»Partycrasher« von @26_little_letters
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3. Platz beim Halloween Vault 2022
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„Soll das dein Kostüm sein?" Ich inspiziere sein Shirt, das die alberne Aufschrift „Keine Sorge, das ist nicht mein Blut" trägt. Darunter ist ein aufgedruckter roter Fleck, der das „Blut" symbolisieren soll. In seine Augen tritt ein belustigtes Funkeln.
„Genial, oder? Und so undercover." Wider Willen muss ich grinsen.
„Da ist nichts dagegen zu sagen. Ich weiß echt nicht, warum meine Eltern mich heute nicht ausgehen lassen." Und auch wirklich nicht, warum ich es trotzdem mache. Normalerweise halte ich mich an die Regeln, aber das Ding ist, Theresas Halloweenparty ist nun mal ein Jahreshighlight, das ich nicht verpassen will. Mein Kumpel Mats wirft sich schwungvoll in den Hängesessel, der in der Mitte meines Zimmers an der Decke befestigt ist. Irgendwann bricht der Schraubdübel seinetwegen noch aus der Bohrung.
„Also, wie lange denkst du, müssen wir überbrücken, bis sie schlafen?" Ich öffne meinen Kleiderschrank, um ihn einen Blick auf mein Kostüm werfen zu lassen, das natürlich nicht nur aus einem T-Shirt besteht. Meine Definition von einem Halloween-Outfit ist da schon etwas angebrachter.
„Weiß nicht. Vielleicht bis 23 Uhr?" Er nickt. Es ist jetzt 21 Uhr und Mats hat sich gerade vom Nachbar-Balkon zu meinem herübergeschwungen, wie er es seit unserer Grundschulzeit tut. Vielleicht einer der Gründe, warum wir so eng befreundet sind. Es ist einfach genial, wenn man den anderen spontan besuchen kann, ohne eine Erlaubnis der Eltern zu benötigen, weil man das Haus nicht durch die Haustür verlässt. Natürlich war das vor allem früher ein Thema, heute haben unsere Eltern nichts dagegen, wenn wir zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten miteinander abhängen, solange wir keinen Lärm veranstalten. Deshalb kann ich ihr heutiges Ausgehverbot auch überhaupt nicht nachvollziehen. Es sieht meinen Eltern gar nicht ähnlich, mir zu einem Anlass wie Halloween das Versprechen abzunehmen, zu Hause zu bleiben. Normalerweise hätte ich als Reaktion sofort meine Pläne geändert und meine Freunde eben zu mir eingeladen, aber die Halloween-Party meiner besten Freundin Theresa, die am anderen Stadtende wohnt, ist Tradition in unserem Dorf. Deswegen haben wir auch vor, später zu Mats rüberzuklettern, dort aus dem Haus zu schlüpfen und dann heimlich hinzugehen. Die Kunst dabei? Nicht zu früh abzuhauen, da meine Mama abends vor dem Schlafengehen meist nochmal kurz in mein Zimmer schaut.
„Na, was sagst du?" Ich trete zur Seite und präsentiere ihm mein Halloween-Outfit, das zugegebenermaßen etwas gewagter ist als üblich. Es besteht aus schwarzer Spitze und wird mich zu einer umwerfenden, höchstens leicht klischeehaften, sexy Vampirbraut machen. Wenn wir heute schon etwas Verbotenes tun, kann ich schließlich auch verboten gut ausschauen. Mats macht ein anerkennendes Gesicht.
„Fehlt nur noch eine Aufschrift. Weißt du, zum Beispiel die eine von meinem grünen T-Shi-"
„Halt, ich weiß genau, welches du meinst, danke", unterbreche ich ihn hastig und spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt. Manchmal sagt er Dinge... Das T-Shirt, auf das er anspielt, kenne ich zufällig ziemlich gut, weil die Aufschrift darauf mich entrüstet hat, als er es das erste Mal anhatte und auch jetzt immer noch verlegen macht, wenn er in dem Aufzug neben mir geht. Alle von Mats geliebten Sprüche-Shirts sind frech oder anzüglich, aber auf diesem Speziellen steht „Nackt sehe ich noch besser aus".
„Ein bisschen Neon-Spray, das würde das Outfit doch nochmal aufwerten", neckt er mich weiter. Ich verdrehe die Augen.
„Im Gegensatz zu dir muss ich mich nicht per Aufschrift promoten."
„Autsch." Grinsend zieht er die Luft ein. „Aber klar, don't state the obvious." Oh mein Gott. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Er tut ja glatt so, als könnte er das beurteilen. Was definitiv nicht der Fall ist. Aber es könnte- shit, meine Gedanken triften in die völlig falsche Richtung. Mats ist kaum fünf Minuten in meinem Zimmer und ich laufe schon zum zweiten Mal knallrot an.
„Können wir vielleicht von weiteren Kostümverbesserungsideen absehen?" Ich linse durch meine gespreizten Finger und sehe erfreulicherweise, dass ihn sein Kommentar selbst ein bisschen verlegen gemacht hat, also lasse ich die Hände ganz sinken.
„Wenn ich dich dafür in Mario Cart besiegen darf..." Ohne meine Antwort abzuwarten, robbt er zu dem Fernseher, den ich seit neustem in meinem Zimmer habe, da er einem neueren Modell im Wohnzimmer Platz machen musste und stöpselt die Wii ein. Ich zucke ergeben die Schultern.
„Wenn dich das auf andere Gedanken bringt." Er zwinkert mir zu.
„Dafür erwähne ich dann auch wieder vor Tim, wie sehr du den Fernseher nutzt", sagt er mit Engelsmiene. „Deal." Mein jüngerer Bruder war tödlichst beleidigt, als ich den ausgemusterten Fernseher in meinem Zimmer aufhängen durfte, weil ich laut meiner Eltern einen vernünftigen Umgang mit Medien habe. Seitdem versucht er die Angelegenheit zu seinen Gunsten zu drehen, in dem er behauptet, dass der TV bei mir im Zimmer ungenutzt verstaubt, „weil ich immer nur lese". Ich lasse mir von Mats den Controller geben und mache es mir im Schneidersitz am Teppichboden vor meinem Bett bequem. Und wie wir ihn nutzen.
Die nächste Stunde verbringen wir damit die Autos Runde um Runde zu steuern und es macht mir tatsächlich sogar mehr Spaß als sonst, obwohl ich im Ranking immer auf den hinteren Plätzen lande. Endlich schaut um 22.30 Uhr meine Mutter zur Tür herein.
„Wir gehen schl- oh hallo Mats, ich wusste gar nicht, dass du da bist." Mats lächelt sie unschuldig an. „Hallo Anni, ja, ich bin scheinbar das Trostpflaster." Ich verschlucke mich fast an dem Schluck Wasser, den ich gerade zu mir nehme, aber beschließe dann, dass nur mein Kopf alles zweideutig interpretiert. Ich weiß auch nicht, wann das angefangen hat. Ich meine, wir reden hier von Mats.
„Eleni, ist das immer noch so ein Drama? Du warst doch letzte Woche erst aus." Der Unterton von ihr ist leicht genervt, deswegen schüttele ich schnell den Kopf.
„Quatsch, schon okay. Gute Nacht!" Sie schließt die Tür und ich boxe Mats in die Seite. „Trostpflaster?" Er zuckt die Schultern.
„Bin ich nicht?"
„Nein", sage ich knapp und scheuche ihn nach drüben. Schließlich muss ich mich jetzt in einer halben Stunde komplett fertig machen, wenn wir wie geplant um 23 Uhr loswollen. Tatsächlich zeigt der Spiegel 35 Minuten später eine düstere Vampirin. Nicht schlecht. Das Outfit kann sich definitiv sehen lassen. Zufrieden lösche ich das Licht in meinem Zimmer und klettere über die einander zugewandten Balkone im ersten Stock zu Mats Elternhaus hinüber. Seine Augen weiten sich, als er mich sieht und ein sonderbar warmes Gefühl erfüllt für einen Augenblick meine Brust. Was ist das, verdammt? Er schüttelt den Kopf, als müsste er ebenfalls einen komischen Gedanken vertreiben und räuspert sich.
„Du siehst phänomenal aus, Miss Dracula. Da fühle ich mich glatt underdressed." Ich werde nur ein klein wenig rot.
„Danke. Underdressed, du? Ich dachte, das gibt es nicht bei dir." Ich mache eine Kunstpause. „Wo du doch nackt noch besser aussiehst." Mit einem verschlagenen Grinsen kommt er näher. „Interessant. Miss Können-wir-bitte-das-Thema-wechseln bringt es von selber wieder auf." Ich schiebe ihn zur Zimmertür.
„Halt die Klappe. Das ist dein blöder Einfluss."
Mats ist immer noch amüsiert und ich immer noch verlegen, als wir auf der Straße ankommen. Gott sei Dank brennt kein Licht mehr im Schlafzimmer meiner Eltern. Ich gehe trotzdem möglichst eng an der Hausmauer vorbei, damit man mich vom Fenster aus nicht sehen kann. Sicher ist sicher.
Als wir um die Ecke unseres menschenleeren Wohnblocks auf die Hauptstraße biegen, sehen wir die erste verkleidete Person. Es ist der Statur nach zu urteilen ein Mann, der einen schwarzen Kapuzenpulli trägt und eine Sense locker über der Schulter hängen hat. Okay. Creepy. Ich rücke unauffällig etwas näher an Mats heran. Gut, dass ich nicht alleine losgezogen bin. Auch, wenn ich weiß, dass das völlig irrational ist, bin ich nachts grundsätzlich ängstlicher als tagsüber. Und Halloween ist ja nochmal eine spezielle Nacht... Wie um meine Gedanken zu bestätigen, knackt links von uns etwas im Gebüsch und ich fasse automatisch nach Mats Arm. Shit. Herzinfarkt. Er lacht nur.
„Alles gut." Die Gestalt vor uns hat sich auch nach dem Geräusch umgedreht und deshalb sieht man- Mats und ich erstarren gleichzeitig. Das Gesicht, oh mein Gott, das – kann man das Gesicht nennen?! Eine Hälfte ist skelettiert! Aber das eigentlich noch viel Gruseligere -
„Ist das dein Papa?!" Mats Stimme ist nicht so fest wie sonst. Ich taste, diesmal bewusst, nach seiner Hand und er umschließt sie ohne Kommentar mit seiner.
„Ich glaube schon", stammle ich unsicher. „Wo hat er das machen lassen, denkst du? Das sieht so echt aus." Obwohl es in der kurzen Zeit, in der wir an der frischen Luft sind, nicht kälter geworden ist, schaudert mich plötzlich. Mein Papa war immer der größte Halloween-Muffel überhaupt. Kam den ganzen Abend nicht aus dem Zimmer. Wollte nichts mit dem „amerikanischen Schmarrn" zu tun haben und beschwerte sich über jegliche Dekoration. Und jetzt ist er sogar verkleidet auf den Straßen unterwegs? Irgendetwas schreit da zum Himmel.
„Keine Ahnung. Komm, wir folgen ihm." Mats, der sich schneller gefangen hat als ich, zieht mich energisch an der Hand. Die Straße ist wie ausgestorben, da wir im Industrieviertel wohnen und mein Vater ist nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in der Ferne. Scheinbar hat er uns beim Umschauen nicht erkannt. Vermutlich schwer, wenn eine Gesichtshälfte skelettiert ist. Ich versuche meine Atmung zu beruhigen. Das ist nicht echt. Du hast zu viele Fantasy-Filme gesehen. Aber er muss echt nichts sehen können auf der linken Seite, denn dort verdeckt eine gruselige knöcherne Augenhöhle sein braunes Auge, das habe ich selbst auf die Distanz gesehen.
„Eleni, komm schon, wir verlieren ihn!" Mats zerrt mich weiter und ich versuche in meinen schwarzen Plateau-Sandalen stolpernd mit ihm Schritt zu halten. Am liebsten würde ich jetzt wieder in meinem Zimmer sitzen und bei Mario Kart verlieren. Es muss einen Grund gegeben haben, warum meine Eltern mich davor gewarnt haben, heute auszugehen. Zum Beispiel, der, dass sie Angst hatten, ich könnte meinem kostümierten Vater begegnen...
„Das ist doch der Weg zu Theresa, oder?" Ich richte meine Aufmerksamkeit auf den Straßenzug, in dem wir uns mittlerweile befinden. Ich habe ganz vergessen, dass Mats erst einmal bei Theresa war.
„Ja. Da vorne nur noch links, dann sind wir da." Halt. Mein Papa biegt ebenfalls dorthin ab! Wir beschleunigen unsere Schritte und tatsächlich sehen wir gerade noch, wie er seitlich an Theresas Haus vorbei im Garten verschwindet. Dort, wo die Halloween-Party rund um das Gartenhaus ihrer Eltern stattfindet.
„Denkst du, er will kontrollieren, ob ich heimlich hingegangen bin?" Mats schaut mich zweifelnd an.
„Das wäre schon echt extrem, so etwas macht er doch sonst nie." Stimmt. Aber neuerdings trägt er auch ein Halloween-Kostüm. Und irgendeinen plausiblen Grund muss das Ganze ja haben.
„Lass uns rein und beobachten, was er macht." Wir betreten ebenfalls das Grundstück und Mats lässt meine Hand los. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass wir uns die ganze Zeit an den Händen gehalten haben. Verlegen versenke ich die Hände in meiner Jackentasche.
Die Bäume in Theresas Vorgarten sind mit weißen Fäden behängt, die wie riesige Spinnennetze wirken und der Plattenweg nach hinten wird von Kürbissen flankiert, in die gruselige Fratzen geschnitzt sind, sodass das Licht der Teelichter im Inneren flackernd nach außen tritt. Die Party ist schon in vollem Gang, als wir um die Hausecke treten. Als Tanzfläche dient der trocken gelegte Pool und die Beleuchtung an den Seitenwänden, die normalerweise unter Wasser in hübschen Farben leuchtet, verbreitet romantische Atmosphäre. Es läuft gerade „Somebody's watching me" in der Playlist und die anderen Gäste gehen voll ab zur Musik, während Mats und ich uns etwas überfordert umsehen. Vor dem Gartenhaus, an dessen Tür Schilder mit „Buffet" und „WC" hängen, steht ebenfalls eine beachtliche Zahl an Mädels und Jungs in Kostüm vor kleinen Heiz-Öfen, die die kalte Oktoberluft zurückdrängen sollen. Von meinem Papa ist keine Spur. Erleichtert, dass wir uns unbemerkt unter die Menge mischen können, steuere ich ein Grüppchen an Mädels aus meinem Jahrgang an und sage „Hi". Den Blicken nach zu urteilen, die sie sich untereinander zuwerfen, ist mein Papa schon aufgefallen unter all den Jugendlichen. Meine Erleichterung verflüchtigt sich.
„Na toll, jetzt denken alle, ich hab meinen Vater mitgebracht", murmele ich peinlich berührt, aber Mats hört mich nicht, weil er schon ein ganzes Stück weiter ist und sich mit Fußballkumpels unterhält. Ich beschließe, mich alleine auf die Suche nach dem schwarzen Hoodie zu machen. Idealerweise kann ich ihn in Ruhe zur Rede stellen und sichergehen, dass sich die ganze Angelegenheit in Wohlgefallen auflöst. Zumindest die Sense sollte ja aus der Menge herausstechen. Ich scanne meine Umgebung, aber hier ist eindeutig keiner als der Tod verkleidet. Viele der Jungs sind ähnlich leger unterwegs wie Mats und haben höchstens ein thematisches Accessoire am Körper, während die Mädchen fast alle in ausgeklügelten Kostümen unterwegs sind, die die perfekte Mischung aus gruselig und sexy darstellen. Neben mir unterhalten sich eine Skelettlady, - der Bodysuit ist hauteng und überlässt nicht viel der Fantasie - und eine Hexe. Etliche Mädels tragen auch knappe Schuluniform und mimen Zauberschülerinnen aus den Harry Potter Filmen. Besonders gelungen finde ich das Fledermauskostüm eines Mädchens, das ich flüchtig aus der Schule kenne. Die Öhrchen auf ihrem Kopf und die samtigen Flügel sind mit ihrem Oberteil, einem schwarzen Pullover, verknüpft. Es sieht süß und sehr bequem aus. Definitiv eine Idee für nächstes Jahr. Ich betrete das Gartenhaus und bin echt überrascht, wie viele Gäste Theresa eingeladen hat. Auch dort ist es brechend voll und es herrscht schon ordentlich Stimmung. Mehr als einmal stolpern betrunkene Kerle gegen mich. Wo ist mein Papa bloß? Ich schiebe die Typen alle weg und schaue mich weiter im Raum um, bis einer zu unverschämt wird. Natürlich trägt er ein Graf-Dracula-Kostüm und geht daher automatisch davon aus, dass ich interessiert an „Vampirküssen" am Hals bin. Schocker, ich bin es nicht.
„Sag mal, geht's noch?!" Ich dirigiere seinen Kopf weg von meinem Hals. Statt mich schuldbewusst anzusehen, grinst der Kerl mir ins Gesicht und tauscht über die Schulter ein paar obszöne Kommentare mit seinen Kumpels aus. Charmant.
„Beißen und gebissen werden", verkündet er dann schulterzuckend, worauf ich ihm am liebsten einen Hund auf den Hals gehetzt hätte, der ihn wirklich beißt.
„Sei froh, dass du schon untot bist", knirsche ich mit den Zähnen und wende mich ab. Ich habe es erst halb durch den Innenraum des Gartenhäuschens geschafft, als ich über den nächsten Dracula stolpere. Spätestens als der ebenfalls ohne zu fragen auf Tuchfühlung geht, bereue ich mein Kostüm.
„Wo kommst du denn her? Neandertal?", keife ich jetzt echt auf hundertachtzig. „Steht hier irgendwo Miss Dracula sucht ihn für bissige Stunden?!" Ich beschreibe mit der Handfläche einen Kreis um meine Gesichts- und Halsgegend. Das kann doch nicht der Ernst der heutigen Männergeneration sein. „Sorry, der hatte schon ein bisschen viel Alk." Ein anderer Typ zieht den aufdringlichen Kerl, der meine Schimpftirade mit weggetretener Miene angehört hat, weg. Ich verdrehe die Augen. Betrunkene Dracula-Lippen - noch besser. Ich reibe mir angeekelt über den Hals und verlasse dabei wieder das Gartenhaus. Hätte ich im nächsten Augenblick nicht einen überraschten Aufschrei gehört, wäre ich auf jeden Fall meinen Hals waschen gegangen. So folge ich stattdessen der Stimme, die eindeutig Theresa gehört. Wenigstens kurz Hallo sagen, bevor ich mit meinem Papa vermutlich auf dem Heimweg bin. Sie steht vor den Dixi-Klos, die ihre Eltern extra für die Party bei einem Bauunternehmen gemietet haben – neben meinem Vater! Mein Adrenalinspiegel schnellt nach oben.
„Au, verflucht! Wie spitz ist die denn?!" Es dauert einen Moment, bis sie meinen Vater erkennt. „Herr Lermer, oh mein Gott, haben Sie mich erschreckt! Diese Sense ist ja gemeingefährlich. Was machen Sie denn hier?" Theresa wirft einen etwas angespannten Blick über die Schulter und sieht mich prompt neben dem Wacholderbusch, den ich als Versteck zum Beobachten der Szene nutzen wollte. „Eleni, hi, hast du deinen Vater mitgebracht?" Ich will einen Schritt zurücktreten, aber es ist zu spät. Der Kopf meines Papas schießt hoch und dem Ausdruck seiner normalen Gesichtshälfte nach zu schließen, ist er nicht begeistert davon, mich zu sehen.
„Nein, ähm-" Eine Hand legt sich auf meinen unteren Rücken und ich zucke zusammen.
„Da bist du, ich dachte schon einer der Draculas hat dich entführt." Erst jetzt kapiert Mats, in welche Situation er geplatzt ist. „Anton, oh, hallo. Ich bin etwas betrunken und habe Eleni deshalb gebeten, mich abzuholen. Sie ist nur mir zu liebe außer Haus", fügt er eilig an. Theresa, die nichts von meinem heutigen Ausgehverbot weiß, schaut irritiert zwischen uns allen hin und her, während ich ein bisschen gerührt bin, dass Mats versucht eine Ausrede für mich zu erfinden. Auch wenn es nicht besonders glaubwürdig wirkt, eine nette Geste ist es auf jeden Fall.
„Ja, ähm, naja... Entschuldige Theresa, kann ich schnell mit meinem Papa reden?" Sie nickt, während sie mir mit den Augen signalisiert, dass ich ihr später definitiv den Grund seiner Anwesenheit auf ihrer Party erklären muss. Auf den Grund, bin ich selbst gespannt, keine Sorge.
„Was machst du hier?!", platzt es aus mir heraus, als Theresa außer Hörweite ist. „Und was ist das für ein Kostüm?" Mein Papa schüttelt abwehrend den Kopf und macht Anstalten zu gehen. Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Ich erwische ihn am Ärmel und halte ihn fest. Durch den Stoff dringt eine unnatürliche Kälte, bei der mir ganz anders wird. Hastig lasse ich den Pullover los.
„Sag mir sofort, was hier vor sich geht!" Meine Stimme ist eine Oktave höher als normal. Für einen winzigen Augenblick tritt ein Anflug von Bedauern in sein erkennbares Auge, aber dann gestikuliert er in Richtung Mund und Hals und schüttelt nochmal energischer den Kopf. Wieder wendet er sich zum Gehen. Ich eile ihm hinterher. Hat seine Anwesenheit hier also wirklich nichts mit mir zu tun? Aber was könnte es dann sein?
„Ist irgendwas mit deiner Stimme? Bist du heiser?", rät Mats ins Blaue. Stimmt, ich hab ja Unterstützung. Mein Papa stockt in der Bewegung. Er steht jetzt zwischen uns, weil ich ihn überholt habe und Mats immer noch hinter ihm ist. Seine Schultern sinken herab.
„Nicht heiser", murmelt er und ich zucke entsetzt zusammen. Das ist nicht seine Stimme! Die zwei Worte klingen wie ein Grollen, kaum menschlich. Nicht nur sein Gesicht ist halbseitig skelettiert, auch seine Stimme ist verändert! Ich schnappe nach Luft. Bleib rational, Eleni.
„Das ist nicht lustig! Wo hast du den Stimmenverzerrer?", presse ich hervor. Mats ist die Kinnlade nach unten gefallen. Wieder schüttelt mein Vater den Kopf. Will er es uns nicht sagen oder-
„Ddas ist echt?" Ich habe Mats noch nie so zaghaft erlebt. Mein Vater nickt und mir läuft ein Schauer den Rücken hinab. Auch wenn mein Gehirn noch hinterher ist, gibt es irgendeinen Teil in mir, der spürt, dass er die Wahrheit sagt. Plötzlich strafft mein Papa die Schultern und sein gruseliges Gesicht wird streng.
„Ihr geht jetzt auf direktem Weg heim." Mats und ich wechseln einen Blick. Ich spüre, dass er seiner Aufforderung am liebsten Folge leisten würde. Mir geht es genauso. Trotzdem schütteln wir unisono den Kopf. Die seltsamen Vorgänge würden uns sowieso keine Ruhe lassen.
„Nicht, bevor du uns nicht erklärt hast, was du hier machst und was das Kostüm soll!" Ich schaffe es, energischer zu klingen, als ich mich fühle. Das Gelächter, das von der Party zu uns herüberdringt, bildet einen absurden Soundtrack zu dem, was sich gerade vor Mats und meinen Augen abspielt.
„Das lohnt sich nicht. Ihr werdet es morgen sowieso vergessen haben. Kein Mensch darf eingeweiht sein." Ich komme noch immer nicht über seine grabestiefe, kratzige Stimme hinweg. Außerdem geben seine Worte keinen Sinn.
„Erklär es uns trotzdem." Mats scheint das rationale Denken bereits aufgegeben zu haben. Er mustert mich besorgt. Ich glaube, ich atme zu hektisch und geräuschvoll. Überraschenderweise resigniert mein Vater.
„Halloween ist der Tag der Todesmarkierung. Wir kennzeichnen die Menschen, die im nächsten Jahr sterben sollen durch eine Berührung mit der Sense. Ich bin im Auftrag der Todesfee Banshee unterwegs." Mats und ich starren ihn an. Wie bitte?!
„Bist du auf Drogen?" Ich habe noch nie so respektlos mit meinem Vater geredet, aber ich habe ihn auch noch nie so befremdlich erlebt. Er legt sich die Sense, auf die er sich während unserem Gespräch gestützt hat, über die Schultern. Er ist völlig ungerührt. Als würde er nicht wahrnehmen, wie sehr uns seine Worte aus der Bahn werfen.
„Ich sage es nicht nochmal, Mats und Eleni, ihr geht jetzt sofort heim." Bevor wir reagieren können, ist er vorbei an den Dixi-Klos in der feiernden Menge Jugendlicher verschwunden. Ich fühle mich wackelig auf den Füßen. Mats schließt zu mir auf und legt fürsorglich einen Arm um mich.
„Hey, lass uns einfach mal tief durchatmen." Eine gefühlte Ewigkeit mache ich genau das. Atme ein und aus, während die Gedanken in meinem Kopf sich überschlagen. Als ich den Kopf hebe, sehe ich, dass Mats am Handy ist. Wie kann er jetzt nicht ausflippen?! Ich glaube ich hyperventiliere gerade. Tag der Todesmarkierung?! Todesfee?! Bin ich in eine Parallelwelt gestolpert?
„Da gibt es echt einen Treffer!" Mats hält mir aufgeregt sein Smartphone hin, in dessen Suchmaschine er „Todesfee" eingetippt hat. Ich überfliege die Seite.
Die Todesfee ist eine Fabelgestalt, ein mystisches Wesen, welches den Tod vorhersagt oder sogar den Tod bringen kann. Die irisch gälische Banshee ist z.B. eine Frau aus dem Feenreich, eine Geisterfrau.
... In vielen Kulturen gibt es das Konzept der Todesfee. Die Todesfee ist eine grausige Erscheinung. Sie ist ein Inbegriff des Schreckens.
Krass. „Okay, was machen wir jetzt?" Mats ist noch immer in das Suchergebnis auf seinem Handy vertieft, als mir Theresas Schrei einfällt. Das kann nicht wahr sein. Ich schlage mir die Hände vor den Mund. Das kann einfach nicht wahr sein.
„Er h..hat..t-", mir versagt die Stimme. Er hat Theresa markiert. Er hat das Todesurteil über sie verhängt!
„Was? Was hast du?!" Mats sucht meinen Blick.
„T...Theresa", stottere ich. „D...die S...sense! N...nächstes Jahr." Obwohl er es nicht unmittelbar mitbekommen hat, versteht Mats schnell, was mir gerade klargeworden ist.
„Scheiße! Wir müssen ihn aufhalten. Hier sind doch alle viel zu jung!" Wir rennen los in die Richtung, in der er verschwunden ist. Mir steckt ein Kloß im Hals, als wir an der ahnungslosen Theresa vorbeihetzen. Woran sie wohl sterben wird? Moment, glaube ich diese absurde Geschichte etwa tatsächlich?!
Die anderen Partygäste reagieren genervt, als wir uns durch die Menge drängen. Gott sei Dank finden wir meinen Vater schnell. Er ist fast am Gartenende angelangt und nähert sich einer Gruppe grölender Jungs, die als Zombies verkleidet sind.
„He!", schreie ich schon aus der Entfernung. Ich habe panische Angst, Zeuge zu werden, wie mein Papa noch jemanden mit der Sense berührt. Der hat uns mit einem schnellen Blick über die Schulter wahrgenommen, aber hält weiter auf sein Ziel zu. Gott sei Dank hat Mats eine brillante Idee.
„Hey, Jungs, ihr werdet für ein Bierpong-Spiel gesucht. Ab ins Gartenhaus mit euch!" Glücklicherweise trifft das genau den Nerv der Gruppe und sie ziehen ohne Verwunderung im letzten Moment ab. Mein Vater lehnt die Sense an den Gartenzaun und fährt zu uns herum.
„Was soll das? Ihr seid noch immer hier?!", grollt er.
„Wir bleiben solange, bis du mit uns nach Hause kommst." Ich trete näher an ihn heran. Ich werde außerdem jetzt aufdecken, dass er eine Maske trägt. Dass es nur ein Kostüm ist. Als ich kurz davor bin, seine skelettierte Gesichtshälfte mit den Fingern zu berühren, weicht er zurück und stößt gegen den Gartenzaun.
Oh nein! Ich glaube Mats und mir dämmert im selben Moment, dass die Sense durch den Ruck gegen den Zaun umfällt und jemanden treffen wird. Ich will ihn wegreißen, er mich aus der Gefahrenzone schubsen. Verflucht, sie darf ihn nicht berühren! Wir kommen ins Taumeln und fallen übereinander zu Boden. Wären wir in einem Action-Film würde Mats uns im Fallen so drehen, dass er unter mir liegt und unseren Sturz abfängt. Im echten Leben fällt er unelegant mit vollem Gewicht auf mich, so dass es mir regelrecht die Luft aus dem Brustkorb quetscht.
„Oh mein Gott", röchele ich. Mats ist peinlich berührt.
„Sorry!", er will sich rasch hochstemmen, rutscht aber mit der Hand im feuchten Herbstlaub ab, das den Grasboden fast völlig bedeckt. Unsere Oberkörper prallen erneut hart aufeinander.
„Na das nenne ich mal eine heldenhafte Rettung", nörgele ich mit gepresster Stimme scherzhaft. In Wahrheit ist meine Erleichterung riesig, dass die Sense niemanden berührt hat. Mats liegt dennoch verdammt schwer auf mir. Als wäre er ein Muskelberg und nicht der schlaksige Nachbarsjunge, den ich schon mein Leben lang kenne.
„Tod durch Sense, das kann ja jeder", witzelt er, während er sein Gewicht erneut auf seine Hände verlagert, damit ich unter ihm nicht endgültig zerquetscht werde. „Von Freund zermalmt ist da doch schon wesentlich origineller." Ich atme ein, was deutlich leichter ist als noch vor 30 Sekunden. Puhh...
„Naja, ich weiß nicht." Ich versuche meine Gedanken von dem einen Wort loszueisen, an denen sie sich festgehangen haben. Freund. Im Moment haben wir echt andere Sorgen.
„Du siehst übrigens aus wie eine gestrandete Robbe", sagt er auf einmal völlig unvermittelt. Unsere Blicke treffen sich, sein Gesicht schwebt nur Zentimeter über meinem. Okay, er ist definitiv der König der unpassendsten Sätze in ernsten Situationen.
„Robbe?!", ächze ich empört, "Das Walross bist ja wohl du, Mr. Ungelenk!" Er lächelt mich an.
„Eine sexy gestrandete Robbe." Wie bitte? Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
„Nur ich hab hier ein Recht auf Schädel-Hirn-Trauma und Verwirrung, klar?!" Sein Lächeln wird breiter und in seinen Augen steht eine solche Wärme, dass meine Erbostheit in etwas anderes umschlägt. Er zieht mich nur auf. Er ist genauso erleichtert wie ich. Es fällt mir jetzt erst so richtig auf, dass Mats und ich uns näher sind als je zuvor und dass meinen Körper das eindeutig nicht kalt lässt. Halleluja. Seine Beine sind verheddert mit meinen, unsere Bäuche liegen aneinander und jedes Mal wenn er atmet, spüre ich es federleicht auf meinem Gesicht, was seltsamerweise nicht unangenehm ist, sondern sich wie eine besonders sanfte Berührung anfühlt. Auch wenn mein Puls so laut an meinem Hals pocht, als würde mein Herz mir gleich dort aus der Haut springen, fühlt sich die Nähe zu Mats gleichzeitig vertraut an. So natürlich wie unsere Kabbeleien.
Diesmal ignoriert Mats meinen scherzhaften Kommentar. Normalerweise steigt er sofort auf jegliches Geplänkel ein, aber gerade betrachtet er mich so ernsthaft, dass die Intensität fast greifbar ist. Ich winde mich innerlich. Was passiert hier gerade zwischen uns?
„Du strahlt voll die Hitze ab", flüstert er lächelnd, „wie so ein kleiner Heizofen." Die Party und die ganzen Leute, die auf der anderen Seite vom Gartenhaus feiern, sind völlig in den Hintergrund gerückt. Meine Wangen sind tatsächlich erhitzt vom beißenden Oktoberwind und der Aufregung um meinen Papa. Mist. Mein Vater. Das ist das richtige Stichwort. Wir sollten die Lage im Blick behalten!
Nachdem ich rasch die Umgebung gescannt hab, wird mir eins schnell klar.
„Wir haben meinen Papa schon wieder verloren!" Ich mache Anstalten mich aufzurichten. Zwar glaube ich aus den Augenwinkeln gesehen zu haben, dass die Sense mit sicherem Abstand zu uns ins Gras gefallen ist, aber er könnte sie aufgehoben haben, als wir durch den Sturz abgelenkt waren. Mats harrt immer noch in Liegestützposition über mir aus, weswegen mir schnell klar wird, dass ich mich nicht aufsetzen kann. Ich lasse mich zurück auf meinen ramponierten Rücken sinken und will mich gerade beschweren, als er einfach so und ohne Vorwarnung die Arme beugt...und mich küsst. Nach all den Jahren heimlicher Schwärmerei küsst er mich, als wäre es schon immer klar gewesen, dass wir hier enden. Und für einen winzigen Augenblick ist es mir egal, ob die Sense von meinem Vater gerade über jemandem schwebt oder nicht.
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