II
»Soll das ein schlechter Scherz sein?«, fragt mich der Beamte zehn Minuten später. Verwirrt blicke ich ihn an.
»Warum?«
»Wir haben in der von ihnen genannten Wohnung zwar auch laute Musik vorgefunden, aber vor allem einen toten Nachbarn.«
»Seltsam.« Ich stehe auf ohne eine Miene zu verziehen und gehe an ihm vorbei. Pennywise folgt mir, aber ich scheuche sie mit dem Fuß wieder in unsere kleine Wohnung. Sie faucht beleidigt.
»Haben Sie sich nicht getraut, die Polizei einfach zu rufen?«, fragt der Polizist jetzt. »Haben Sie womöglich die Musik selbst angemacht?«
Ich betrete jetzt die unangenehm helle Wohnung meines Nachbarn. Sofort sticht mir der unangenehme Geruch in die Nase und dann sehe ich einen jungen Mann mit Brille in einer dunkelroten Blutlache liegen. In seinem Herz steckt ein silbernes Messer. Brutal. Stilvoll.
»Seltsam«, murmele ich wieder. Als ich gerade eben durch das Fenster reingeschaut hatte, hat er noch nicht dort gelegen. Oder etwa doch? War da nicht auch schon etwas rotes auf dem Boden gewesen?
»Er hat einen Zettel in der Hand!«, ruft jetzt eine Polizistin, die neben dem Toten gekniet hat. Interessiert trete ich näher. Doch als die Polizistin mich sieht, rutscht sie ein bisschen weg.
»Es ... es steht Ihr Name drauf. Elvira Addams. Mit Ihrer Adresse. Das sind Sie doch, oder?«
Ich nicke und beuge mich vor, und lese den Zettel selbst nochmal durch. Mein Nachbar scheint doch nicht so übel zu sein. Ich muss ehrlich sein - diese Situation gefällt mir mehr und mehr.
Plötzlich ertönt hinter mir ein erstickter Schrei. »Verdammt nochmal!«
Ich drehe mich um und mein Blick folgt dem des Polizisten. Die Gummispinne.
»Hier hinten ist noch etwas!«, ruft der erste Kollege. »Es ist eine Spielzeugspinne.«
Gespannt richte ich mich auf und verschränke die Arme und warte darauf, dass er den Zettel entdeckt.
»Das soll dir eine Lehre sein, nie wieder dieses Klassikgenudel anzuhören. -E«
Mit diesem Satz habe ich plötzlich die vollständige Aufmerksamkeit auf mir. Fragende Blicke durchbohren mich, aber ich habe schon etwas anderes entdeckt.
»Ist das Ihre Art von Humor?«, fragt mich der Polizist entgeistert und er scheint die rote Farbe an meiner Hose zu fixieren. Ich verdrehe die Augen. »Denkt ihr wirklich, dass ich die Polizei rufen würde, wenn ich jemanden in der Nachbarwohnung umgebracht habe? Und dass ich meine Spinne Alfred ins Fenster gehängt hätte? Mit einer Nachricht darauf? Wenn Sie einen Beweis haben wollen - ich habe gemalt. Die Farbe sollte noch feucht sein.«
Mittlerweile scheint ein Mediziner eingetroffen zu sein und der untersucht die Leiche. »Er ist schon eine Weile tot«, sagt er. Ein anderer Mann begibt sich in meine Wohnung. Ich sehe allerdings immer noch einen Gegenstand in der Ecke von der Küche. Als ich einen Schritt in die Richtung mache, will mich die Polizistin aufhalten.
»Was wird das?«, frage ich sie. »Noch habt ihr keinen Haftbefehl gegen mich.«
»Das hier ist ein Tatort.« Mit diesen Worten scheucht sie mich aus der Wohnung.
Meine leeren Augen starren an die Decke. Selbst das mit roter Farbe dekorierte Sternbild kann mich nicht beruhigen. Angespannt wälze ich mich hin und her und knautsche meinen Plüschdrakula. Es darf doch nicht wahr sein!
Wieder scanne ich den ganzen Raum ab. Aber meine Katze Pennywise bleibt verschwunden. Als ich gestern endlich wieder in mein Zimmer durfte, war sie unauffindbar gewesen. Was mich nicht gewundert hatte, denn schließlich ist die halbe Polizei einmal durch meine Wohnung getrampelt und hat es sogar gewagt, mein aktuelles Projekt mitzunehmen. Dabei hatte ich die Schnittwunde so gut hinbekommen.
Ich bin mir sicher, dass das, was ich gestern in der Nachbarwohnung gesehen habe, kein Zufall sein kann. Es muss mit Pennywises Verschwinden zusammenhängen.
Als ich Geräusche vor der Tür höre, bin ich hellwach. Blitzschnell ziehe ich mir Socken und Mantel an und husche auf den Balkon. Und dann scheint jemand sämtliche Aggressionen an meiner armen Tür auszulassen.
»Elvira Addams, öffnen Sie die Tür. Sie sind wegen Mordes verhaftet«, dröhnt eine Stimme durch sie hindurch.
Es ist so früh am Morgen? Hatten die diese Nacht nichts besseres zu tun, als mich krampfhaft mit Beweisen zu belasten? Allerdings bereitet es mir Sorgen, dass sie anscheinend etwas gefunden haben.
Geschickt klammere ich mich wieder an die Regenrinne und schwinge mich damit auf das Fensterbrett von meinem Nachbarn. Zum Glück bin ich nicht sonderlich groß, sodass ich darauf einigermaßen gut Halt finde.
Mit dem rechten dünnen Arm greife ich durch den Lüftungsspalt und heble das Fenster aus. Keine Sekunde zu früh schlüpfe ich in die Wohnung vom Toten. Meine Wohnungstür splittert und springt krachend auf. Ich genieße das Geräusch und wünschte, ich hätte es aufgenommen.
»Wo steckt sie?«, flucht einer der Beamten. »Sie darf uns nicht entkommen, Gott weiß, was sie sonst noch anstellen wird!«
»Gruselig genug, dass sie mit dem Blut ihres Opfers gemalt hat.«
»Hör bloß auf, ich will daran nicht denken. Sie hatte ihn seit mehreren Tagen in der anderen Wohnung versteckt gehalten. Wer weiß, ob er überhaupt Kasper Shagal ist?«
Deswegen hatte sich die Farbe so seltsam angefühlt. Deswegen hat sie so realistisch ausgesehen. Ich hätte es sofort bemerken sollen. Wenn mich nur nicht die Klaviermusik so abgelenkt hätte.
Doch dann schüttele ich den Kopf über die Blindheit der Polizei. Hier stimmt doch etwas vorne und hinten nicht. Mich erinnert es daran, als jemand mir Punk Rock als Heavy Metal verkaufen wollte. Für einen Laien vielleicht ähnlich, aber in Wirklichkeit vollkommen anders.
Jemand versucht das Gleiche mit dem Nachbarn zu machen.
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