß spüren und hören; wie es alles hinter ihm niedertrampelt und langsam aufholt. Es flüstert, so leise, dass nur er selbst es hören kann: „Du hast versagt, Hyukjae. Schau dich an. Dein ganzes Leben ist ein Witz", bevor er schweißgebadet aufwacht und sich fragt, ob er nicht doch hätte zur Uni gehen und seine Oberstufenfreundin hätte heiraten sollen.
„Bitte", fleht der Goldjunge im Jetzt, während ihm der Türsteher die Arme so auf den Rücken verdreht, sodass er außer Gefecht gesetzt ist. Er sieht Hyukjae panisch an und vielleicht liegt es daran, dass es niemanden in Hyukjaes Leben gibt, der ihn mit so viel Aufrichtigkeit um etwas bittet – geschweige denn ihn braucht – oder vielleicht auch daran, dass er selbst wütend ist und Lust auf Streit hat. Aber letzten Endes ist es egal, aus welchem Grund er es tut. Er tritt vor, holt aus und scheuert dem Türsteher eine Backpfeife. Der ist davon so schockiert, dass er seinen Griff um den Goldjungen kurz lockert und dieser sich lösen kann.
Hyukjaes Hand brennt wie Feuer. Verdammt. Was hat er getan?
Aus dem Augenwinkel erkennt er, wie sich der Türsteher ihm zuwendet, doch bevor er Hyukjae packen kann, greift der Goldjunge nach seinem Handgelenk und zieht ihn mit sich.
„Einen schönen Abend noch, Arschloch", ruft der Goldjunge Richtung Club-Eingang, während er Hyukjae im Schlepptau die Straße hinunter rennt. Hyukjaes Handfläche brennt dabei nach wie vor, allerdings kann er sich kaum darauf konzentrieren. Alles was er spürt, ist das Kribbeln von Adrenalin, das ihm durch die Adern schießt und ihn, trotz Unsportlichkeit, mit dem Goldjungen mithalten lässt.
Sie rennen eine ganze Weile durch die belebten Straßen der Samstagnacht. Die Leute werfen ihnen merkwürdige Blicke zu und ein alter Mann, welcher Hyukjae aus Versehen anrempelt, flucht ihnen hinterher. Erst als sie auf ihrer Flucht mehr als drei Blocks hinter sich gelassen haben und mehrfach abgebogen sind, gibt sich der Goldjunge zufrieden und verlangsamt seine Schritte. Trotz der Anstrengung atmet er ruhig und gleichmäßig. Eine leichte Schicht Schweiß glänzt auf seinen Wangenknochen – oder ist es doch Highlighter? – und seine Haare sind vom Wind zerzaust, aber dennoch wirkt er gefasst. Es ist faszinierend. Gerade weil Hyukjae selbst nur so nach Sauerstoff lechzt und das Gefühl hat, sich irgendetwas gezerrt zu haben. 36 zu werden wird mit jeder Minute schlimmer. Er setzt sich auf den Bordstein und fährt sich durch die zerzausten Haare, die er extra für den Club gestylt hat. In den er heute nicht mehr hineingelangen wird. Aber das ist jetzt ja auch egal.
„Verdammt", murmelt der Goldjunge belustigt. Er sieht zurück Richtung Golden Beach Club und hat so etwas wie ein nostalgisches Lächeln im Gesicht. Warum auch immer man nostalgisch gegenüber einer Schlägerei sein sollte.
„Warte hier, ja?", fügt er kurz darauf hinzu und verschwindet dann, noch bevor Hyukjae antworten kann, in dem kleinen Cornerstore auf der anderen Straßenseite. Hyukjae wischt sich schwer atmend den Schweiß von der Stirn und überlegt, wie er seinen Geburtstag alternativ feiern soll. Schon die ganze Woche hat er sich darauf gefreut, endlich seine Schwester und ihr perfektes kleines Familienglück im Suff zu ertränken. Beziehungsweise endlich einen guten Grund dafür zu haben. Denn seit sie schwanger ist, reden alle nur noch über ihren ach so tollen Mann und ihr perfektes gemeinsames Häuschen am Stadtrand. Dass sie froh sind, dass endlich Nachwuchs gezeugt worden ist und der Familienname weitergetragen wird. Er selbst wird dann bloß im Nebensatz erwähnt – ach Hyukjae, du bist mittlerweile ja auch schon 36. Aber eine Freundin hast du nicht, oder? Und du arbeitest immer noch in Kleintierhandlung beim Bahnhof, ja? Willst du nicht endlich etwas Ernsthaftes verfolgen? Ach, auch egal. Eunmi, weißt du eigentlich schon, welches Geschlecht unser Enkelkind haben wird?
Alles für'n Arsch. Gibt es hier in der Nähe eine Bar? Hyukjae präferiert Clubs – weil er verdammt gerne tanzt und den Körper einer beliebigen Tusse oder eines ebenso beliebeigen Mackers an seinem spürt –, aber in einer Bar könnte er wenigstens sein Alkoholproblem beheben. Er ist zu nüchtern und zu schlecht gelaunt für eine Geburtstagsfeier.
Gerade als er sein Handy aus der Hosentasche fischen will, um nach Bars zu googeln, treten schwarze Lederschuhe in sein Sichtfeld. Hyukjae zuckt zusammen und sieht auf. „Oh", keucht er hervor. Der Goldjunge ist wieder da und steht grinsend vor ihm. Er hat eine Plastiktüte mit dem Logo des Cornerstores der anderen Straßenseite in der Hand und reicht Hyukjae eine Flasche Soju.
„Als Dankeschön", erklärt er und setzt sich neben Hyukjae auf den Bordstein, nachdem dieser die Flasche entgegengenommen hat.
Nun, so ist Hyukjaes Alkoholproblem auch gelöst. Er steckt das Handy wieder weg und murmelt: „Gern geschehen", bevor er die Flasche aufdreht und hinzufügt: „Ich schlage gerne Idioten für gratis Alkohol."
Der Goldjunge schmunzelt und zieht eine zweite Sojuflasche sowie eine Reihe Mozzarella-Sticks aus der Plastiktüte. Sie klinken ihre Flaschen gegeneinander und nehmen einen Schluck. Es sollte sich erbärmlich anfühlen, auf dem Bordstein sitzend Soju direkt aus der Flasche zu trinken, aber da Hyukjae sich regelmäßig allein zuhause Vodka gönnt (weil es mehr Volumenprozent hat), kommt ihm das hier fast wie eine Zelebration vor.
„Willst du auch einen?", fragt der Goldjunge nach einem Moment der Stille. Er streckt Hyukjae einen der Mozzarella-Sticks entgegen und eigentlich verträgt Hyukjae Laktose nicht gut, aber ganz ehrlich? Scheiß drauf.
„Gerne."
„Sehe ich wirklich so jung aus?", fragt der Goldjunge kurz darauf, während Hyukjae das Plastik um den Mozzarella-Stick löst.
Hyukjae zuckt mit den Schultern. Der Junge ist verdammt hübsch. In seinen Augen liegt ein jugendlicher Glanz und er ist muskulös gebaut. Die goldene Bluse ist nach wie vor lächerlich, aber seine Lider sind dezent in einer passenden Farbe geschminkt – und vielleicht wirkt es doch nicht komplett bescheuert. Hätte Hyukjae den Goldjungen kurz vor fünf Uhr morgens besoffen im Club getroffen, statt um elf nüchtern davor, hätte er wahrscheinlich versucht ihn rumzukriegen.
„Keine Ahnung, Mann", antwortet Hyukjae schließlich.
Der Goldjunge seufzt. „Ich bin 24", beteuert er. „Ich hab' nur dummerweise ausgerechnet heute meinen Ausweis vergessen."
Hyukjae beißt ein Stück Mozzarella ab und nickt verstehend. „Mein Beileid." Unangenehme Stille tritt ein. Hyukjae isst den Mozzarella fertig und leert den Großteil seiner Sojuflasche. Seine Fingerspitzen beginnen sanft zu kribbeln und sein Gemüt wird leichter. Vielleicht kann er seine Freunde aus dem Tanzverein anrufen. Beziehungsweise, dem ehemaligen Tanzverein. Mittlerweile treffen sie sich nur noch zum Rotwein degustieren und Möbel einkaufen, bevor sie pünktlich um sechs Uhr nachhause eilen, um mit ihren Frauen und Kindern Abend zu essen. Wahrscheinlich veranstalten sie gerade Familien-Scharade-Abende und haben keine Zeit für ihn. Wieso sollten sie auch? Hyukjae ist so wertvoll wie ein Tiefkühler am Nordpol. Das ist es! Er könnte zum Nordpol auswandern. Er mag zwar keine Kälte und auch keine Einsamkeit, aber dann würde er zumindest etwas gescheites mit seinem Leben anstellen.
„Warst du schon mal auf einer Betriebsfeier?", fragt der Goldjunge plötzlich.
Hyukjae runzelt die Stirn. „Einer Betriebsfeier?", fragt er. Die Kleintierhandlung, in der er arbeitet, hält jährlich ein Weihnachtsessen zwischen den Aquarien im Untergeschoß des Ladens ab. Und vor zwei Jahren haben sie die Eröffnung eines weiteren Standorts in der Innenstadt gefeiert. Aber was zum Teufel haben Betriebsfeiern gerade mit irgendetwas zu tun?
„Mh-mh", bestätigt der Goldjunge. „Du weißt schon, solche fürchterlich aufgesetzten Veranstaltungen, auf denen es gratis Weißwein und belegte Brötchen gibt."
In Hyukjaes Kleintierhandlung hat es noch nie gratis Weißwein und belegte Brötchen gegeben.
„Lust eine zu stürmen?"
„Zu stürmen?", wiederholt Hyukjae wie ein Papagei.
Der Goldjunge nimmt einen großen Schluck Soju und nickt. „Dieses Arschloch von Türsteher hat mir die Lust auf Clubs für heute Nacht ruiniert. Aber ich weigere mich deswegen einen scheiß Abend zu haben."
„Und eine Betriebsfeier zu stürmen, wäre nicht scheiße?"
Der Goldjunge lacht schnaubend. „Natürlich nicht." Er leert den Rest seiner Flasche in einem Zug und steht auf. „Na komm. Ist nicht weit von hier und bis wir da sind, sollten die Angestellten betrunken genug sein, um zwei blinde Passagiere nicht zu bemerken."
Hyukjae sieht dem Goldjungen irritiert hinterher. Es ist nicht so, als wäre er selbst ein besonders vernünftiger Mensch, der solche Einfälle ablehnt, aber dieser scheint ihm dennoch ein wenig... skurril?
„Was ist?", fragt der Goldjunge und dreht sich ein paar Meter entfernt nochmals zu Hyukjae um.
„Ich weiß noch nicht mal, wie du heißt", argumentiert er schwach.
Der Goldjunge lacht – und sieht dabei im gelben Licht der Straßenlaterne so aus, als wäre es nicht seine Bluse, sondern sein ganzes Wesen, das golden leuchtet. „Minho", sagt er. „Und jetzt komm, Hyung, sonst sind die belegten Brötchen weg, bis wir ankommen."
„Hyukjae", korrigiert Hyukjae Minho und erhebt sich – zu seiner eigenen Überraschung – ohne weiteren Widerstand vom Bordstein. „Und ich reserviere sämtliche Lachsbrötchen für meinen Eigenverzehr."
Minho verdreht die Augen. „Ist klar."
„Mh-mh."
In Wahrheit ist es Hyukjae scheiß egal ob und wie viele Lachsbrötchen er essen wird, aber Minhos schnippisches Verhalten und sein unterdrücktes Grinsen sind es wert, mit seinem Blödsinn mitzuziehen.
───── 3.5 Stunden vor der Verhaftung
Die Betriebsfeier, zu der Minho sie führt, ist in allen Belangen so betriebsfeierlich wie eine Betriebsfeier nur sein kann. Am Eingang hängen ein paar trostlose, goldene Ballons mit dem Logo der Firma – ein Luxus-Vertreiber von kitschigen Leuchten und anderweitigen Dekorstücken. Daneben steht direkt der erste Empfangstisch mit Weißweingläsern. Auf den Gläsern ist ebenfalls das Logo der Firma aufgedruckt – und wer möchte, darf sich auch gleich noch einen Kugelschreiber (ja, mit Logo) dazu nehmen.
Das Gebäude selbst ist potthässlich. Die Wände im Eingangsbereich sind weiß verputzt – allerdings schon dermaßen vergilbt, dass sie im Kontrast zum weißen Kunststeinboden gelb wirken. An den Fensterscheiben kleben goldene Fenster-Sticker und an den Wänden hängen Bilder von alten, fetten Männern, die die Firma wohl vor x Jahren gegründet haben. Eine Treppe mit klobigem Stahlgeländer führt ins Unter- und Obergeschoss, aber den Geräuschen nach zu urteilen befindet sich die Gesellschaft hier im Erdgeschoss.
Minho und Hyukjae greifen sich je ein Glas, prosten sich zu und leeren es in einem Zug. Hyukjae verträgt viel Alkohol, weswegen er, trotz des Sojus zuvor, bislang nur milde Auswirkungen spürt.
„Lass uns ein Spiel spielen", schlägt Minho vor, während er sein leeres Glas zurück auf den Empfangstisch stellt. „Jedes Mal wenn jemand fragt, in welcher Beziehung wir zum Unternehmen stehen, erfinden wir abwechselnd eine Lügengeschichte und der, dem zuerst nichts mehr einfällt, muss den anderen auf ein morgendliches Ramen-Date bei einem Cornerstore einladen."
„Ramen vom Cornerstore? Hast du Angst zu verlieren?"
„Nö. Ich würde mich bloß schlecht fühlen, wenn ich dich zwingen würde, mich in ein Sternerestaurant einzuladen."
Hyukjae lacht spottend. Sicher, das könnte er sich nicht leisten – aber was wagt es Minho, so dreist davon auszugehen, dass Hyukjae verlieren wird? Immerhin ist er das Problemkind der Familie. Er musste sich schon so oft aus der Scheiße rausreden, dass so ein bisschen Lügen kaum ein Problem sein wird.
„Die Wette gilt", sagt er und streckt Minho seine Hand entgegen. Dieser schlägt sofort ein.
„Du wirst zu Grunde gehen."
„Träum weiter."
Minho grinst und Hyukjae tut es ihm gleich. Sein Missmut von zuvor ist gänzlich verflogen und sein inneres Kind blüht langsam auf.
Sie greifen sich je ein weiteres Glas Weißwein und folgen dann dem lallenden Stimmen und der eintönigen Trotmusik in einen großen, offenen Raum. Überall stehen Frauen und – etwa doppelt so viel – Männer mittleren Alters in Anzügen und Kleidern, die edel wirken, aber nicht perfekt passen. Entweder sind die Schulterpads zu weit, die Hosenbeine zu lang oder die Säume ausgeleiert. Dabei redet jeder von ihnen theatralisch oder lacht bizarr laut über Witze, die (höchstwahrscheinlich) nicht lustig sind. Der Alkohol fließt, es gibt tatsächlich ein großzügiges Brötchen-Buffet auf der anderen Seite des Raumes und ein paar Männer, die aussehen, als hätten sie das letzte Mal vor dreißig Jahren einen Kleiderladen betreten, klimpern live auf einer kleinen Bühne auf ihren Instrumenten herum.
Für einen kurzen Moment ist Hyukjae froh, nie in das Corporate-Business eingetreten zu sein. Hundefutter zu verkaufen ist zwar keine Traumberufung, aber auf jeden Fall besser als alles, was hier gerade vor sich geht.
Es dauert nicht lange, bis sie von einer Frau in ihren 50ern ins Visier genommen und angesprochen werden. Ihr Blick gleitet alles andere als subtil an ihren Körpern hinab und bleibt schließlich an Hyukjae hängen. „Sie habe ich heute noch gar nicht gesprochen", stellt sie gekünstelt überrascht fest, bevor sie auf die beiden zutritt und ungefragt ihr Glas gegen Hyukjaes und Minhos klinken lässt.
„Es sind viele Leute anwesend", erklärt Hyukjae halbherzig. Er tauscht einen raschen Blick mit Minho aus, der dezent eine Augenbraue hebt und ihm zunickt. Was so viel heißt wie: du fängst an, viel Spaß. Hyukjae dreht sich zurück zu der Dame, zögert einen Moment, beschließt sämtliche Vernunft aus dem Fenster zu werfen und hakt sich dann aufdringlich bei der Frau ein.
„Huch", sagt sie und wird (berechenbarer weise) rot.
„Wollen Sie ein Geheimnis wissen?"
„Ein Geheimnis?", fragt die Frau.
„Ja."
Die Frau nickt und sieht ihn mit großen Augen an. Sie ist fürchterlich geschminkt, mit unsauber aufgetragenem Eyeliner und fleckigem Rouge, aber Hyukjae sieht darüber hinweg.
„Wir sind von der Konkurrenz."
Minho schnaubt leise und die Augen der Frau werden noch größer. Hyukjae lehnt sich zu ihr runter und flüstert ihr ins Ohr: „Aber erzählen Sie es keinem, sonst dürfen wir keine Lachsbrötchen essen."
„Was haben die Lachsbrötchen damit zu tun?", flüster-schreit die Frau.
Hyukjae haucht ihr einen zarten Kuss auf die Wange und sagt: „Alles, meine Liebe, alles. Wir wollen auf unserer eigenen Betriebsfeier nämlich die besten Lachsbrötchen im ganzen Land anbieten. Wenn sie mich also entschuldigen." Er löst sich von ihr, weist Minho ihm zu folgen und strebt unverblümt zum Brötchen-Buffet. Er nimmt sich ein drittes Glas Weißwein, eine Serviette und – endlich! – ein Lachsbrötchen.
Minho tut es ihm nach. „Niemals hat die dir geglaubt", bemerkt er, aber Hyukjae zuckt nur mit den Schultern.
„Scheiß egal. Die Aufgabe war zu lügen, nicht zu überzeugen."
„Du hältst dich für clever."
„Ich bin clever."
Minho lacht und will erneut erwidern, als sich ein besonders dicker Mann zwischen sie quetscht, um nach einem Zwiebelbrötchen zu greifen.
„Ihr steht im Weg", sagt er und beäugt angewidert Minhos goldene Bluse. Hyukjae selbst trägt ein schwarzes, unauffälliges Hemd und bleibt verschont.
„Das ist unser Job", erwidert Minho ohne zu zögern.
Der Mann wirft ihm einen tödlichen Blick zu. „Im Weg zu stehen?", blafft er.
Minho nickt. „Wir sind Praktikanten, wissen Sie. Außer Kaffee servieren und dumm rumstehen tun wir nicht viel."
„Drecksgesindel", ist das Einzige, was dem Mann dazu einfällt. Minho lächelt höflich. Und zwar so höflich, dass es nur falsch sein kann. Hyukjae ist überrascht, wie gut Minho darin ist Fassaden aufzusetzen. Es wirkt, als würde mit Menschen spielen ein Hobby für ihn sein und das Lügen ein Mittel zum Zweck.
Hyukjae schüttelt den Gedanken ab und kommentiert das Verhalten des Mannes mit: „Charmant." Minho zuckt zur Antwort nur mit den Schultern. Er sieht Hyukjae an, ein (echtes) Grinsen im Gesicht, kombiniert mit einem undefinierbaren Glänzen in den Augen. Es ist verspielt und selbstbestimmt und Hyukjae wird das Gefühl nicht los, dass er vielleicht doch verlieren wird. Aufgeben wird er trotzdem nicht. Allerdings ist das auch nicht nötig – denn im Endeffekt vermasseln sie es beide.
Sie spielen insgesamt acht Runden. Nach den ersten beiden Begegnungen haben sie erstmal ihre Ruhe. Sie trinken ein paar Gläser und schlagen ordentlich beim Buffet zu, bevor sie auf der Tanzfläche von einer beeindruckt wirkenden Frau in weißem Anzug angesprochen werden. Sie fragt, in welcher Abteilung sie arbeiten und Hyukjae säuselt ihr ausschweifend vor, wie sie die Tochter des Chefs um den Finger gewickelt haben und nun dabei sind, eine Organisation zu gründen, die sich für polyamouröse Hochzeiten einsetzt. Kurz darauf erklärt Minho zwei Männern in zu engen Anzügen, dass sie für das Unternehmen putzen und sich illegaler Weise hierher geschlichen haben, weil sie so gerne Trot tanzen. Die Männer entschuldigen sich sofort und ergreifen die Flucht, bevor Hyukjae einem über 90-jährigen Mann mit Hörproblemen einen Witz erzählt (Geht ein Cowboy zum Friseur, ist sein Pony weg, haha), weil sie die besten Komiker im Land sind. Der Mann scheint kein Wort zu verstehen, aber Minho lacht ganze fünf Minuten ununterbrochen, während sich Hyukjae selbst an einer Wand abstützen muss, um vor Lachen nicht umzukippen.
Danach erklären sie (also – eigentlich Minho, aber Hyukjae lässt sich dazu verleiten mitzuerzählen) einem irritierten Pärchen, das nicht danach gefragt hat, dass sie Diebe auf der Flucht vor der Polizei sind. Sie hätten Minhos goldene Bluse gestohlen (Sie ist nämlich aus echtem Gold!) und werden in 321 Staaten (ja, natürlich gibt es so viele?) gesucht.
Ein Glas Weißwein später sitzt Hyukjae Schulter an Schulter neben einem verwirrten Jungspund und erklärt ihm an Minhos Beispiel, der direkt vor ihnen sinnlich seine Hüften kreist, dass sie gebuchte Stripper für die After-Show-Party sind. Dass auf einer Betriebsfeier um 2:00 Uhr früh keine After-Show-Party mehr zu erwarten ist, wird dabei großzügig ausgelassen. Aber das ist eh scheiß egal, denn es ist verdammt witzig! Hyukjae hat schon lange nicht mehr so viel gelacht. Ungeniert greift er nach Minhos kreisenden Hüften und zieht ihn weiter zum Buffet. Er lässt ihn dort nicht los, sondern presst sich eng an ihn, während er sich ein weiteres Lachsbrötchen greift – die sind verdammt nochmal gut – und es genüsslich stöhnend in sich reinstopft.
„Was soll das?" fragt dabei eine empörte Frauenstimme in exakt dem Moment, in dem die Band kurz zu spielen aussetzt. Sofort richten sich unzählige Blicke auf Hyukjae und Minho, die eng umschlungen am Buffet stehen und – zumindest was Huykjae angeht – nicht mehr gerade denken können. „Dass hier ist eine Betriebsfeier und kein Pornodreh."
Die Band, die die Anschuldigung ebenfalls mitbekommen hat, unterlässt es weiterzuspielen, weswegen jeder im Raum hören kann, was zwischen ihnen gesprochen wird.
„Zu viele Kleider", murmelt Minho.
„Wie bitte?"
„Wir tragen zu viele Kleider", er gluckst einmal, „für einen Pornodreh."
Die Frau schnauft entrüstet auf, während jemand im Hintergrund flüstert: „Sind das nicht die Praktikanten?" Kurz darauf sagt eine andere Stimme: „Nee, das sind die Putzmänner."
„Also eigentlich", sagt Minho und dreht sich schwungvoll um seine eigene Achse, sodass er Hyukjae ins Gesicht sehen kann. Er rempelt dabei den Buffet-Tisch an und bringt ein paar (Gott sei Dank) leere Weißweingläser zum Sturz. Er packt Hyukjae an den Oberarmen, um sich zu stabilisieren. Zur Orientierung blinzelt er ein paar Mal bevor er hinzufügt: „Sind wir ein Paar."
Ein Raunen geht durch die Gesellschaft. Wieder beharrt jemand darauf, dass sie doch Praktikanten seien und was ihnen einfällt, während jemand anderes einwirft: „Nein, ihr liegt falsch. Das sind die Männer der Tochter des Chefs – ich bin mir sicher. Sie haben es mir erzählt."
„Baby", fährt Minho laut fort und drückt Hyukjae vom Buffet weg, um zentraler im Raum zu stehen. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Du", er gluckst einmal, „lässt die Sonne heller strahlen und... und billigen Weißwein teuer schmecken."
„Wer zum Teufel sind die beiden?"
„Keine Ahnung – ruft mal jemand die Security?"
Hyukjae hingegen ist es warm ums Herz. Er hat einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr zu 100% einordnen kann, wie viel von Minhos Gesagtem Humbug und wie viel Wahrheit ist. Also ist er so frei und tut, als entspräche alles der Wahrheit. Als würde ihn tatsächlich jemand lieben und schätzen. So sehr, dass die Sonne heller strahlt. Seine Schwester kann Kinder bekommen und das Familienerbe übernehmen – aber kann sie auch billigen Weißwein kultiviert werden lassen? Hyukjae bezweifelt es.
„Wir kennen uns schon so lange", fährt Minho fort. „Und ich glaube nicht, dass es eine Welt gibt, in der ich ohne dich leben könnte." In einer geschmeidigen Bewegung zieht Minho einen seiner Goldringe vom Finger, bevor er sich vor Hyukjae auf die Knie senkt und ihn aus großen Augen von unten ansieht.
„Baby", haucht Hyukjae, der seine Gerührtheit nicht spielen muss. Er hat noch nie im Leben eine Beziehung geführt, die länger als zwei Monate gehalten hat, geschweige denn Gedanken an Heirat verschwendet. Das bedeutet allerdings nicht, dass es sich nicht bezaubernd anfühlt, hier zu stehen, vor all den Menschen, und gesagt zu bekommen, dass man der einzige für jemanden ist. Ein Kribbeln breitet sich in Hyukjae aus – und es könnte am Alkohol liegen, aber scheiß drauf, Hyukjae wird einfach so tun, als läge es einzig und allein an Minho. Seinem Minho. Der Mann, den er schon seit Jahren dated und der die Sonne heller strahlen lässt.
„Willst du mich heiraten?"
„Ja!", ruft Hyukjae enthusiastisch aus und greift nach Minhos Händen, um ihn zu sich zu ziehen. „Ja, ich will."
Eine Mischung aus höflichem Klatschen und verwirrtem Gemurmel geht durch den Raum. „Hä, aber das sind doch die Putzmänner?", wiederholt jemand zu x-ten Mal. Eine entrüstete Frauenstimme entgegnet: „Auch Putzmänner können heiraten, du Schwachkopf!", während jemand anders sagt: „Wo zum Fick ist die Security? Das sind doch verflixte Hochstapler."
„Ich liebe dich so sehr", sagt Hyukjae. Ironischerweise ist es das erste Mal in seinem Leben, dass er diese Worte sagt und sie zumindest im weitesten Sinne ernst meint.
„Ich dich auch, Baby", entgegnet Minho und streift seinen Ring über Hyukjaes kleinen Finger, da er für den Ringfinger zu eng ist. „Bis in alle Ewigkeit", flüstert er, sodass es nur Hyukjae mitbekommt. Er sieht ihn an und Hyukjae ist so sehr in seiner Fantasie gefangen, dass er nur noch Minhos strahlendes Gesicht wahrnimmt. Mit zittrigen Händen greift er nach dessen Nacken, um ihn zu sich zu ziehen und ihn zu küssen. Immerhin küssen sich Pärchen doch, oder? Vor allem wenn sie frisch verlobt sind! Aber gerade als er sich vorbeugt, knallt eine Tür auf.
„Da! Da sind die zwei!", brüllt jemand durch den Raum. Hyukjae schreckt zurück und lässt seine Hände von Minho abfallen. Zwei Männer, die nicht so breit wie der Türsteher des Golden Beach Clubs sind, aber dafür um einiges zorniger aussehen, kommen auf sie zugeeilt. Sie tragen schwarz und auf ihrer Brust steht in weiß SECURITY.
„Fuck", murmelt Minho.
Hyukjae ist nicht in der Lage, dem etwas hinzuzufügen. Was sollen sie nun auch tun? Alles bewegt sich wie in Zeitlupe. Hyukjaes Gehirn hat gerade so verarbeitet, dass ihn jemand liebt und stellt jetzt langsam auf Alarmbereitschaft um. Bevor es einen Entschluss fassen kann, packt ihn Minho am Arm und zieht ihn mit sich mit. Sie rennen los und rempeln auf ihrer Flucht mehrere Gäste. Jemand schüttet (aus Versehen?) Weißwein über Hyukjaes Hemd und mehrere Personen werfen ihnen Beleidigungen entgegen, aber Minho schenkt ihnen keine Beachtung und Hyukjae kann sich einzig auf Minho konzentrieren – ansonsten würde er das Gleichgewicht verlieren. Nach einer gefühlten Ewigkeit brechen sie zu einer Tür raus. Es ist nicht die, zu der sie reingekommen sind, aber sie führt ebenfalls raus auf die Straße.
„Keine Luft", japst Hyukjae, aber Minho hört nicht auf ihn. Er zieht sie weiter Richtung U-Bahn-Station, wo sie schnellstmöglich ihre Metro-Karten gegen die Schranken halten, auf das nächstbeste Perron rennen und, ohne nach der Fahrtrichtung zu sehen, in die Bahn steigen, die dort gerade wartet. Die Türen schließen sich, während die groben Gestalten der Security-Männer hinter den Schranken zum Stehen kommen – und Hyukjae kann nicht anders als sich vor Lachen zu krümmen. Er hält sich an Minho fest und kann kaum die Lachtränen unterdrücken. In diesem Moment ist er so glücklich wie noch nie zuvor in seinem Leben. All das Adrenalin von der Flucht, das Dopamin von Minhos Geständnis und das pure Glück in Form von Alkohol prasseln auf ihn nieder und lassen ihn sich unaufhaltbar fühlen.
Heute Nacht kann ihn nichts stoppen. Heute Nacht ist er unantastbar.
───── 0.5 Stunden vor der Verhaftung
Als sie die Endstation erreichen, steigen sie aus mangelnden Alternativen aus und fahren mit der Rolltreppe nach oben. Sie befinden sich in einem Viertel mit pompösen Häusern und parkähnlichen Grundstücken. das Hyukjae noch nie zuvor gesehen oder betreten hat. Die Straßen hier sind komplett leer. Nicht einmal Autos oder Taxis fahren umher. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund, aber sonst ist es still.
„Wo sum Teufel sin' wir?", fragt Hyukjae, aber Minho zuckt nur mit den Schultern. Er steuert den verlassenen Kiosk beim Ausgang der U-Bahn-Station an und kauft eine Flasche Vodka und Mozzarella-Sticks. Er bietet Hyukjae einen an, aber dieser lehnt ab. Also isst Minho die Mozzarella-Sticks allein und spült sie mit Vodka pur runter. Er hält Hyukjae die Flasche hin, welcher innerlich mit den Schultern zuckt, sie entgegennimmt und ebenfalls einen Schluck trinkt. Es schmeckt fürchterlich – aber wer trinkt schon Alkohol, weil er gut schmeckt?
Sie schlendern eine Weile planlos durch die Gegend. Hyukjaes Finger spielen unbewusst mit Minhos Ring, während Hyukjae versucht sich die Umgebung einzuprägen. Dummerweise bewegt sich stets alles ein wenig. Er fühlt sich wie in einem Traum, in dem sein ganzes Leben von dickflüssigem Honig überzogen ist. Alles ist dumpf und langsam und gleitet ihm davon. Hyukjae verschränkt seine Finger mit Minhos, weil Minho das einzige ist, was sich nicht wie ein wirrer Fiebertraum anfühlt.
„Woah", sagt Minho nach fünf Minuten. Oder einer Stunde. Hyukjae ist sich nicht sicher; denn hier sieht alles gleich aus – vornehm und groß und endlos und still –, da kann man sich nicht sicher sein, wie viel Zeit vergangen ist. Vielleicht existiert Zeit in diesem Viertel auch gar nicht. Hyukjae lacht. Stell dir das mal vor? Ein Viertel voller Honig, aber ohne Zeit.
„Lass'ns schwimm'n gehen", nuschelt Minho und löst Hyukjae aus seinen Gedanken.
„Schwimm'n?"
Minho nickt und zeigt auf die Hecke eines der Grundstücke. Hyukjae ist verwirrt, bis er das glitzernde Blau des chlorhaltigen Pools dahinter erkennt, welche von Unterwasserlampen beleuchtet wird.
„Woah", reagiert Hyukjae genau wie Minho zuvor und anstatt zu antworten, zieht er Minho schlicht mit sich mit. Das Tor zum Grundstück reicht ihnen knapp bis zum Bauchnabel, weswegen sie darüber klettern können. Hyukjae stürzt dabei beinahe mit dem Gesicht voran auf den Schotterweg der Einfahrt, aber Minho hält ihn Gott sei Dank fest.
„Bass auf", belehrt er ihn und drückt Hyukjae den Vodka in die Hand. Sie nehmen beide einen Schluck und trampeln dann über die Wiese zum Pool. Er ist nicht besonders groß, aber klar und sauber. Jemand muss ihn regelmäßig reinigen und pflegen, dass er so aussieht.
„Lass'ns n Wettbewe'b mach'n", schlägt Minho vor.
„Okay."
„Der mit der größdn A'schbombe gewinnd."
„Okay." Hyukjae denkt nicht weiter darüber nach. Er stellt die Vodkaflasche an den Beckenrand, holt schwankend Anlauf und springt ab. Dabei schreit er laut: „Bombe", und klatscht ins Wasser. Ihn durchfährt ein Schock. Das Wasser ist nicht kalt, aber erfrischend kühl und überraschend tief. Hyukjae kann schwimmen, aber nicht gut und patscht demnach hilflos im Becken herum, während ihn das Wasser zu verschlingen scheint. Seine Kleidung klebt ihm wie eine zweite Haut am Körper und die Haare hängen ihm nass ins Gesicht.
Neben ihm springt Minho ins Wasser, sodass eine ordentliche Menge davon durch die Luft und den Garten spritzt. Hyukjae lacht, bis er sich am Chlorwasser verschluckt und sich hustend am Beckenrand festhalten muss. Fuck, hier im Wasser bewegt sich alles noch intensiver. Während sich die Landschaft draußen nur leicht unter seinen Füßen verschoben hat, steht hier alles schwepp. Alles scheint zu rasen.
Minho taucht vor ihm auf – er kann definitiv besser als Hyukjae schwimmen – und hält sich an Hyukjaes Taille fest.
„Ich hab' gewonn'", lallt er. Sein Atem stinkt nach Vodka, aber seine Augen funkeln wie Diamanten im Licht des Pools – und Hyukjae ist sich sicher, dass niemand je so schön gewesen ist wie Minho. Hyukjae lacht, weil er nicht anders kann, und legt die Stirn auf Minhos klitschnasse Goldbluse. Sein Körper ist entgegen dem Wasser wohltuend warm und wenn Hyukjae die Augen schließt und sich an Minho festhält, kann er sich vorstellen, dass sie irgendwo über den Wolken schweben.
„'s is' der beste Geburtsdag, den 'ch je hatte", murmelt er gegen Minhos Schulter. Im Grunde genommen ist er genau gleich wie die vergangenen Geburtstage: Hyukjae ist betrunken und hängt mit Fremden ab – und dennoch scheint alles anders. So als hätte Hyukjae Jahre lang ein unvollständiges Puzzle mit sich herumgeschleppt und nun endlich das fehlende Stück gefunden. Es ist kein schönes Puzzlestück. Es ist anders und bunt, obwohl der Rest des Puzzles schwarz-weiß ist, aber es passt perfekt – und das ist alles was zählt.
„Dann hattest du keine seh' schöne Gebu'tsta'e", stellt Minho fest.
Hyukjae summt zustimmend. „'s is' scheiße in dieser Welt zu leb'n, wenn man keine Ambulatio... Ambuston... Ambini..."
„Ambitionen?"
„Ambitionen! 's is' scheiße in dieser Welt zu leb'n, wenn man keine Ambitionen had. Alle denk'n du bis' 'n Nich'snutz."
„Vielleich' sind wir Nichtsnutze."
„Fuck", presst Hyukjae hervor. Das Hoch, das durch den Alkoholrausch entstanden ist, klingt langsam ab und er fühlt sich zunehmend scheiße. Es ist, als würde die Realität der Situation sich auf ihn nieder pressen und ihm die Luft aus den Lungen drücken – aber er will das nicht. Es darf jetzt nicht aufhören. Jetzt ist alles schön. Heute, am perfekten Geburtstag.
Schwermütig löst er sich von Minhos Schulter und sieht ihm in die Augen. So schön, ist alles, was ihm einfällt, wenn er ihn ansieht. Unbewusst streckt er die Finger nach Minhos Wange aus und fährt sanft darüber. Die Berührung fühlt sich dumpf an, als hätte er nicht mehr die Kontrolle über seinen Tastsinn. Alles ist schwer. Er kann sich kaum auf etwas konzentrieren, er weiß nur... er weiß nur, dass er mehr will. Es soll nicht enden.
Er lehnt sich vor, erinnert sich an das Glück, das er während des Hochzeitsantrags verspürt hat, und lässt sich davon leiten. Minhos Lippen treffen seine auf halbem Weg und öffnen sich ungeschickt. Sie sind weich und warm und perfekt und – scheiße – ist es Hyukjae schlecht. Die Welt will gar nicht mehr aufzuhören sich zu drehen und vielleicht fühlt sich so Liebe an, aber vielleicht doch eher Alkoholismus. Irgendwo in der Ferne ertönt eine Sirene – ob wohl gerade jemand einen Herzinfarkt erlitten hat? – und ein Licht hinter einem Fenster wird eingeschaltet. Hyukjae beachtet das nicht. Sein Gehirn braucht absolut jedes bisschen Kapazität, um Minho zu küssen und sich an ihm festzuhalten. Nicht einmal die Kühle des Wassers nimmt er aktiv wahr. Alles ist verschwommen und reduziert sich auf Minhos Lippen und Berührungen. Wie er Hyukjae mit den Händen an der Taille festhält und sich nach vorne presst. Wie er schwer gegen Hyukjaes Lippen atmet und wie er sich genauso auf Hyukjae fokussiert wie Hyukjae auf ihn.
Die Sirenen werden lauter. So laut, dass Hyukjae sie wahrnehmen muss – und sobald er es tut, ist es auch schon zu spät. Eine tiefe Stimme brüllt: „Auseinander! Hände dahin wo ich sie sehen kann! Sofort!" Und irgendwo am Rande seines Bewusstseins registriert Hyukjae, dass da jemand in Uniform eine Waffe auf ihn richtet. „Na los, wird's bald?!"
Hyukjae klammert sich am Beckenrand fest – hochhalten kann er die Hände bei bestem Willen nicht – und versucht etwas zu sagen. Aber jedes Mal wenn er den Mund öffnet, wird ihm speiübel und er muss ihn sofort wieder schließen, um sich nicht zu übergeben.
Als der Polizist bemerkt, dass weder Minho noch Hyukjae in der Lage sind irgendetwas zu tun, tritt eine zweite Polizistin vor, steckt ihre Waffe weg und hievt erst Minho, dann Hyukjae aus dem Wasser. „Ich glaub', die sind hinüber", bemerkt sie, genau zwei Sekunden bevor ihr Minho auf die Füße kotzt. „Verdammtes Drecksschwein", murmelt sie darauf mit so viel Gift in der Stimme, dass sie damit ganz Seoul hätte umlegen können. „Aufstehen!", brüllt sie und packt Minho erbarmungslos am Oberarm. „Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden."
Der andere Polizist senkt ebenfalls die Waffe und packt Hyukjae am Oberarm. Es tut verdammt weh, aber Hyukjae kann nichts tun. Wie ein Sack Kartoffeln hängt er im Griff des Polizisten und fragt sich vage, wann dieser Abend vom besten zum schlimmsten geworden ist. Ist das die Pointe? Ist das das Fazit, dass, egal wie sich Hyukjaes Leben kurzzeitig zum Guten wendet, es schlussendlich immer wieder den Bach runter gehen wird? Hyukjae weiß es nicht. Er weiß gar nichts. Da ist nur Übelkeit und Reue in ihm. Reue, weil er er ist und seine Schwester nie in solch einer Situation landen würde. Weil sie perfekt ist und das Familienerbe weiterführt, während er alles, was er tut in den Sand setzt.
Das Leben ist unfair.
--- 3.5 Stunden nach der Verhaftung
Das erste, was Hyukjae wahrnimmt, ist Schmerz. Sein Kopf pocht, als wollte er explodieren, seine Glieder hängen ihm wie giftige Fremdkörper am Leib und sein Magen brennt wie frische Lava. Das zweite, was er wahrnimmt, ist die kühle Luft und die harte Bank, auf der er sitzt. Sie ist unangenehm und drückt ihm den Hintern platt, während sein Körper leicht zittert, weil ihm einfach nicht warm wird. Das letzte, was er wahrnimmt, ist die Person, die neben ihm sitzt. Hyukjae hat seinen Kopf auf deren Schulter gelegt und sich so zu ihr gewendet, dass möglichst viel Kontakt zwischen ihren Körpern besteht.
Blinzelnd öffnet er die Augen. Es ist düster. Er befindet sich in einem kleinen Raum – einer Zelle? – der nur schwach beleuchtet ist. Es befindet sich darin nicht als Betonwände und ein Klappbett, auf dem er sitzt. Wie kann ein Bett nur dermaßen hart sein? Fuck. Schmerz schießt ihm einmal quer durch die Schläfen. Wo ist er und wieso tut ihm alles weh? Er besäuft sich regelmäßig an den Wochenenden, aber so scheiße hat er sich schon seit Jahren nicht mehr gefühlt.
Mühselig richtet er sich auf – oder versucht es zumindest – und sieht die Person neben ihm an. Es ist ein junger Mann. Schätzungsweise Mitte 20, mit braunen, wirren Haaren, kantigen Gesichtszügen und einer goldenen Bluse. Würde er nicht aussehen, wie Hyukjae sich fühlt, wäre er wahrscheinlich schön.
„Bitte kotz mich nicht an", sagt der Junge – und irgendetwas klingelt bei den Worten. Vage Bilder von einer Betriebsfeier – oder einem Geburtstagsfest? – schwirren Hyukjae durch den Kopf. Der Junge hat getanzt und Witze erzählt – und kann es sein, dass er Lachsbrötchen mag? Eine Menge Informationen schwimmen in Hyukjaes Gehirn, aber ohne die passenden Verknüpfungen sind sie wertlos.
„Sorry", murmelt er, weil er nicht weiß, was er sonst sagen soll.
Der Junge neben ihm schmunzelt. Er sieht Hyukjae von der Seite aus an – und wahrscheinlich ist er in der Lage die Verknüpfungen herzustellen, denn in seinem Blick liegt so etwas wie Verständnis. Und Zuneigung. Und das sind Dinge, die Hyukjae sonst nie entgegengebracht werden. Warte. Hat... hat der Junge... kann es sein, dass sie letzte Nacht geheiratet haben? Hyukjaes Blick sinkt zu seiner linken Hand – und tatsächlich: dort befindet sich ein teuer aussehender Ring, der gestern nicht da gewesen ist. Allerdings trägt Hyukjae ihn am kleinen Finger, nicht am Ringfinger.
„Hier", sagt der Junge und hält Hyukjae eine Flasche Wasser hin. „Die zuständige Polizistin schindet Zeit. Ich glaube, sie hasst mich, weil ich ihr auf die Schuhe gekotzt habe. Wir werden noch ne Weile hier drinnen sitzen. Wasser hat sie uns trotzdem gegeben."
Hyukjae nickt. Er versteht nur die Hälfte des Gesagten und nimmt gierig einen Schluck Wasser. Sofort geht es ihm ein klitzekleines bisschen besser. Es ist, als würde das kalte Wasser die tobende Lava in seinem Magen besänftigen. Hyukjae reicht die Flasche zurück und fragt dann: „Sind wir verheiratet?"
Der Junge sieht ihn überrascht an. Einen kurzen Moment lang sucht er in Hyukjaes Ausdruck nach etwas, scheint es aber nicht zu finden. „An wie viel erinnerst du dich?", fragt er neugierig. Und genau das ist das Problem, oder nicht? Hyukjae hat keine Ahnung. Er zuckt mit den Schultern und starrt auf den goldenen Ring an seinem kleinen Finger. Er ist schwer und fühlt sich robust an. Es handelt sich dabei nicht um billigen Fast-Fashion-Schmuck, sondern um echte Ware.
„Kann es sein, dass du Minjun heißt?"
Der Junge lacht abrupt auf, bevor er schmerzverzerrt stöhnt und sich seinen Magen hält. „Verdammt", murmelt er. Dann fügt er hinzu: „Ich bin Minho – und ja, ich nehme es persönlich, dass du mich in nicht mal vier Stunden vergessen hast."
Vier Stunden, das ist nicht viel Zeit. Hyukjae starrt auf den Ring und versucht verzweifelt sich zu erinnern. Da ist jemand, der sie verteufelt und als scheiß Praktikanten verflucht und... und hat Minho Hyukjae und einem anderen Typen einen Lapdance gegeben? Nachzudenken tut weh. Zu existieren tut weh. Hyukjae gibt auf und sagt: „Tut mir leid, ich bin unfähig."
Minho sieht in liebevoll an und Hyukjae fragt sich, was zum Teufel er getan hat, um so viel Sympathie zu hinterlassen. Das gelingt ihm sonst nie.
„Unfähig ist relativ", sagt Minho schließlich. „Kann sein, dass du kein Jurist oder Wissenschaftler bist, aber du hast einen Türsteher für mich in die Fresse geschlagen und ungefragt so getan, als wären wir Putzmänner, die gerne Trot tanzen – und das schätze ich sehr viel mehr als irgendeinen dummen Uni-Abschluss."
Bei den Worten klingelt was. Hyukjae wollte gestern zur Feier seines Geburtstags in den Golden Beach Club gehen, aber er ist seines Alters wegen nicht reingekommen und... und hat dem Türsteher in die Fresse geschlagen? Bilder von Minho, wie er den Security anpöbelt, weil er ihm keinen Ausweis zeigen will, flattern durch Hyukjaes Gedanken. So haben sie sich also kennengelernt. Romantisch.
„Also sind wir nicht verheiratet", schlussfolgert Hyukjae. Er streift sich den Ring vom Finger und reicht ihn Minho zurück, der jedoch ablehnend den Kopf schüttelt.
„Behalte ihn. Steht dir besser als mir."
Hyukjae lacht schwach. Jemandem wie ihm steht kein Gold. (Ja, es ist echtes Gold. Auf der Innenseite des Rings ist ein Stempel mit der Bezeichnung 750 aufgebracht. Das sind 18 Karat.)
„Was?", fragt Minho.
Hyukjae seufzt und sagt: „Ich glaube, deine Vorstellung von mir ist besser, als ich in Wirklichkeit bin."
„Wieso?", fragt Minho. „Wegen ein bisschen Gold?"
Hyukjae nickt.
„Würde es dich beruhigen, wenn ich dir mitteile, dass ich zuhause einen Schmuckkasten voller Ringe wie dem hier habe?"
Ein bisschen. Hyukjae schnaubt. „Wer zum Teufel bist du?" Weitere Bilder kommen zu ihm zurück. Wie sie lachend zusammen in der Bahn stehen und kaum Luft bekommen, weil alles unendlich lustig ist. Wie sie auf einem Bordstein sitze und Mozzarella-Sticks essen.
„Ich gehe davon aus, dass du das rhetorisch meinst."
„Mhm." Hyukjae ist sich nicht sicher. Wer ist Minho? Spielt es eine Rolle? Wahrscheinlich nicht. „Kommen wir ins Gefängnis?", fragt Hyukjae stattdessen, weil es einfacher ist über Verhaftungen zu sprechen als über das Wesen einer Person nachzudenken.
Minho schüttelt den Kopf. „Nee. Für ein bisschen Hausfriedensbruch können die uns nicht wegsperren."
Hyukjae ist sich da nicht sicher, aber Minho sagt es mit so viel Überzeugung, dass er es nicht zu bezweifeln wagt. Hausfriedensbruch. Da klingelt was. Chlorreiches Poolwasser ist um sie herum. Es leuchtet in der Dunkelheit und bringt alles in Hyukjae zum Schwanken. Minho ist direkt vor ihm. Er beugt sich vor, sie berühren sich und dann...
„Mir ist schlecht", sagt Hyukjae verzweifelt. Minho reicht ihm erneut das Wasser, aber es bringt nicht viel. Er muss an seine schwangere Schwester und das perfekte Häuschen am Stadtrand denken und möchte am liebsten weinen. Das Einzige, was ihn davon abhält, ist, dass er nicht noch erbärmlicher wirken möchte. Er ist 36 Jahre alt. Hat keinen Partner. Arbeitet in einer verfickten Kleintierhandlung und darf nun auch noch „Verhaftung wegen Hausfriedensbruch" in seinen Lebenslauf schreiben. Das ist einfach nur erbärmlich.
„Nicht zwangsläufig", entgegnet Minho. Hyukjae starrt ihn verwirrt an – fuck, hat er seine Gedanken gerade laut ausgesprochen? „Erstens ist 36 nicht besonders alt und zweitens ist ein Familienhäuschen am Stadtrand nicht das non plus ultra."
„Das sagt sich leicht, wenn man noch keine 30 ist."
„Und es jammert sich noch leichter, wenn man bereits 30 gewesen ist. Hast du gewusst, dass die durchschnittliche Lebenserwartung hier in Korea bei 83 Jahren liegt? Das heißt, du hast noch über die Hälfte deines Lebens vor dir. Und jetzt stell dir Mal vor, wie viel du in dieser Zeit anstellen kannst, wenn du sie nicht mit Jammern verbringst."
Huykjae schweigt. Irgendwo tief in seinem Erinnerungen hört er seine Mutter schimpfen, weil sie nie den Luxus gehabt hat, sich selbst zu verlieren. Sie hat Hyukjaes Vater mit 19 geheiratet und das erste Kind mit 20 bekommen. Für sie ist Huykjae im Grunde genommen bereits gestorben.
„Magst du überhaupt Kinder?"
Bei dem Gedanken schaudert Hyukjae. Sicher, sie können niedlich sein und sind wichtig für die Zukunft des Landes, aber allein der Gedanke, sein Leben einer winzigen Schrei-Maschine zu widmen, widert ihn an. Wobei er sich davor nicht fürchten muss, denn für Kinder braucht man eine Frau und Frauen finden ihn exakt so lange geil, bis er sie befriedigt und ihnen Frühstück zubereitet hat. Dann sind so schnell wieder weg, dass Hyukjae nicht einmal Zeit zum Blinzeln hat.
„Nein, tu ich nicht", antwortet Hyukjae.
Minho grinst zufrieden. „Na siehst du? Dann ist doch alles perfekt. Du lebst in den Tag hinein, tust was dir Spaß bereitet und scheißt auf gesellschaftliche Idealbilder. Du machst dein eigenes Ding."
„Ja", sagt Hyukjae. „Weil sonntagmorgens verkatert in einer Zelle zu sitzen ja so viel besser ist."
„Nö, ist es nicht. Aber Fremden in Not zu helfen, zu tanzen während alle anderen dich für dumm verkaufen und treu zu bleiben, auch wenn die Situation riskant wird, schon."
„Ich bin noch nicht nüchtern genug, um das nachzuvollziehen."
Minho lacht schwach und sagt: „Ja, ich auch nicht." Dann streckt er die Hand nach Hyukjaes aus und verschränkt ungefragt ihre Finger. Er trägt weitere, teuer aussehende Ringe, die mit Steinen besetzt sind und allesamt golden glänzen. Hyukjae fragt sich am Rande, ob Minho ihm letzte Nacht erzählt hat, was er beruflich macht, fokussiert sich aber hauptsächlich auf die angenehme Wärme seines Händedrucks. Obwohl Minhos Hand deutlich kleiner als seine ist und er wegen der zwölf Jahre Altersunterschied unerfahrener sein sollte, fühlt sich Hyukjae neben ihm geborgen. Es geht ihm dreckig und er hat keine Ahnung, wie und ob sie hier rauskommen werden, aber solange Minho da ist und ihm versichert, dass alles gut wird, glaubt Hyukjae ihm das.
„Danke", flüstert er und lehnt sich zurück an Minhos Schulter. Er ist müde und erpicht darauf, seinen Rausch auszuschlafen.
„Gerne", antwortet Minho sanft und ohne zu hinterfragen, wofür Hyukjae sich bedankt, bevor Hyukjae mit steifen Gliedern und pochendem Schädel zurück in den Schlaf fällt. Er träumt von Lachsbrötchen, Hochzeitsanträgen und Chlorwasser und als er aufwacht, weil Minhos Vater die Kaution gezahlt hat und sie entlassen werden, fühlt er sich nur noch halb so scheiße.
───── 4 Monate, 7 Tage und 11.5 Stunden nach der Verhaftung
Der August ist in diesem Jahr besonders heiß. Hyukjae läuft der Schweiß die Schläfen hinunter und die Meerschweinchen quieken vor Unwohlsein dermaßen unaufhörlich, dass etwas in Hyukjaes Gehörgang langsam aber sicher abstirbt. Er räumt gerade zehn verschiedene Diät-Hundefutter-Sorten ins Regal – weil niemand auf diesem Gott verlassenen Planeten in der Lage ist, seinen Hund ordentlich zu ernähren und die Viecher noch fetter als wir selbst sind – und wippt mit dem Kopf im Takt der Radiomusik. Es läuft zum wohl tausendsten Mal heute Scientist von TWICE und Hyukjae wird den Ohrwurm davon ziemlich sicher mit ins Grab nehmen. Gerade als er Diätfutter Nummer sieben eingeräumt hat, klingelt das Glöckchen über der Ladentür. Hyukjae verspürt instinktiv das Bedürfnis sich hinter dem Regal zu verstecken, damit seine Kollegin sich um den Kunden kümmern muss, aber als er im Augenwinkel frisch violett gefärbte Haarsträhnen erblickt, verfliegt dieser Instinkt wieder.
„Hier drüben", ruft er und packt Diätfutter Nummer acht, um es ins Regal zu hieven, während Minho zu ihm herüber schlendert.
„Die Meerschweinchen hören sich an, als würde die Welt gleich untergehen", grüßt Minho.
Hyukjae zuckt mit den Schultern. „Vielleicht tut sie das ja."
Minho verzieht das Gesicht. „Bitte nicht."
„Mhm."
„Wann bist du hier fertig?"
„Immer noch fünf Uhr. Wie jeden Tag. Dafür, dass du regionaler Schachmeister bist, bist du verdammt vergesslich."
Minho zuckt mit den Schultern. „Ich merke mir eben nur wichtige Dinge."
„Wie die ersten 300 Nachkommastellen von Pi."
„Exakt."
Hyukjae seufzt und richtet sich auf. Das Diätfutter kann warten, Minho nicht. „Es ist erst drei Uhr, Min. Ich kann nicht schon wieder früher von hier abhauen."
„Ja, ich weiß. Aber du könntest mich zwei Stunden lang beraten."
„Sex im Hinterzimmer ist keine Beratung."
„Wenn ich danach etwas kaufe schon."
„Das klingt nach Prostitution."
„Bingo." Minho schnippt mit dem Finger. „Deine Mutter wäre stolz auf dich."
Hyukjae lacht schwach, verdreht die Augen und widmet sich Diätfutter Nummer neun. Vor einem halben Jahr hätte ihn diese Aussage wütend gemacht, aber mittlerweile kann er darüber lachen. Manchmal ist es schwer Emotionen zu akzeptieren, aber wenn man begreift, dass nichts auf dieser Welt beständig ist und keine Mutter und keine Schwester der Welt die Kontrolle über einen haben, wird sehr vieles sehr viel einfacher.
„Deine wäre stolzer", entgegnet Hyukjae und Minho grinst. In gewisser Hinsicht ist er Hyukjae unglaublich ähnlich. Er passt ebenfalls in keine der Boxen, die ihm auferlegt worden sind und denkt nicht einmal im Traum daran, etwas zu tun, das ihm nicht in den Kram passt. Der einzige Unterschied zwischen ihnen ist: Minhos Eltern sind reich und ungeniert. Sie unterstützen und finanzieren ihn – egal welchen Scheiß er sich ausdenkt. Ob Hyukjae regionaler Schachmeister und erprobter Pi-Ziffern-Aufzähler geworden wäre, wenn ihm nicht bereits als Kleinkind gesagt worden wäre, dass er alles ständig falsch macht, sei mal dahingestellt. Fakt ist, man kann nur aufblühen, wenn das Umfeld es zulässt – und tut es das nicht, muss man sich ein anderes Umfeld suchen.
„Wie wär's hiermit", schlägt Minho vor. „Du berätst mich zwei Stunden", das Wort beraten setzt er in Gänsefüßchen, „ich kaufe all die quiekenden Meerschweinchen und danach fahren wir zu meiner Mutter zum Landhaus und schenken sie ihr."
„Mit 'ner Karte, auf der steht: Herzlichen Glückwunsch, dein Sohn ist Freier?"
„Vielleicht – sie würde sie bestimmt an den Kühlschrank hängen."
Hyukjae verzieht das Gesicht. Primär, weil er ganz genau weiß, dass Minho recht hat. An dem Landhauskühlschrank der Lees hängt bereits eine „Glückliches Verrecken"-Karte zur Gratulation zum Todestag von Minhos Großmutter, sowie ein Portrait von Minhos Vater, auf das Minho höchstpersönlich mit aufgeklebten Nudeln geschrieben hat: Ist es nicht toll, so einen hässlichen Ehemann zu haben? Und nein, Hyukjae weiß nicht, was in dieser Familie schiefgelaufen ist, aber es ist ihm egal, denn er kennt keine zuvorkommenderen Menschen als sie.
„Alternativer Vorschlag", sagt Minho. „Ich mache dir einen Heiratsantrag, du sagst ja und kündigst, weil du ab sofort reich bist, und keiner von uns muss sich je wieder mit Meerschweinchen auseinandersetzen."
Hyukjae lacht auf, weil dieser Witz verdammt bescheuert ist, aber Minho lacht nicht. Dafür kann es viele Erklärungen geben. Meistens genießt er es, andere beim Lachen über seine Witze zu beobachten und seine Superiorität zu genießen. Manchmal macht er extra dumme Witze, um zu ermitteln, wer im Raum einen schlechten Humor hat. Und hin und wieder meint er Dinge ernst, bringt sie jedoch wegen seiner absonderlichen Erziehung so rüber, dass man aus Versehen denkt, es handelt sich dabei um einen Witz. Zu behaupten, dass Hyukjae in den vergangenen fünf Monaten gut darin geworden ist, Minho zu lesen, wäre ein Euphemismus, aber er würde dennoch behaupten, er sei besser als die meisten da draußen – weswegen es ihn umso mehr verunsichert, als er Minhos ernste Miene bei dem Satz nicht einordnen kann.
„Was wenn ich Meerschweinchen insgeheim niedlich finde?", fragt er vorsichtig.
Minho lässt sich nichts anmerken und sagt unverblümt: „Tust du nicht."
„Tu ich nicht", bestätigt Hyukjae instinktiv.
Minho nickt, greift nach Hyukjaes linker Hand, zieht ihm den Goldring vom kleinen Finger, hält ihn Hyukjae unzeremoniell unter die Nase und fragt: „Willst du mich heiraten?"
Hyukjaes Herz setzt einen Schlag aus und sein Körper schüttet augenblicklich Adrenalin aus, sodass Hyukjae sich nicht sicher ist, ob seine Schweißperlen nach wie vor von der augustlichen Sommerhitze stammen oder von seinem turbulenten Hormonhaushalt.
Hyukjae schwirrt in dem Moment so einiges durch den Kopf. Dass sie nicht einmal in einer Beziehung sind zum Beispiel. Oder dass die gleichgeschlechtliche Ehe in Korea nach wie vor illegal ist. Dass das hier zum Scheitern verurteilt ist und eines Tages ein zerschlissenes Bild von Hyukjaes Gesicht mit der Unterschrift „der Verräter" an Minhos Mutters Kühlschrank hängen wird. Aber wenn Hyukjae eines in den letzten Monaten gelernt hat, dann dass es okay ist, anders zu sein und einen eigenen, unkonventionellen Weg einzuschlagen. Also sagt er ohne einen noch so klitzekleinen Funken Zweifel: „Ja, ich will." Denn wenn nicht er sein Leben lebt, wie er es will, wer tut es dann?
Minho grinst selbstgefällig, ergreift erneut Hyukjaes Hand und steckt den Ring zurück auf den kleinen Finger. „Na dann", sagt er. „Lass uns aufhören Zeit in diesem Drecksladen zu vergeuden."
„Genau", stimmt Hyukjae schmunzelnd zu. „Scheiß auf Hundediätfutter." Wobei Hundediätfutter nur als Synonym für all das dient, was mit dieser Welt schiefläuft und versucht, Hyukjae dazu zu bringen, jemand zu sein, der er nicht ist.
Cheers.
ENDE
© März 2022
•••
Minho in der letzten Szene: Möchtest du mich heiraten?
Ich, der Autor: Das ist eine schlechte Idee. Tu das nicht - ihr seid ja noch nicht mal ein Paar.
Minho: Was willst du tun? Mir Hausarrest verpassen?
Ich: Aber ...
Minho: Zurück zum Thema. Hyukjae, willst du mich heiraten?
Ich: 😫
Tun eure Charaktere hin und wieder auch Dinge, ohne dass ihr sie erlaubt?
•••
Und wie immer: wie hat es dir gefallen? Was würdest du verbessern? Gibt es etwas, das für dich besonders herausgestochen ist?
Ich nutze diese Plattform, um mein Schreiben zu verbessern uns bin dankbar um Feedback jeglicher Art.
•••
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