10. Suche

Maik

Als wir unter den freien Himmel treten, nehme ich einen tiefen Atemzug.

„Und jetzt los, finden wir Louisa!" Ich lief voran, obwohl ich den Weg nicht genau kenne. Ich laufe einfach los, einen Fuß vor den anderen setzend, wie ferngesteuert. Um das Haus herum, bis ich vor dem anderen Ausgang stehe. Dort, wo wir in der vorherigen Runde rausgekommen sind.

Doch diesmal steht hier niemand. Die Tür ist offen. Ohne mich groß umzusehen, steige ich ein in den Gang, der mich mit seiner Finsternis umhüllt. Es ist nur ein kurzer Weg durch die Dunkelheit, das flackernde Licht des Raumes ist bereits beim Eintreten erkennbar.

Doch ich erkenne noch etwas anderes. Dieses etwas lässt mich unvermittelt stehenbleiben und die anderen in mich hineinlaufen.

„Was ist?", wispert Isabell hinter mir.

„Riechst du das nicht?" Ich kann den belehrenden Blick von Leo förmlich vor mir sehen.

„Doch, aber was -", beginnt sie wieder.

„Blut", fahre ich ihr in den Satz und setze meinen Weg fort. Der Geruch ist unverkennbar.

Es ist nicht ihres. Kann es nicht sein. Darf es nicht sein. Das sage ich mir immer wieder. Auch als ich die roten Spuren auf dem Boden sehe.

Der Geruch füllt alles aus, setzt sich in meiner Nase fest. Die Schritte der anderen dringen in meine Ohren, bis auch sie schließlich stehenbleiben.

Hier in dem Raum ist nichts, bis auf den Blutfleck. Doch es ist nicht mehr als ein Fleck. Es sieht aus, als wäre jemand hier ausgerutscht und hingefallen. Nicht so, als wäre jemand hier verblutet.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, stellt Leo gerade dasselbe fest. Doch der Gestank kann seinen Ursprung unmöglich in diesem kleinen Fleck haben.

„Louisa?", meine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch, als ich unvermittelt aus der Starre erwache und in den anderen Raum laufe.

Hier bietet sich mit ein unglaublicher Anblick: Es sieht aus, als wäre etwas oder jemand auf dem Stuhl geschlachtet worden. Überall sind Blut, Knochenstücke und eine undefinierbare Masse verteilt. Gänsehaut breitet sich auf meinem gesamten Körper aus, läuft über meine Arme bis zu meinen Füßen. Ein Zittern setzt ein, das von meinem ganzen Körper Besitz ergreift. Es ist unmöglich, irgendetwas zu denken.

„Schau dir das an! Hier sind Fußabdrücke. Direkt an der Tür. Ich glaube, sie hat es geschafft." Cassy steht irgendwo hinter mir.

„Lass uns erstmal zu dem Erdrutsch gehen. Vielleicht sind die Spuren gar nicht von Louisa..." Isabell lässt den Satz im Nichts enden.

Für die anderen scheint das Grauen auf dem Stuhl nicht zu existieren. Sehen sie es wirklich nicht? Oder wollen sie es einfach nicht sehen?

Während sie durch die Tür in den Flur treten, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Obwohl ich vor wenigen Augenblicken, oder auch vor einigen Stunden, entwurzelt wurde. Mir ist es nicht möglich, die vergangene Zeit einzuschätzen.

Es ist auch nicht wichtig, das zu können. Es ist wichtig, Louisa zu finden. Und bis dahin muss ich einfach atmen. Gegen das Gewicht, das auf meiner Brust lastet.

Denn nun ist vielleicht das eingetroffen, was ich während unserer ganzen gemeinsamen Zeit befürchtet hatte. Dass ihr etwas zustößt.

Schlussendlich ist es egal, ob die Ursache ein Unfall war oder ob sie selbst dafür verantwortlich ist. Denn weg ist weg. Oder nicht?

Mein Blick, der bis dahin zwar auf den Boden gerichtet, aber nach innen gekehrt ist, klärt sich, als die anderen wiederkommen. Ich erkenne die Hoffnung in ihren Gesichtern. Was ich nicht alles dafür geben würde, dieses Gefühl mit ihnen teilen zu können. Doch es ist mir nicht möglich. Das Einzige, das ich fühle, ist eine Taubheit, wie ich sie nie zuvor empfunden habe und die alles einhüllt.

„Wir haben noch mehr Spuren gefunden. Es sieht aus, als hätte jemand versucht, die Erde aus dem Weg zu räumen. Ich bin mir sicher, dass es Louisa war. Und da sie nicht vorangekommen ist, ist sie den einzigen möglichen Weg gegangen. Hier durch und dann nach draußen." Cassys Stimme ist voller Überzeugung, als sie das Gesagte mit aussagekräftigen Gesten unterstreicht.

„Seht ihr das nicht?" Meine Stimme ist laut, schroff. „Wie erklärt ihr euch dann das?" Ein Finger richtet sich auf den Stuhl und auf die Pfütze, die sich darunter gesammelt hat.

„Doch. Aber was ist, wenn das alles hier immer noch inszeniert ist? Wenn nichts hiervon echt ist?", fragt Leo.

„So wird es sein. Das da ist bestimmt Schweineblut oder so. Los, sie ist sicher draußen und sucht uns." Bei den Worten ist Isabell bereits auf dem Weg nach draußen.

Mein Verstand sagt mir, dass sie Recht haben müssen. Der Erdrutsch kann ein Unfall gewesen sein, eine reale Gefahr, doch alles andere kann nichts anderes als ein gut inszeniertes Theaterstück sein. Hier wurde niemand umgebracht. Denke doch mal nach, was das für Konsequenzen für die Veranstalter nach sich ziehen würde.

Louisa steht draußen, vielleicht etwas staubig und mitgenommen, aber doch am Leben. Die Fußspuren sprechen dafür, alles andere ist Fake. Nicht echt.

Das sagt ein Teil von mir.

Der andere ist immer noch von Angst erfüllt und spürt, das etwas in die Brüche gegangen ist. Denn wieso riecht das angeblich Kunstblut so authentisch?

Spätestens als wir nach draußen kommen, merkt wohl jeder von uns, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Nachdem wir zu der Stelle gekommen sind, an der in der ersten Runde die Zombies waren, ist es Gewissheit. Etwas hat sich verändert. Und das ganz und gar nicht ins Positive.

An der Art, wie meine Freunde um mich herum erstarren, merke ich, dass sie nun die ganze Tragweite begriffen haben. So wie ich. Es fühlt sich an, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen, die ich bis eben nicht gesehen habe. Gleichzeitig werde ich unruhig und mein Bauch verknotet sich.

Vielleicht ist doch nichts Fake. Und alles echt.

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