04
Ich kann nur nicken, ehe ich nach draußen auf die Straße stolpere. Dort schlägt mir die pralle Mittagssonne entgegen, die inzwischen solch eine Kraft hat, dass ich aufmerksam nach einem Schattenplatz suche.
In einem nahegelegenen Café finde ich ihn und weil ich zeitgleich merke, dass ich am Verhungern bin, bestelle ich mir einen Salat - irgendwo habe ich nämlich gehört, dass Vitamine gesund sein sollen.
Während ich auf mein Essen warte, lege ich den Kopf in den Nacken und massiere meine pochenden Schläfen.
Ich weiß nicht, was auf einmal in mich gefahren ist, aber mir war irgendwie alles zu viel und die Wärme, die Louis' Hand ausgestrahlt hat, war plötzlich brennend heiß und hat mich ziemlich ins Schwitzen gebracht.
Ob das jedes Mal so sein wird? Ich hoffe nicht, denn erst als ein großes Glas Cola vor mir steht und ich die erste Tomate in meinen Mund stecke, beruhige ich mich allmählich.
Ich spüre, wie sie in meiner Mundhöhle zerplatzt und der fruchtige Tomatensaft sich breit macht, bevor ich wirklich zu kauen beginne.
Nachdem ich meinen Teller komplett leer gegessen und auch die Cola ausgetrunken habe, bezahle ich relativ schnell die Rechnung und schlendere anschließend wieder durch die Straßen Londons
Wieder kribbelt meine Hand und meine Gedanken kreisen erneut um den Tag, an dem ich meiner Mutter alles gebeichtet habe, weshalb ich kurzerhand auf einer Parkbank Pause mache und versuche, mein rasendes Herz davon abzuhalten, jede Sekunde zu explodieren.
Abermals schießen Tränen in meine Augen und ich erinnere mich, wie sie nervös ihre langen Haare zu einem Dutt gedreht und mich dabei mit flatternden Lidern abgesehen hat.
„Seit wann denkst du so?", hat sie nach einer Ewigkeit gefragt, ihre Stimme dabei nicht mehr als ein Flüstern.
Auf meine Antwort hin, dass ich vor einem halben Jahr das erste Mal an Suizid dachte und Gemma mich nun zu einer Therapie verdonnert hat, haben ihre Augen verräterisch zu glänzen begonnen und sie hat einmal tief durchgeatmet, bevor sie mich in den Arm genommen hat.
In den Arm genommen.
Unwillkürlich zucke ich zusammen und spüre, wie mich trotz der Wärme eine Gänsehaut überkommt und ich mich tiefer in meine Jeansjacke kuscheln muss.
Da das allerdings nur bedingt hilft, fasse ich mir schließlich ein Herz und wähle Gemmas Nummer.
Meine Schwester freut sich tierisch, von mir zu hören, sodass ich kurz darauf in ihrer Küche sitze, eine Tasse dampfenden Kaffee in meiner Hand.
„Wie war es bei diesem Kuscheltherapeuten?", erkundigte sie sich nach einer Weile und beobachtet mich mit zusammengekniffenen Augen - ein Indiz dafür, dass sie auf der Lauer ist - wahrscheinlich geht sie davon aus, ich würde lügen.
Doch stattdessen seufze ich bloß resigniert und wische mir mit der flachen Hand einmal übers Gesicht, dann sage ich:
„Unerwartet gut. Er war überhaupt nicht aufdringlich oder so, sondern eigentlich ganz nett. Wir haben nicht viel geredet, aber trotzdem hat er mich direkt zum Nachdenken gebracht."
Die Gesichtszüge meiner Schwester weichen auf und sie beginnt sogar, zu lächeln.
„Das freut mich. Also wirst du wieder hingehen?"
Ich nicke, als es genau in diesem Moment klingelt.
„Oh, das ist bestimmt James!"
Flink erhebt sie sich und eilt in den Flur, von wo ich prompt James' Stimme vernehme.
Der kleine Racker verabschiedet sich gerade noch von seinem Dad, der ihn vom Kindergarten abgeholt hat, und ich kann nicht verhindern, dass ich mich innerlich anspanne.
Denn obwohl Gemma eigentlich einen Mann verdient hätte, der sie auf Händen trägt, hat sie sich vor knapp sieben Jahren auf einen totalen Idioten eingelassen.
Thomas ist einige Jahre älter als sie, Investmentbänker und hat sich bei irgendeiner Dinnerparty, auf der sie gekellnert hat, an sie rangeschmissen.
Sie sind daraufhin einige Male miteinander ausgegangen und wie es kommen musste - nach einer durchzechten Nacht ist das Kondom gerissen.
Einige Wochen später stand sie vor meiner Zimmertür und hat mir nur wortlos einen Schwangerschaftstest unter die Nase gehalten, der bewiesen hat, dass sie zwei Striche pinkeln kann.
„Was soll ich jetzt machen?", hat sie völlig hysterisch gefragt, sobald die Nachricht bei mir angekommen war und ich sie auf mein Bett verfrachtet hatte.
„Keine Ahnung, du bist die Ältere", ist bloß mein ungenierter Kommentar gewesen, der sie schlagartig zum Heulen gebracht hat - vollkommen zurecht.
Also habe ich meine Bruderqualitäten unter Beweis gestellt und sie zu Thomas' Wohnung begleitet, damit sie nicht alleine war.
Der allerdings war ganz und gar nicht begeistert von der Aussicht, Papa zu werden, weswegen er Gemma nur wortlos rausschmiss.
Ich hingegen war der festen Überzeugung, dass er sehr wohl Verantwortung zu übernehmen hat und ich schwöre, dass es das einige Mal gewesen ist, dass ich physische Gewalt angewendet habe.
Danach hatte ich zwar eine gebrochene Nase und Stress mit meinen Eltern, aber dafür die Gewissheit, dass mein Neffe nicht ohne Vater aufwachsen muss - dem jahrelangen Kickboxtraining sei Dank.
Glücklicherweise verschwindet Thomas schnell wieder und ein freudestrahlendes Kind stürmt die Küche, mich aus meinen Gedanken reißend.
„Onkel Harry, schau mal, was Dad mir heute geschenkt hat!"
Stolz hält er mir ein Legoauto unter die Nase, macht laute Motorengeräusch und saust somit in sein Kinderzimmer.
Gemma sieht ihm Kopf schüttelnd nach, ein verzücktes Lächeln auf den Lippen.
„Kaum zu fassen, dass er ab August in die Schule geht", murmelt sie etwas wehmütig, was mich schmunzeln lässt. „Ja, die Zeit ist echt schnell vergangen."
Einige Minuten verstreichen, in denen wir James zuhören, wie er im Kinderzimmer die Legokiste ausräumt, dann strafft meine Schwester ihre Schultern und dreht sich zum Kühlschrank.
Sie fischt nach einigem Wühlen einen Joghurt heraus, reißt beherzt die Folie ab und versenkt einen Löffel darin.
„Hast du auch Hunger?", fragt sie in meine Richtung, woraufhin ich dankend ablehne und stattdessen beschließe, James beim Spielen Gesellschaft zu leisten.
Der Kleine sitzt auf dem Teppichboden und bastelt zufrieden an seinem Auto herum, während aus einem kleinen Kassettenrekorder ein Hörspiel ertönt.
Kaum dass er mich jedoch bemerkt, lässt er sein Spielzeug fallen und breitet seine Arme aus, damit ich mich zu ihm hocke.
Wie mir befohlen verknote ich mich neben ihm in den Schneidersitz und streiche behutsam über seinen Rücken.
„Na, wie war dein Tag?", erkundige ich mich und sofort beginnt er zu plappern - von der doofen Erzieherin, die ihm heute morgen eine Puppe weg genommen hat, weil sie angeblich nur für Mädchen sei.
Empört stemme ich die Arme in die Seiten und erkläre ihm, dass das völliger Humbug ist.
„Du darfst auch mit Puppen spielen, wenn du möchtest. Jeder Junge darf das. Genauso wie Mädchen auch mit Lego spielen dürfen", ermutige ich ihn, wofür er mir ein bezauberndes Lächeln schenkt.
„Cool!", verkündet er und nimmt meine Absolution zum Anlass, aus seinem Bett seine Baby Born zu fischen.
Grinsend sehe ich ihm dabei zu, wie er ihre Windeln wechselt und ihr ein neues Outfit anzieht, wobei er Hilfe dabei braucht, die Druckknöpfe des Oberteils zu schließen.
Ehrlicherweise war ich früher der gleichen Auffassung, dass Barbies und Co. ausschließlich für Mädchen seien, doch entweder wurden mir bei James' Geburt irgendwelche besonderen Onkel-Gene eingesetzt, oder Gemma hat mich miterzogen- seit der kleine Mann mit Spielzeug um sich wirft, Klamotten kauft und mit mir Filme gucken will, bin ich super liberal.
Er darf aufwachsen, wie er möchte und eigene Interessen entwickeln - das ist Gemma wichtig und ich unterstütze es voll und ganz - denn ganz ehrlich: er ist glücklich, und das wünsche ich mir für mein zukünftiges Kind auch - sofern ich es überhaupt schaffe, nochmal eine Frau längerfristig an mich zu binden.
Wieder holt James mich zurück in die Gegenwart, indem er plötzlich vor mir steht, einige Haarklammern zwischen den Fingern.
Ich verstehe den Wink und erlaube ihm, mir die Haare zu flechten. Also ist er blitzschnell dabei, mir die wildesten Frisuren anzudrehen, während ich versuche, nicht aufzuheulen, wenn seine Nägel sich in einzelnen Strähnen verfangen.
Davon ist er eine Zeit lang vollends begeistert, bis er schließlich mit einem Gähnen die Bürste in seiner Hand sinken lässt und sich an mich kuschelt.
Ich hebe ihn in meinen Schoß, sodass er sich an meiner Brust anlehnen kann, sein Kopf in meiner Armbeuge.
Irgendwann ist er sogar eingeschlafen und schnarcht leise vor sich hin, weshalb ich vorsichtig aufstehe und ihn in sein Bett lege.
Ich verschränke zufrieden die Arme vor der Brust und betrachte ihn eine ganze Weile, als Gemma letztendlich zu uns stößt und einen Arm um mich legt.
„Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast", wispert sie, wodurch ich sie lächelnd an mich drücke, mich plötzlich an das Gespräch von heute morgen erinnernd.
Umarmungen sollen besonders intim sein?
Also schlinge ich beide Arme um meine Schwester, sodass sie ihr Gesicht in meiner Halsbeuge vergraben kann, und atme ihr Parfüm ein.
Eine ihrer Haarsträhnen kitzelt mich am Ohr, doch ich lasse mich davon nicht stören, sondern verfestige meinen Griff um sie.
Und es stimmt. Ich spüre Intimität und merke, wie gut es tut, sie zu umarmen - zumindest für ein paar Sekunden.
oh gott, ich bin james schon jetzt komplett verfallen- der kleine ist einfach zu putzig.
anyway, hoffentlich hattet ihr spaß beim lesen - auch wenn nicht sonderlich viel passiert ist.
alles liebe. xx
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