12. (Kein) Entkommen

Maik

Zunächst setze ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als könnte sie wieder verschwinden, wenn ich mich zu schnell bewege. Doch schon nach wenigen Schritten verfalle ich in ein Rennen. Dabei wage ich es  nicht, den Blick von ihr abzuwenden. 

Der Dreck, den man überall an ihr findet, stört mich nicht. Immerhin muss ich wohl so ähnlich aussehen. Ich drücke sie an mich, so fest ich nur kann. Sie erwidert die Umarmung.

Und dann finden sich unsere Lippen. Alles um mich herum verschwindet, die Zeit steht still. Ich habe sie wieder.

Nach einigen Augenblicken, wie ich glaube, nehme ich ihre Hand und will sie hinter mir herziehen.

„Wir brauchen nicht wegzurennen." Die Stimme klingt hoffnungslos und es ist genau das, was meinen Ehrgeiz weckt.

„Wir finden einen Weg, keine Sorge!"

Ihre Hände auf meinem Rücken erzeugen eine Gänsehaut. Leider kann ich nicht sagen, ob es eine wohlige oder eine Gänsehaut ist, die aus Unbehagen geboren ist. Vermutlich irgendetwas dazwischen. Auf der einen Seite lebt sie, auf der anderen Seite ist etwas an ihr so ... anders.

Mein Blick scannt meine Umgebung, auch wenn ich Louisa am liebsten nie wieder aus den Augen gelassen hätte.

Um uns herum sammeln sich die Körper. Als Menschen möchte ich sie nicht bezeichnen, denn das sind sie nicht mehr. Sie sind seelenlose leere Hüllen, die einem unsichtbaren Anführer folgen.

Meine Augen wandern über die Gestalten und bleiben an einer Frau hängen. Es ist die Wahrsagerin, die wir vorhin noch für einen Teil der Show gehalten hatten. Oder für verrückt, vielleicht auch für beides. Aber nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass sie Recht haben könnte. Dass sie uns wirklich warnen wollte. Vor einer realen Gefahr.

Die Augen der Frau sind blicklos, die Iriden blass. Die Haare noch wirrer als zuvor und insgesamt macht sie den Anschein, durch Dreck gezogen worden zu sein. Ihr Wissen scheint ihr nicht viel genutzt zu haben, wenn sie nun auch ein Teil dieser Anhängerschaft von was auch immer ist.

Um uns herum befindet sich ein perfekter Zirkel. Und Louisa und ich, wir stehen im Mittelpunkt. Dabei mochte ich es nie, und Louisa erst recht nicht. Denn wenn sie irgendwo im Mittelpunkt gestanden hat, hatte es für sie meist kein gutes Ende.

Doch nun stehen wir hier. Erst jetzt realisiere ich, dass wir allein sind. Cassy, Leo und Isabell sind weg.

Der Kreis um uns zieht sich immer enger zu. So einfach wird es nicht, von hier zu entkommen. Trotzdem halte ich nach einer Lücke Ausschau, durch die wir fliehen können.

Dabei entdecke ich meine Freunde. Auch sie haben nun leere Blicke und schauen mich mit schiefgelegtem Köpfen an. Sie scheinen sich fast zu fragen, warum ich nicht bei ihnen bin.

Leo streckt eine Hand nach mir aus. Die Bewegung wirkt wie ferngesteuert, abgehakt.

Ich fühle mich kraftlos, erdrückt. Das einzige, was mich nun noch antreibt, ist die Flucht von hier. Gemeinsam mit meiner Frau. Immerhin sie kann ich noch retten. Und mich.

Es ist die Gewissheit, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, die mich wenige Schritte zurückweichen lässt. Normalerweise wären meine Freunde eine gute Zuflucht, wenn die Welt zusammenbricht. Nicht jedoch, wenn sie selbst ein Teil dieser zerstörten Welt sind.

Ich kann die Atmung der anderen Menschen, seelenlosen Hüllen, Monster oder was auch immer sie sind, hinter mir spüren.

„Louisa, was machen wir jetzt?" Sie steht noch immer an dem Punkt, an dem wir zum Stehen gekommen sind. Sie hat sich kein bisschen gerührt. Ich gehe wieder auf die zu und ergreife ihre Hand. Was auch immer passiert, wir werden es durchstehen. Gemeinsam. Denn das war schon immer unsere Superkraft.

Zusammen hatten wir es geschafft, dass Louisa aus ihrem seelischen Loch herausklettert. Ich würde verhindern, dass sie ein zweites Mal hineinstürzt, wenn wir hier wegkommen. Denn es sieht ganz danach aus, als stünde sie nun erneut an der Klippe.

Aber wo stehe ich? Im Grunde ist es mir egal, ob ich abstürze. Nur sie soll es nicht nochmal.

„Keine Angst, es wird alles gut. Wir können das gemeinsam schaffen. Wie so vieles schon." Es ist fast, als hätte sie meine Gedanken erraten. Deswegen mache ich mir zunächst keine Gedanken über diese Aussage.

Wohl aber, als ich sie lächelnd in Richtung der Mauer blicken sehe. Zunächst denke ich, dass das unser Fluchtweg ist und will schon loslaufen.

Doch noch bevor meine Muskeln dem Befehl meines Gehirns Folge leisten können, halte ich inne. Etwas springt auf die Mauer, die sich links von uns erstreckt und den Essensbereich abtrennt. Ich richte meinen Blick auf den Umriss. Es ist ein unförmiger Schatten aus Nebel. Doch ich  erkenne so etwas wie Beine, zwei Arme und einen Kopf. Oder zumindest glaube ich, es erkennen zu können.

Der Schrei von vorhin ertönt wieder. Es kommt von diesem Etwas auf der Mauer. Es fühlt sich an, als würde der Ton meine Trommelfelle auseinanderreißen. Am liebsten würde ich mir die Hände auf die Ohren drücken, doch etwas hindert mich daran.

Louisa, die sich nun zu mir beugt und in mein linkes Ohr flüstert.

„Er sagt: Ihr habt uns nicht ernstgenommen. Ihr bietet uns eine Bühne, doch ihr lacht über uns, nehmt uns nicht ernst. Aber jetzt, jetzt habt ihr uns eine Chance gegeben. Und  wir werden sie zu nutzen wissen. Los geht es hier, doch wir werden die ganze Welt einnehmen! Du bist der Letzte hier. Niemand wird uns aufhalten!"

Unheimlich. Das ist das Wort, nachdem ich eben gesucht habe. Etwas an ihr ist unheimlich. Denn ich muss mir eingestehen, dass es Louisa nicht anders ergangen ist als sonst einem Menschen, der hier unterwegs war.

Die Bedeutung der Worte dringt damit langsam in mein Bewusstsein. Ich bin der Letzte. Ein Kloß bildet sich in meinem Hals, drückt auf meine Luftröhre und erschwert das Atmen ungemein. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. 

Trotzdem werde ich sie nicht verlassen. Nicht um alles in der Welt.

Der Schatten wird größer, nimmt immer mehr Fläche der Mauer ein, bis er sie in sich verschluckt. Ein tiefes Grollen ertönt, das ich an meinem ganzen Körper spüren kann. Es bringt meine Knochen zum Vibrieren, meine Zähne fühlen sich seltsam an, denn auch sie reagieren unweigerlich auf diese Schwingungen.

„Jetzt ist unsere Zeit gekommen!" Damit nimmt mich Louisa in ihre Arme, hält mich fest, als wollte sie mich nie wieder loslassen.

Vor Kurzem hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, doch nun will ich nur noch weg.

Ich sehe noch, wie der Schatten in sich zusammenfällt und die Nebelschwaden sich über das Grundstück ausbreiten, bevor sie in die Körper zu schlüpfen scheinen.

Was soll ich tun? Doch dabei weiß ich, dass ich nichts tun kann.

Ich spüre ihre Lippen auf meinen. Für einen kurzen Moment ist es wieder so wie früher, als wäre nichts von alledem geschehen. Ich lasse zu, dass dieses Gefühl mich in unerwartete Höhen fliegen lässt.

Doch wer hoch fliegt, fällt bekanntlich tief. Das erkenne ich im nächsten Augenblick, in dem ich aus dieser Höhe auf die Erde falle.

Louisas Lippen fühlen sich an wie Messer, die in mein Gesicht schneiden. Von meinem Gesicht aus breitet sich der stechende Schmerz in meinem Körper aus, lähmt mich. Dann zerreißt etwas in mir, nicht nur metaphorisch.

Eine endgültige Dunkelheit umhüllt mich.

Ein letzter Gedanke schafft es in mein Bewusstsein: Vielleicht war es unvermeidbar, dass sie mich irgendwann mit sich zieht.

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