II
»Tom! Ich will da nicht rüber! Wenn da so viele Kinder bis jetzt reingegangen sind, heißt das, dass da drin viele Kinder sind. Viele Kinder. Ich bin schon mit einem, und zwar dir, vollkommen überfordert. Ich hasse Kinder!« Tom weicht dem Kürbismatsch aus, den ich auf ihn werfe.
Dann greift er sich den großen Beutel randgefüllt mit Süßigkeiten und läuft zur Tür. »Ich gehe. Egal, ob du mitkommst oder nicht. Die sollen uns noch ein paar Kinder übrig lassen.«
Und dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Bockig verschränke ich die Arme und kaue auf meiner Lippe rum. Dann stapfe ich zur Bluetoothbox, pausiere Beethoven und will nach meinem Handy greifen, als ich plötzlich etwas Neues höre. Schrill und hoch - zu hoch. Und trotzdem lässt es meinen Blick glasig werden und jagt mir eine feine Gänsehaut über die Arme. Es ist ein weicher Klang. So unendlich weich. So, als müsste ich mich hinlegen, in irgendein weiches Bett ...
Verstört von meinen eigenen Gedanken schüttele ich den Kopf. Ich mag weiche Betten nicht. Und ich mag keine weichen Klänge. Schnell drücke ich wieder auf Play. Mein Blick klart auf und dann beobachte ich erneut das schwarze Haus. Ist dieser Klang von dort gekommen? Was waren das für Geräusche? Und warum verdammt nochmal höre ich gerade freiwillig Beethoven an?!
Mit der Bluetoothbox und Toms Handy bewaffnet trete ich ein paar Sekunden später aus der Tür in die kalte Luft, in der die wunderbar gruselige Atmosphäre von Halloween liegt. Feuchtes, buntes Laub bedeckt den Boden, blutrote Farbe mischt sich in das blau-lila des Abenddämmerns und außerhalb des Lichtes der Laternen lungern schaurige Schatten. Omas Gartenzwerge habe ich künstlerisch verschönert, das heißt, sie mit roter Farbe zu Zombies gemacht. Das Einzige, das diese Stimmung zerstört, ist das Klassikgenudel aus meinem Jutebeutel, welches ich gerade mehr oder weniger freiwillig angelassen habe, und der Fakt, dass ich gleich einem Haufen kleiner Kinder begegnen werde.
»Hey«, beschwert sich das Phantom hinter mir. »Warum hast du die Musik mitgenommen? Jetzt konnte ich dich gar nicht erschrecken!«
»Pech gehabt. Stellt sich nämlich heraus, dass Beethoven doch für eine Sache gut ist, und zwar, um mit den Klängen, die aus dem Haus dringen zu interferieren.«
»Aha. Klänge aus dem Haus. Also ich hab keine Interfee-Dingsbums gehört.« Das Phantom schwebt neben mir auf das Nachbarshaus zu. »Und eine Bitte: Brüll die Kinder nicht an. Das verschreckt sie.«
»Ich dachte, dass ist der Sinn von Halloween.«
»Nein, wir wollen sie erschrecken.«
Wenig später drücken wir auf die Klingel. Das Phantom neben mir wippt aufgeregt auf seinem Schattenmantelsaum. Die Musik habe ich jetzt ausgemacht und höre wieder das hohe Schrillen durchdringen. Sofort fühle ich mich schrecklich entspannt, so als würde sich gerade die Monate alte Verspannung in meinem Rücken lösen.
Die Tür wird schwungvoll aufgerissen und ich blicke in das Gesicht einer jungen Frau. Sie kommt mir bekannt vor-
Mein Gedankengang wird unterbrochen, als sie die Tür sofort wieder zuschmeißt. Ohne ein Wort schaue ich meinen besten Kumpel verwirrt an. Ich glaube, er ist auch perplex, aber so genau kann ich das in dem dunklen Schatten nicht erkennen.
Er klingelt nochmal. Langsam öffnet sich die Tür und der Kopf der Frau erscheint erneut.
»Bitte lass uns rein!«, ruft das Phantom, bevor sie die Tür wieder schließen kann.
»Ihr seht mir aber nicht wie Kinder aus«, antwortet sie und mustert mich mit einem nachdenklichen Blick.
»Er ist.« Ich deute mit dem Daumen auf Tom.
»Er isst?«, hallt eine dunkle Stimme aus dem Inneren. »Dann kommt doch rein! Wir essen gleich!«
Das Phantom macht neben mir einen kleinen Luftsprung. Widerwillig folge ich ihm in das pechschwarze Haus. Komischerweise scheint die Frau genauso wenig begeistert zu sein.
Sofort schlägt mir das helle Tönen lauter entgegen und vor Entspannung hätte ich mich beinahe auf dem Boden zusammengerollt. Benommen schüttele ich den Kopf und fokussiere mich auf das um mich herum. Weiße Zuckerwatte hängt wie Spinnweben von der Decke, blutige Handabdrücke verzieren die Wände. Ich fühle mich fast zu wohl. Immer wieder spüre ich, dass der Blick der Frau auf mir ruht, aber ich versuche es zu ignorieren.
Sie öffnet uns die Tür zu einem großen Zimmer. Spielzeuge liegen im ganzen Zimmer verteilt, Bonbons sind auf großen Schüsseln auf dem Tisch aufgestellt und ein leckerer Duft nach gerösteten Kartoffeln liegt in der Luft. Und an dem Tisch sitzen die Kinder. Es sind mindestens zehn. Mir wird sofort schlecht.
Allerdings nicht, weil es Kinder sind, sondern der Fakt, dass sie beinahe regungslos da sitzen. Dass sie nicht laut sind und dass sie mir nicht das Gefühl geben, sie gleich schlagen zu müssen, damit sie leise werden. Es ist still. Als hätte jemand ein Foto gemacht und ich würde auf dieses Foto starren.
»Hallo!«, ruft das Phantom freudig und wirft eine Handvoll Gummibärchen in die Luft. »Tom das Phantom ist da! Für ganz viel Süßes und Saures könnt ihr einfach drüben bei Elvira und mir vorbeikommen!«
Habe ich es mir nur eingebildet, oder hat die Frau bei meinem Namen gekeucht? Bestimmt habe ich es mir eingebildet.
»Setzt euch«, dröhnt die tiefe Stimme vom Tischende zu uns. Jetzt erkenn ich auch den Ursprung dieser Stimme. Mein Herz setzt einen kleinen Schlag aus, aber ich lasse mir nach Außen hin keine Regung anmerken. Es ist eine riesige Spinne, bestimmt zwei Meter breit, die ich als Dekoration abgetan hatte. Mein Blick fixiert das Rieseninsekt. Ich stehe wie angewurzelt da, weil ich plötzlich verstehe, was hier los ist. Und das ist gar nicht gut. Ganz und gar nicht.
»Warum setzen sie sich nicht?«, fragt die Spinne (oder besser gesagt der Spinner?). Das hohe Surren wird lauter und ich muss dem Drang widerstehen, mir die Ohren zuzuhalten.
»Setzt euch hin!«
Das Phantom legt den Kopf schief. »Wir wollen uns aber nicht hinsetzen. Wir wollten euch eigentlich nur fragen, ob ihr auch ein paar Kinder zu uns rüberschicken könntet.«
Perplex schaut der Spinner uns an. »Das ist mir ja noch nie untergekommen.«
Die Frau schreitet nach vorne und räuspert sich. Wir tauschen einen bösen Blick aus und sie wirft die Haare nach hinten.
»Darf ich vorstellen?«, sagt sie und deutet auf Tom und mich. »Das sind meine ... reizende Cousine Elvira, du hast sie vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen, und ihr Begleiter, das Phantom.«
»Elvira?«, fragt der Spinner. »Du bist Elvira?«
»Justin?«, frage ich verwirrt. »Bei Dracula, Justin?«
Jetzt lacht der Spinner. »Du bist es wirklich! Schön dich zu sehen.« Er tippelt mit seinen acht Beinen auf mich zu und ich versuche keine Miene zu verziehen.
»Und du bist groß geworden«, antworte ich und schlucke. Ich mag Spinnen und ich habe Justin immer gemocht. Aber damals hatte er noch die Größe einer Vogelspinne. Meine verschrobene Cousine Lilith scheint die Monströsität allerdings nicht zu stören. Sie kichert nur. Natürlich findet sie es amüsant, dass die furchtlose Elvira ziemlich beeindruckt von der Riesenspinne ist.
Justin legt zwei haarige Beine um mich und ich umarme ihn zurück. Igitt, igitt, igitt. Bloß den acht Augen nicht zu nahe kommen. Elvira, reiß dich zusammen.
Endlich ist die Umarmung vorbei.
»Und? Isst du immer noch gerne Kellerasseln?«, frage ich ihn. Er grinst, offensichtlich freut er sich darüber, dass ich mich daran erinnere.
»Ja. Aber ich esse noch lieber Kartoffelpuffer oder Kinder. Die gibt es gleich.« Ich hoffe, dass das auf die Kartoffelpuffer und nicht auf die Kinder bezogen ist.
Justin krabbelt wieder zurück an das Kopfende und ich bin froh über den Abstand zwischen uns. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass die Zuckerwattenspinnweben ziemlich wenig mit Zuckerwatte und viel mehr was mit Justin zu tun haben.
»Na los, setzt euch doch bitte an den Tisch!«
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