11. Offenbarung
Maik
Wir sind bei den Zombies angekommen. Oder besser: bei den Autos. Denn das, was ich hier zu sehen bekomme, lässt einen unangenehmen Schauer über meinen Rücken laufen.
Unter den Autos liegen Menschen. Es sieht aus, als wären sie überfahren worden und ich könnte schwören, dass die Fahrzeuge nun an einer anderen Stelle stehen als in der Runde zuvor.
Die Menschen haben zum Teil seltsam verrenkte Haltungen angenommen. Manche liegen gar mit einem Arm oder einem Bein unter dem Reifen. Doch sie bewegen sich noch, strecken ihre Hände nach uns aus. Aus ihren Kehlen dringen gurgelnde, grunzende Geräusche. Ganz als würden sie um Hilfe schreien wollen, es aber nicht können. Oder als wären sie nun die Zombies.
Und dann erklingen von rechts schlürfende Schritte.
„Lasst uns hier verschwinden. Das ist nicht mehr lustig!" Isabell läuft bei ihren Worten bereits los. Ihre Stimme schwankt.
Nur mit großem Widerwillen werfe ich einen Blick auf jeden einzelnen Menschen, sowohl unter den Autos als auch die, die in der Menge auf uns zukommen. Zum Glück erkenne ich Louisas Gesicht nirgends.
Ich jogge den anderen nach.
Nur am Rande nehme ich wahr, wie die Hexen etwas in einen Kessel schmeißen und dabei lachen. Dichter dunkler Rauch steigt von dem Kessel aus.
Weiter. Einfach weiterlaufen und nicht näher darüber nachdenken.
Direkt neben der Guillotine, deren Fallbeil mit Blut befleckt ist, bleibe ich doch stehen. In meiner Seite breitet sich ein stechender Schmerz aus. Es ist nur Seitenstechen, doch es zwingt mich dazu, mich mit der Szenerie vor mir zu befassen. Näher will ich es mir aber nicht anschauen. Der Geruch, der in der Luft liegt, reicht aus, damit mir schlecht wird. Unter dem Galgen erkenne ich die dunklen Umrisse von Raben und von etwas anderem, das an einem Seil hängt. Das Krächzen klingt anders als bei normalen Raben. Aggressiver. Sie bleiben am Fuß des Galgens sitzen. Weshalb sollten sie auch wegfliegen?
Wenn Louisa nun zwar vor dem Erdrutsch entkommen konnte, nicht aber vor den Monstern, die hier lauern? Mein Herzschlag beschleunigt sich und wieder hefte ich mich meinen Freunden an die Fersen. Das anhaltende Seitenstechen ignoriere ich dabei. Noch immer bekomme ich nicht so viel Luft, wie ich eigentlich bräuchte.
Ich habe so viel mit meiner Frau durchgestanden. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, damals, kurz nachdem ich mit meiner Familie umgezogen war, wusste ich, dass wir zusammengehören. Daran änderten auch die Warnungen meiner neuen Mitschüler nichts, die behauptet hatten, sie sei seltsam und wolle mit niemandem etwas zu tun haben. Dabei hatte ich recht schnell einen Draht zu ihr, würde ich behaupten. Auch wenn sie mich am Anfang nicht wirklich beachtet hatte. Und irgendwann habe ich mich einfach an sie drangehängt.
Und auch gegen meine Eltern hatte ich mich gestellt. Sie wollten nicht, dass ich sie heiratete. Schließlich könnte sie jederzeit wieder abstürzen, in diesen Abgrund, aus dem ich sie gezogen habe.
Doch all das hatte mich nicht aufgehalten. Und auch jetzt wird mich nichts davon abhalten, Louisa zu finden. Lebendig.
Wir kommen an der Hütte der Vodooleute vorbei. Hier ist es wie ausgestorben. Die Hütte hat keine Tür mehr und sieht morsch aus. Der Eindruck wird von den Spinnweben, die sich in allen Fenstern und vor dem Eingang befinden, noch verstärkt. Fast wirkt es so, als hätte eine riesengroße Spinne die Hütte eingesponnen.
Nichts erinnert mehr an das bunte Treiben von vorhin. Dabei muss ich sagen, dass ich die Vodooleute am besten fand. Ich weiß auch nicht genau warum.
„Hier ist sie auch nicht. Weiter, kommt." Ich weiß es einfach. Sie ist nicht hier. Ich spüre es.
Wir erreichen den antiken Festsaal unter freiem Himmel. Hier scheint der einzige Ort zu sein, an dem sich nichts verändert hat.
Noch immer brennen die Kerzen, der Tisch ist ordentlich eingedeckt und die Särge stehen aufgeklappt noch immer an Ort und Stelle. Fast sehen sie gemütlich aus mit ihrem roten Samtbezug. War der vorhin auch schon da? Ich kann mich nicht genau erinnern. Vielleicht wäre es nun eine Zuflucht und kein Gefängnis mehr.
Der Kerzenständer, der auf dem Tisch steht, brennt nun nicht mehr.
Doch auch hier ist niemand außer uns zu sehen. Es herrscht fast vollkommene Stille. Lediglich das leise Rauschen des Windes dringt in meine Ohren. Der Bretterboden knarzt bei jedem Schritt unter unseren Füßen.
Und dann höre ich ein Knarzen, das nicht von uns verursacht wird. Ich sehe in den Gesichtern der anderen dieselben Empfindungen wie auf meinem: auf der einen Seite Hoffnung, auf der anderen auch Furcht.
Als ich mich dem Geräusch zuwende, wird die Hoffnung enttäuscht, fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Es ist einer der Vampire, der immer näher kommt.
Seine Augen leuchten in einem reinen Blau, die braunen Haare umschmeicheln das Gesicht und der Umhang, der einen Kontrast zu der hellen Kleidung darunter gibt, bauscht sich im Wind auf.
Er scheint uns nicht zu sehen und läuft direkt in unsere Gruppe, kommt näher und näher. Mir stellen sich die Nackenhaare auf, denn er blickt durch uns hindurch. Ich wende den Blick ab und schaue hinter uns. Dort befindet sich das Klavier. Und genau dort scheint er hinzuwollen.
„Weißt du was hier passiert ist?", fragt Leo. Es sind die ersten Worte, die seit Langem einem von uns über die Lippen kommen.
Der Vampir ignoriert uns, als würden wir gar nicht existieren. Dann läuft er durch uns hindurch. Wie ein körperloser Geist durchschreitet er anmutig unsere Gruppe. Dabei fährt sein Umhang durch mich, er selbst läuft durch Leo und Cassy. Ich spüre einen unangenehmen Schauer über meinen Rücken laufen, das sowieso schon vorhandene Unwohlsein verstärkt sich und ich fange an zu zittern. Auch die anderen stehen da, als könnten sie nicht einordnen, was gerade passiert.
Einige Augenblicke später ist es nicht mehr so still. Der Vampir hat sich tatsächlich an das Klavier gesetzt und fängt nun an, eine Melodie zu spielen.
Sie klingt wie der Vampir, denke ich. Ein bisschen düster, altertümlich, aber auch edel und erhaben. Von den Tönen geht eine gewisse Faszination aus, die mich in ihren Bann ziehen.
Wir alle stehen einfach da und für einen Moment weiß ich nicht mehr, was passiert ist. Warum wir hier sind. Wo Louisa ist. Es gibt nur das Hier und Jetzt. Alles andere ist vollkommen unwichtig.
Nach einiger Zeit kommt es mir fast so vor, als wäre ich nicht von dieser Welt. Gleichzeitig fühlt es sich so an, als wäre ich eins mit der Welt. Eins mit allem.
Der Schrei unterbricht das schwebende Gefühl und das Spiel des Vampirs.
Mit einem Ruck komme ich wieder in der Wirklichkeit an, mit all ihren niederschmetternden Erlebnissen. Und mit mir alle anderen.
Es ist ein Schrei, in dem Verzweiflung und ein unglaublicher Schmerz liegt. Vor allem aber: Angst. Er fährt mir in die Knochen und einmal durch mein Gehirn. Der Ton überschlägt sich in meinen Ohren. Am Liebsten würde ich davonrennen. Doch ich weiß noch immer nicht, was aus Louisa geworden ist. Wir können sie nicht zurücklassen. Hier, an diesem gottverlassen Ort.
Als ich mich umdrehe, verheilen die Risse in meinem Herzen mit einem Schlag. Und sogar die Narben, die davon unter normalen Umständen zurückbleiben würden, verblassen augenblicklich.
Der Schrei von eben ist vergessen. Er klang weiter entfernt. Es war jemand Fremdes. Unwichtig.
Denn dort kommt sie, mit struppigen Haaren, hinkendem Gang und Blut in den Haaren. Doch es ist Louisa. Unverkennbar.
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